Leitsatz (amtlich)
Den in WGSVG § 10 Abs 3 genannten Angehörigen des Verfolgten steht ein Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nicht zu, wenn der Verfolgte nach dem 1972-01-31 verstorben ist.
Normenkette
WGSVG § 10 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 Fassung: 1970-12-22, Abs. 3 Fassung: 1970-12-22; AVG § 141 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1419 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 15.02.1977; Aktenzeichen L 12 An 135/76) |
SG Berlin (Entscheidung vom 24.08.1976; Aktenzeichen S 2 An 711/75) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Februar 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, nach dem Tode ihres Ehemannes zur Anrechnung auf die Hinterbliebenenrente Beiträge nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846), geändert durch § 19 des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 28. April 1975 (BGBl I 1018, berichtigt 1778) nachzuentrichten.
Der Versicherte bezog seit September 1965 eine Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) und ab Juni 1967 ein Altersruhegeld von der Beklagten. Am 16. Juni 1972 ist er verstorben. Die Klägerin beantragte daraufhin am 11. August 1972, ihr die Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG zu gestatten. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 10. Oktober 1974). Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 1975; Urteil des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 24. August 1976; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Berlin vom 15. Februar 1977).
Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß nach Eintritt des Todes des Versicherten eine Beitragsnachentrichtung für Zeiten vorher nicht mehr zulässig sei, da der Ehemann der Klägerin nach dem 31. Januar 1972 verstorben sei. Es sei zwar richtig, daß der Versicherte selbst, wenn er weitergelebt hätte, bis zum 31. Dezember 1975 das Recht gehabt hätte, Beiträge nachzuentrichten (§ 10 Abs 1 Satz 4 WGSVG). Eine Rechtsnachfolge in diesem Recht finde jedoch nicht statt. Lediglich, wenn der Versicherte vor dem Tode den Anspruch geltend gemacht hätte, würde etwas anderes gelten. Soweit das WGSVG den Angehörigen ausdrücklich das Recht zur Nachentrichtung einräume (§ 10 Abs 3 WGSVG) geschehe dies in der Form eines eigenen Rechtsanspruchs.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, daß nach der im Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 6. Februar 1975 (- 1 RA 127/74 - BSGE 39, 126) entwickelten "Stufentheorie" allein der Eintritt des ersten Versicherungsfalles entscheidend sei. Daraus sei zu folgern, daß das Recht auf Beitragsnachentrichtung, wenn es einmal bestanden habe, nach dem Tode des Versicherten auf die Hinterbliebenen übergehe und von diesen bis 31. Dezember 1975 ausgeübt werden könne. Außerdem habe der 12. Senat des BSG in seinem Urteil vom 26. Oktober 1976 (- 12/11 RA 150/75 - SozR 5070 § 10 Nr 4) ausgeführt, daß kein Grund ersichtlich sei, warum die Hinterbliebenen eines Versicherten, der bereits selbst zu einer Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 Abs 1 WGSVG berechtigt gewesen sei, jedoch infolge seines Todes innerhalb der Frist für eine Nachentrichtung von Beiträgen an der Ausübung dieses Rechts gehindert gewesen sei, schlechter gestellt werden sollten als gem. § 10 Abs 3 WGSVG die Hinterbliebenen eines Versicherten, der noch nicht einmal selbst das Recht zu einer Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 Abs 1 WGSVG erworben hatte, weil er bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verstorben war. Nach diesen Grundsätzen müsse auch der Klägerin das Recht zur Nachentrichtung zugestanden werden.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Oktober 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 1975 zu verurteilen, die Beitragsnachentrichtung gem. § 10 WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie legt dar, das BSG habe in der Entscheidung vom 6. Februar 1975 (- 1 RA 127/74 - BSGE 39, 126) darauf hingewiesen, daß die aus der Stufenfolge der Versicherungsfälle gezogenen Folgerungen keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz enthielten, sondern für jede Vorschrift gesondert zu prüfen sei, welcher Versicherungsfall als erster Versicherungsfall maßgebend sei. Eine Rechtsnachfolge hinsichtlich des Nachentrichtungsrechts sei nach dem damals maßgeblichen § 65 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) nicht vorgesehen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, daß die Revision schon vor Zustellung des Berufungsurteils eingelegt worden ist. Rechtsmittelfristen haben lediglich den Sinn, im Interesse der Rechtsklarheit einen Endtermin für die Einreichung des Rechtsmittels festzulegen (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz - SGG - § 164 Anm 6; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - 7. Aufl § 139 Anm 3).
Die Revision ist aber unbegründet.
Allerdings kann sie nicht schon deshalb zurückgewiesen werden, weil die Berufung schon vor Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt wurde. Diese ist aus den oa Gründen ebenfalls nicht unzulässig gewesen (Meyer-Ladewig SGG § 151 Anm 9).
Die Klägerin kann jedoch mit ihrem Anliegen, Beiträge zur Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemanns mit Wirkung für die Hinterbliebenenrente nachzuentrichten, aus Gründen des materiellen Rechts keinen Erfolg haben.
Das WGSVG sieht ein Nachentrichtungsrecht für die Hinterbliebenen nur in § 10 Abs 3 vor. Diese Vorschrift betrifft den Fall, daß der Versicherte schon vor Inkrafttreten des Gesetzes verstorben war und deshalb selbst gar nicht die Möglichkeit hatte, von der Beitragsnachentrichtung Gebrauch zu machen. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, so daß die Klägerin aus § 10 Abs 3 WGSVG unmittelbar keine Rechte herleiten kann.
Der erkennende Senat hat allerdings in seinem Urteil vom 26. Oktober 1976 (- 12/11 RA 150/75 - SozR 5070 § 10 Nr 4) § 10 Abs 3 WGSVG analog auf den Fall angewandt, daß der Versicherte vor dem 31. Januar 1972 gestorben ist. Die Entscheidung ist damit begründet worden, daß kein Grund ersichtlich ist, die Hinterbliebenen eines Versicherten, der selbst zur Nachentrichtung berechtigt war, aber infolge seines Todes hierzu nicht mehr gekommen ist, schlechter zu stellen als die Hinterbliebenen eines Versicherten, der noch nicht einmal selbst ein Nachentrichtungsrecht hatte.
Diese Überlegungen lassen sich jedoch nicht auf Fälle wie den vorliegenden übertragen, in denen der Tod des Versicherten erst nach dem 31. Januar 1972 eingetreten ist. Dies folgt aus dem auch in dem zitierten Urteil des Senats dargelegten System des Gesetzes:
Nach § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG kann der Versicherte auch mit Wirkung für solche Versicherungsfälle Beiträge nachentrichten, die vor Inkrafttreten des Gesetzes oder bis zum Ablauf eines Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind. Da das Gesetz am 1. Februar 1971 in Kraft getreten ist (Art 4 § 5 des WGSVG vom 22. Dezember 1970 - BGBl I 1846, ausgegeben am 30. Dezember 1970) konnten also die Versicherten Beiträge für alle Versicherungsfälle nachentrichten, die bis 31. Januar 1972 eingetreten sind. Von diesem Nachentrichtungsrecht konnte bis 31. Dezember 1975 Gebrauch gemacht werden (§ 10 Abs 1 Satz 4 WGSVG).
Hieraus ist ersichtlich, daß § 10 WGSVG zwei für das Nachentrichtungsrecht bedeutsame Fristen kennt. Die erste Frist läuft bis 31. Januar 1972. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte der Versicherte überlegen, ob er nachentrichten will, ohne dabei Gefahr zu laufen, durch Eintritt von Versicherungsfällen in der Möglichkeit der Nachentrichtung beschränkt zu werden. Die zweite Frist läuft bis 31. Dezember 1975. Auch diese Frist ermöglichte es dem Versicherten noch, sich weiterhin zu überlegen, ob er nachentrichten will. Nur ging er, sofern er den 31. Januar 1972 verstreichen ließ, das Risiko ein, daß bei Eintritt eines neuen Versicherungsfalles die Nachentrichtung für die Zeit vorher mit Wirkung für diesen Versicherungsfall ausgeschlossen war.
Eine Ausdehnung des Nachentrichtungsrechts der Hinterbliebenen durch eine analoge Anwendung von § 10 Abs 3 WGSVG muß sich an diesem System orientieren. Das bedeutet, daß den Hinterbliebenen zwar dann ein Nachentrichtungsrecht mit Wirkung für die Hinterbliebenenrente einzuräumen ist, wenn der Versicherungsfall des Todes bis zum 31. Januar 1972 eingetreten ist, weil dem Versicherten bei anderen Versicherungsfällen, die er erleben konnte, auch ein Nachentrichtungsrecht für diese Versicherungsfälle zugestanden hätte.
Bei Eintritt des Versicherungsfalls des Todes nach dem 31. Januar 1972 kann hingegen dem Gesetz ein Nachentrichtungsrecht der Hinterbliebenen zur Anrechnung auf die Hinterbliebenenrente nicht entnommen werden, weil auch der Versicherte selbst bei Eintritt von Versicherungsfällen, die er hätte erleben können, in dieser Zeit kein Nachentrichtungsrecht mit Wirkung für diese Versicherungsfälle mehr gehabt hätte.
Die Klägerin könnte danach nur noch dann ein eigenes Nachentrichtungsrecht haben, wenn man die vom 1. Senat des BSG (Urteil vom 6. Februar 1975 - 1 RA 127/74 - BSGE 39, 126) zu § 8 WGSVG entwickelte "Stufentheorie" auf § 10 WGSVG übertragen könnte und wenn man in die Stufenfolge zusätzlich den Versicherungsfall des Todes einbeziehen könnte. Das ist jedoch nicht möglich. Es kann dabei dahinstehen, ob diese "Stufentheorie" überhaupt auf § 10 WGSVG übertragbar ist. Jedenfalls kann der Versicherungsfall des Todes in diese Stufenfolge nicht einbezogen werden. Der 1. Senat hat die "Stufentheorie" vorwiegend damit begründet, daß durch Erfüllung der "großen Wartezeit" für das Altersruhegeld und der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit in Altersruhegeld kein Nachteil für den Versicherten eintreten dürfe. Er hat daraus gefolgert, daß deshalb der Versicherungsfall des Alters im Sinne von § 8 WGSVG nicht als neuer Versicherungsfall angesehen werden dürfe. Diese Überlegungen treffen für den Versicherungsfall des Todes nicht zu. Dieser setzt nicht die Erfüllung einer weiteren Wartezeit voraus. Er ist auch nicht durch Bestimmungen über die Umwandlung der Rente mit den bisherigen Versicherungsfällen und den daraus gewährten Renten verbunden. Vielmehr sind die Ansprüche der Hinterbliebenen eigene, selbständig begründete Ansprüche, die anderen Personen als dem Versicherten zuwachsen. Aus dieser Eigenständigkeit der Hinterbliebenenrentenansprüche folgt, daß der Versicherungsfall des Todes im Rahmen des § 10 WGSVG durchaus anders behandelt werden kann und daß er deshalb als eigenständiger Versicherungsfall angesehen werden muß. Die "Stufentheorie" kann somit, weil die tragenden Gründe des Urteils des 1. Senats hier nicht wirken, keine Anwendung finden.
Die Klägerin hat auch nicht im Wege der Rechtsnachfolge ein dem Versicherten zustehendes Nachentrichtungsrecht aus § 10 WGSVG erworben. Ein solches Recht konnte für den Versicherten gar nicht entstehen. Da der Versicherte die Frist bis 31. Januar 1972 hat verstreichen lassen, stand ihm ein Nachentrichtungsrecht für spätere Versicherungsfälle nur bis zum Eintritt dieser Versicherungsfälle zu. Es erlosch mit dem jeweiligen Eintritt neuer Versicherungsfälle. Für den Versicherungsfall des Todes kann insoweit nichts anderes gelten. Abgesehen davon gibt es keine Vorschrift, die eine Rechtsnachfolge hinsichtlich des Nachentrichtungsrechts begründet. Die die Rechtsnachfolge regelnde Vorschrift des § 65 AVG bezieht sich nur auf Rentenansprüche.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen