Leitsatz (amtlich)
Wird während eines Rechtsstreits wegen Gewährung einer höheren Rente die Leistung unter Änderung der Berechnungsfaktoren für eine bei der ersten Berechnung bereits berücksichtigten Versicherungszeit zum Nachteil des Klägers neu berechnet, so liegt darin ein unzulässiges Nachschieben von Gründen (Anschluß an und Fortführung von BSG vom 22.9.1981 1 RA 109/76 = SozR 1500 § 77 Nr 56).
Normenkette
SGG §§ 77, 96 Abs 1; SGB 10 § 45
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Höhe einer auf die Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers angerechneten Beitragszeit als Sachbezugszeit gemäß Art 2 § 55 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG).
Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hannover gewährte dem 1925 geborenen Kläger aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs mit Bescheid vom 23. März 1982 ab 1. Mai 1981 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die sie mit Bescheid vom 16. Juli 1982 neu feststellte. In beiden Bescheiden wurde ua von den Seefahrtszeiten des Klägers zwischen April 1939 und Mai 1945 die Zeit vom 6. Januar 1941 bis 21. Mai 1945 als Sachbezugszeit iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG mit den Vergleichswerten der Leistungsgruppe 2 angerechnet. Die beklagte Seekasse, die den Rentenvorgang zuständigkeitshalber übernommen hatte, wies den gegen den Bescheid vom 16. Juli 1982 erhobenen Widerspruch bezüglich weiterer, zusätzlich geltend gemachter Sachbezugs- und Ausfallzeiten teilweise zurück (Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 1983).
Im anschließenden Klageverfahren berechnete die Beklagte nach Abgabe eines weiteren Teilanerkenntnisses die Rente des Klägers mit Bescheid vom 24. September 1984 neu. Hierbei berücksichtigte sie die Seefahrtszeit vom 6. Januar 1941 bis 21. Mai 1945 erstmals nur noch mit den tatsächlich für diese Zeiten entrichteten Beiträgen mit dem Vermerk: "Kein Vergleich, weil Lehrzeit".
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) Stade vom 6. Oktober 1985 geändert und die Beklagte verurteilt, die streitige Seefahrtszeit als Sachbezugszeit der Leistungsgruppe 2 der Arbeiter anzurechnen und die Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers entsprechend neu festzustellen: Die Beklagte sei an die Wertung dieser Zeit in den Bescheiden der LVA Hannover gemäß § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebunden gewesen, denn die Bindungswirkung habe sich auch auf die dem konkreten Rentenanspruch zugrundeliegenden Berechnungsfaktoren erstreckt. Ferner stelle der erst während des Klageverfahrens erlassene Bescheid vom 24. September 1984 ein unzulässiges Nachschieben von Gründen dar.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG, der §§ 44, 45 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB 10) und des § 77 SGG durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. September 1986 zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 6. Dezember 1985 im vollen Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist unter Beachtung der im angefochtenen Urteil zusätzlich enthaltenen und zutreffenden Ausführungen über ein rechtlich unzulässiges "Nachschieben von Gründen" zurückzuweisen.
Die Beklagte verkennt, daß es im vorliegenden Fall nicht um die Frage geht, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange Berechnungselemente eines Rentenbescheides schlechthin an dessen Bindungswirkung iS des § 77 SGG teilnehmen (vgl hierzu die Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- im Urteil des 1. Senats vom 22. September 1981 in SozR 1500 § 77 Nr 56 mit weiteren Nachweisen). Vielmehr ist lediglich darüber zu entscheiden, ob eine Änderung von Berechnungsfaktoren der Rente speziell im Wege des Nachschiebens von Gründen während eines gerichtlichen Verfahrens zulässig ist. Dies hat der 1. Senat des BSG im Urteil vom 22. September 1981 aa0 im Anschluß und in Fortführung der Entscheidung des erkennenden Senats vom 26. September 1974 (BSGE 38, 157 = SozR 2200 § 1631 Nr 1) verneint. An dieser Rechtsprechung ist auch im vorliegenden Fall festzuhalten.
Der Kläger hat zunächst lediglich den Bescheid vom 16. Juli 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 1983 mit dem Ziel einer Berücksichtigung weiterer Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung mit Sachbezügen und einer Ausfallzeit angefochten. Die Klage richtete sich also nicht gegen die Bewertung der im Bescheid vom 16. Juli 1982 bereits anerkannten Sachbezugszeit vom 6. Januar 1941 bis 21. Mai 1945. Erst während des Klageverfahrens hat sodann die Beklagte durch den am 24. September 1984 erlassenen neuen Bescheid diese Zeit anders bewertet und damit die Rentenberechnung zum Nachteil des Klägers geändert.
Der Bescheid vom 24. September 1984 überschreitet damit die Grenzen des zulässigen Nachschiebens von Gründen. Denn durch die erstmalige andere Bewertung der bereits anerkannten Sachbezugszeit werden nicht neue rechtliche oder tatsächliche Gründe für den zunächst angefochtenen Bescheid vom 16. Juli 1982 und insbesondere nicht für die vom Kläger mit der Klage allein geltend gemachte Berücksichtigung weiterer Versicherungs- und Ausfallzeiten nachgeschoben. Vielmehr ist der erkennende Senat mit den Ausführungen des 1. Senats im Urteil vom 22. September 1981 aaO der Auffassung, daß durch die erstmalige, gegenüber dem Bescheid vom 16. Juli 1982 abweichende Bewertung der Sachbezugszeit vom 6. Januar 1941 bis 21. Mai 1945 durch den Bescheid vom 24. September 1984 der ursprüngliche Bescheid vom 16. Juli 1982 in seinem Wesen und damit in unzulässiger Weise verändert wurde.
Die dagegen von der Beklagten vorgebrachten Argumente greifen nicht durch. Die Beklagte meint, ein unzulässiges Nachschieben von Gründen läge hier schon deswegen nicht vor, weil die Rechtsverteidigung gegen den gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens gewordenen Bescheid vom 24. September 1984 nicht beeinträchtigt oder erschwert worden ist. Die gerichtliche Nachprüfbarkeit des Bescheides vom 24. September 1984 ist indes - wie in der Entscheidung des BSG vom 22. September 1981 aaO zu Recht betont wird - insoweit rechtlich irrelevant, als durch diesen Bescheid der ursprünglich mit der Klage angefochtene Bescheid vom 16. Juli 1982 in seinem Wesen verändert wurde.
Auch der weitere Hinweis der Beklagten, bei dem der Entscheidung des BSG vom 22. September 1981 aaO zugrundeliegenden Sachverhalt sei - anders als im Fall des Klägers - eine Versicherungszeit "aberkannt" worden, geht fehl. Für die Unzulässigkeit einer Änderung von Berechnungsfaktoren der Rente speziell im Wege des Nachschiebens von Gründen während eines gerichtlichen Verfahrens kann es nicht rechtserheblich sein, ob diese Änderung den gänzlichen Wegfall einer Versicherungszeit oder - wie hier - deren neue Bewertung zum Nachteil des Klägers beinhaltet. Insoweit besteht lediglich ein gradueller Unterschied, der keine abweichende Beurteilung zuläßt.
Bei dieser Sach- und Rechtslage hat das LSG zu Recht angenommen, daß die Beklagte eine abweichende, zu Lasten des Klägers gehende Bewertung der Seefahrtszeit des Klägers vom 6. Januar 1941 bis 21. Mai 1945 nur im Wege der Rücknahme des insoweit den Kläger begünstigenden Verwaltungsaktes vom 16. Juli 1982 gemäß § 45 SGB 10 erreichen könnte. Eine solche Rücknahme ist - wie das LSG ebenfalls zutreffend entschieden hat - im Bescheid vom 24. September 1984 nicht ausgesprochen worden. Insoweit fehlt es bereits an einer für die Rücknahme erforderlichen Ermessensentscheidung der Beklagten (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 13. Juli 1988 -5/5b RJ 24/87-).
Der Revision der Beklagten mußte somit der Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen