Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtskunde. Hinweispflicht. konkrete Bezeichnung von Tätigkeiten
Orientierungssatz
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG muß das Prozeßgericht die kraft eigener Gerichtskunde festgestellten Tatsachen in den Rechtsstreit einführen, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen und den Beteiligten Gelegenheit geben, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen.
2. Dies ist um so drängender geboten, als das Gericht mit der von ihm in Anspruch genommenen Gerichtskunde von einer gegenteiligen, den Beteiligten in Abdruck bekanntgemachten Aussage, einer Behörde der Bundesanstalt für Arbeit (hier dem Landesarbeitsamt Südbayern) abweicht.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2, § 1247 Abs 2; SGG §§ 62, 128 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 05.06.1984; Aktenzeichen L 6/Ar 646/83) |
SG München (Entscheidung vom 29.09.1983; Aktenzeichen S 3/Ar 313/80) |
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Der 1933 geborene, ungelernte und von 1947 bis 1977 als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter beschäftigt gewesene Kläger beantragte im Juli 1979 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Versichertenrente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Dies lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 29. Oktober 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 1980 ab, weil der Kläger trotz der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen - darunter eine wahrscheinliche posttraumatische Epilepsie - noch leichtere bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat ärztliche Untersuchungen und Begutachtungen angeordnet und eine Stellungnahme vom Landesarbeitsamt (LAA) Südbayern zu der Frage eingeholt, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitsplätze gebe, bei denen die beim Kläger vorliegenden Arbeitsbehinderungen berücksichtigt werden könnten. In der Stellungnahme des LAA vom 26. Juli 1983, von der die Beteiligten Abdruck erhalten haben, heißt es, ihm seien unter Berücksichtigung insbesondere der gesundheitlichen Einschränkungen keine Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes bekannt, für die er noch vollschichtig in Betracht kommen könnte.
Gestützt hierauf hat das SG die Beklagte am 29. September 1983 verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1983 Rente wegen EU zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) in der angefochtenen Entscheidung vom 5. Juni 1984 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung verneint das LSG Berufsunfähigkeit (BU) des Klägers und führt aus, er könne trotz der monatlich ein- bis zweimal auftretenden epileptischen Anfälle noch zumindest leichte Arbeiten vollschichtig verrichten. Die Stellungnahme des LAA stehe dem nicht entgegen. Geeignete Arbeitsplätze gebe es zumindest in Industriebetrieben. Die Einholung einer weiteren Stellungnahme des LAA sei weder erforderlich noch veranlaßt.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 21. Februar 1985).
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Zur Begründung verweist er auf die in der Nichtzulassungsbeschwerde (Schriftsatz vom 20. August 1984) gemachten Ausführungen und bringt vor, das LSG weiche von der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab. Sein Leistungsvermögen sei qualitativ soweit eingeschränkt, daß der allgemeine Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Das folge auch aus der berufskundlichen Stellungnahme des LAA Südbayern, dem eine große Sachkunde zuerkannt werden müsse. Auf jeden Fall sei der Grundsatz der freien Beweiswürdigung verletzt, wenn lediglich mit einer leerformelhaften Behauptung das Gegenteil festgestellt werde. Vorsorglich werde als Verfahrensfehler weiter gerügt, daß das LSG bezüglich der ins Auge gefaßten Verweisungstätigkeiten keine weiteren Sachermittlungen angestellt habe. Zudem werde die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt, weil das LSG eine eigene Gerichtskunde in das Verfahren eingeführt habe, zu der er sich nicht habe äußern können.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. Juni 1984 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. September 1983 zurückzuweisen, die Beklagte zu verpflichten, ihm die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Das LSG hat BU iS des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - und damit erst recht EU nach § 1247 Abs 2 RVO - mit der Begründung verneint, daß der ungelernte Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsfeld noch ganztätig leichtere Arbeiten verrichten könne. Insbesondere stünde das wahrscheinlich epileptische Leiden mit ein bis zwei epileptischen Anfällen pro Monat einer solchen Annahme nicht entgegen, weil es geeignete Arbeitsplätze zumindestens in Industriebetrieben gebe.
Die hieraus zu entnehmende sachlich-rechtliche Auffassung des LSG, der Versicherte dürfe zur Abwendung von EU/BU nicht auf Arbeitsplätze verwiesen werden, die er nach seinen eingeschränkten gesundheitlichen Kräften nicht auszuüben in der Lage sei, ist zutreffend. Das folgt bereits aus § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO, wonach der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, ua alle Tätigkeiten umfaßt, "die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen". Den Ausführungen im angefochtenen Urteil über das "Vorhandensein geeigneter Tätigkeiten" ist weiter zu entnehmen, daß das LSG BU/EU auch dann nicht verneinen will, wenn der Arbeitsmarkt für bestimmte dem Versicherten noch vollschichtig mögliche Tätigkeiten praktisch verschlossen ist, weil es Arbeitsplätze in ausreichender Zahl nicht gibt. Auch diese Auffassung ist richtig (vgl dazu mit zahlreichen Nachweisen den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1247 Nr 33 mit Zusammenfassung der einschlägigen BSG-Rechtsprechung).
Ausgehend von dieser zutreffenden Auslegung der §§ 1247 Abs 2, 1246 Abs 2 RVO hat das LSG tatsächlich festgestellt, es gebe für den Kläger geeignete Arbeitsplätze in der Industrie; beispielhaft hat das LSG einfache Montierarbeiten, Sortierarbeiten, das Bedienen von unfallgeschützten halbautomatischen Pressen, Gartenarbeiten, Reinigungsarbeiten in Betrieben und Lagerarbeiten angeführt. Mit Erfolg rügt der Kläger, daß das LSG diese tatsächlichen Feststellungen verfahrensfehlerhaft getroffen hat.
Mit seiner Auffassung, es gebe ausreichende Arbeitsplätze für Versicherte, die ein- bis zweimal pro Monat epileptische Anfälle erleiden, widerspricht das LSG der Stellungnahme des LAA Südbayern vom 26. Juli 1983, in der eine gegenteilige Aussage getroffen worden ist. Nun entscheidet das LSG nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG über Tatfragen nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das LSG war also nicht genötigt, der Stellungnahme des LAA zu folgen. Andererseits darf das Berufungsgericht nach Abs 2 aaO sein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Der Kläger rügt zu Recht, daß das LSG gegen diese Pflicht verstoßen hat.
Seine vom LAA abweichende Feststellung, für Versicherte mit epileptischen Anfällen gebe es in der Industrie Arbeitsplätze für vollschichtige Tätigkeiten, hat das LSG im angefochtenen Urteil nicht weiter begründet. Im Zusammenhang gesehen hat das Gericht schlüssig dargetan, es habe eine entsprechende eigene, im Vergleich zum LAA bessere Sachkunde über das Vorhandensein entsprechender Arbeitsplätze. Gerichtskunde darf das LSG zwar für sich in Anspruch nehmen. Die kraft eigener Gerichtskunde festgestellten Tatsachen muß das Prozeßgericht aber in den Rechtsstreit einführen, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen und den Beteiligten Gelegenheit geben, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen (vgl dazu BVerfGE 10, 177, 183; ständige Rechtsprechung des BSG, vgl zB den erkennenden Senat in SozR 1500 § 128 Nr 15 mit zahlreichen Nachweisen und SozR 1500 § 62 Nr 11). Für den vorliegenden Fall war dies um so drängender geboten, als das LSG mit der von ihm in Anspruch genommenen Gerichtskunde von einer gegenteiligen, den Beteiligten in Abdruck bekanntgemachten Aussage des LAA Südbayern, einer Behörde der Bundesanstalt für Arbeit (BA), abgewichen ist. Nach § 3 Abs 2 Satz 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zählt zu den besonderen gesetzlichen Aufgaben der BA ua die Arbeitsmarktforschung. Zur Erfüllung dieses Auftrags verfügt die BA über entsprechende personelle und sachliche Einrichtungen. Es ist daher grundsätzlich davon auszugehen, daß Aussagen der BA und ihrer Behörden zu Fragen des Arbeitsmarktes von Sachkunde gestützt werden. Eine abweichende eigene Sachkunde zu legitimieren ist das Prozeßgericht in einem solchen Fall daher besonders gehalten.
Weder der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem LSG am 5. Juni 1984 noch der Begründung des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, daß das Berufungsgericht seine - vom LAA abweichende - eigene Gerichts- und Sachkunde in das Verfahren eingeführt und dem Kläger Gelegenheit gegeben hätte, sich hierzu zu äußern, und ggf Beweisanträge zu stellen.
Mithin greift die Verfahrensrüge der Verletzung von §§ 128 Abs 2, 62 SGG durch. Auf die Revision des Klägers war das angefochtene Urteil daher aufzuheben und dem LSG durch Zurückverweisung der Streitsache Gelegenheit zu geben, die Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarkts verfahrensfehlerfrei zu klären.
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der Entscheidung in der Sache vorbehalten.
Fundstellen