Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.01.1986) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Januar 1986 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Klägerin Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Die 1949 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Von 1963 bis 1968 war sie als Arbeiterin, Hausgehilfin, Hauswirtschaftshilfe und Serviererin insgesamt 43 Monate versicherungspflichtig beschäftigt. Nach längerer Unterbrechung arbeitete sie noch von Mai bis Oktober 1977 in einer Zigarrenfabrik und von März bis Juni 1978 als Küchenhilfe, wofür ihrem Versicherungskonto 10 weitere Monate Pflichtbeiträge gutgebracht wurden. Danach ging sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Für „Zeiten des Arbeitslosengeldbezuges” in den Jahren 1979 und 1980 schrieb ihr die Beklagte insgesamt 17 Monate Pflichtbeiträge gut.
Im Januar 1980 beantragte die Klägerin Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, in der ihr ein seit dem 7. Lebensjahr bestehendes cerebrales Anfallsleiden attestiert wurde, das so zugenommen habe, daß die Erwerbsminderung mit 60 bis 70 % anzusetzen sei. Eine von der Beklagten veranlaßte ärztliche Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß die Klägerin seit Antragstellung nicht mehr in der Lage sei, einer Arbeit nachzugehen. Durch Bescheid vom 18. August 1980 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, die Klägerin sei infolge ihrer Leiden nie in der Lage gewesen, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig zu sein, ihre Erwerbsfähigkeit sei somit auch nicht herabgesunken; sie habe zudem nicht die Wartezeit von 240 Kalendermonaten, sondern insgesamt nur eine Versicherungszeit von 70 Monaten (einschließlich der während der Zeit der Arbeitslosigkeit 1979/ 1980 entrichteten Beiträge) zurückgelegt.
Die unmittelbar gegen diesen Bescheid erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) nach Einholung mehrerer ärztlicher Befundberichte und von drei fachspezifischen Gutachten durch Urteil vom 28. März 1985 mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin habe bereits bei Eintritt in die Rentenversicherung vorgelegen, auch sei die Wartezeit von 240 Kalendermonaten nicht erfüllt. Die von der Klägerin dagegen eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) nach Beiziehung der Arbeitsamtsakten der Klägerin und Einholung einer ergänzenden Beurteilung des erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. E. … durch Urteil vom 28. Januar 1986 zurück. Zwar sei der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit bei der Klägerin eingetreten und auch der vom Sachverständigen Dr. E. … gezogene Schluß nachvollziehbar, die Klägerin sei nie zu einer geregelten Erwerbstätigkeit fähig gewesen. Letztlich könne jedoch dahinstehen, ob die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin bereits bei Eintritt in die gesetzliche Rentenversicherung vorgelegen habe. Denn jedenfalls sei der Versicherungsfall vor Erfüllung der Wartezeit von 60 Kalendermonaten gemäß § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis 31. Dezember 1983 geltenden Fassung eingetreten. Die Klägerin sei schon vor Mai 1977 – dh vor Antritt ihrer Beschäftigung in der Zigarrenfabrik und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem sie erst Beiträge für 44 Kalendermonate entrichtet habe nicht mehr in der Lage gewesen, einen Arbeitsplatz vollwertig auszufüllen. Ähnliches gelte auch für das letzte Beschäftigungsverhältnis der Klägerin im Jahr 1978. Selbst wenn man die während der beiden letzten Beschäftigungen entrichteten Pflichtbeiträge als rechtswirksam entrichtet berücksichtigte, ergäbe sich nur eine Versicherungszeit von insgesamt 54 Monaten. Die später während der Zeiten der Arbeitslosigkeit entrichteten Beiträge müßten in jedem Fall, weil während bestehender Erwerbsunfähigkeit entrichtet, unberücksichtigt bleiben. Die Wartezeit von 240 Monaten gemäß § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO aF sei dementsprechend ebenfalls nicht erfüllt.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 103, 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Januar 1986 sowie das Urteil des SG Detmold vom 28. März 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin vom 1. Januar 1980 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung des Senats statthafte, frist- und formgerecht eingelegte Revision ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Gemäß § 1247 Abs 1 RVO in der bis 31. Dezember 1983 geltenden Fassung erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit eine Versicherte, die erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Für die beiden Voraussetzungen bedarf es weiterer Aufklärung.
Die Tatsache, daß die Klägerin gegenwärtig erwerbsunfähig ist, ist prozeßordnungsmäßig und unangegriffen festgestellt. Erneut aufzunehmen sind die Ermittlungen aber hinsichtlich der Frage, ab wann die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin eingetreten ist. Zu Recht rügt die Klägerin insofern eine Verletzung des § 103 Satz 1 SGG mit Hinweis auf ihre Schriftsätze vom 2. und 5. Dezember 1985. Ihre damaligen Erklärungen stellen Beweisanträge auf Einholung eines fachärztlichen Gutachtens und zumindest eines Befundberichts des behandelnden Arztes dar, die sie nicht zurückgenommen oder inhaltlich fallengelassen hat. Von seiner Rechtsauffassung aus hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, diesen Anträgen nachzugehen.
Auf der Grundlage der 60-monatigen Wartezeit des § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a RVO aF – die 240-monatige Wartezeit des § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO aF ist zutreffend als offensichtlich nicht erfüllt behandelt worden – kommt es für eine Rentengewährung an die Klägerin entscheidend darauf an, ob deren Erwerbsunfähigkeit schon vor September 1979 vorlag oder nicht. Bis dahin hatten sich auf dem Versicherungskonto der Klägerin bereits so viele als „Pflichtbeiträge” gekennzeichnete Positionen angesammelt, daß beurteilt allein nach deren Zahl die Wartezeit als erfüllt betrachtet werden müßte. Der Frage, ob es sich bei allen der registrierten Beitragsmonate auch um für den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente rechtswirksame Beitragsentrichtungen handelt, wird das LSG allerdings bezüglich der Jahre 1977 bis 1979 nochmals genauer und unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG nachzugehen haben.
Wie der erkennende Senat im Einklang mit Entscheidungen des 12. und 4. Senats (BSG SozR 2200 § 1247 Nrn 12 und 30) durch Urteil vom 9. September 1983 (SozR 2200 § 1247 Nr 41) ausgesprochen hat, schließt die medizinische Beurteilung eines Erwerbstätigen als „erwerbsunfähig” nicht aus, daß dieser Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichtetet, entsprechend entlohnt wird und aufgrund der dadurch ausgelösten Versicherungspflicht wirksame Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet. Bei Erfüllung dieser Voraussetzungen liegt die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit und das Erzielen von mehr als nur geringfügigen Einkünften vor, so daß eine Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO ausgeschlossen ist, auch wenn die Ausübung der Tätigkeit und das Erzielen von Einkünften womöglich – medizinisch gesehen – auf Kosten der Gesundheit erfolgt.
Das LSG wird demgemäß zunächst einmal zu ermitteln haben, ob bei der Klägerin im bezeichneten Zeitraum überhaupt in medizinischer Sicht Erwerbsunfähigkeit bestand. Von den bisher dazu befragten fachkundigen Personen ist insoweit keine einhellige und eindeutige Stellungnahme abgegeben worden, welcher Gesundheitszustand zeitlich in welchen Lebensabschnitt der Klägerin einzuordnen ist.
Erst dann, wenn die Erwerbsunfähigkeit im medizinischen Sinn bejaht ist, wird auf solcher Grundlage die weitere doppelte Ermittlung anzustellen sein, ob und inwieweit die Klägerin in den Jahren 1977 und 1978 dennoch eine Arbeitsleistung erbrachte, die die Rechtswirksamkeit der Beitragsentrichtung für den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente zur Folge hatte, und ob die Bundesanstalt für Arbeit (BA) zugunsten der Klägerin an die Beklagte für das Jahr 1979 Versicherungsbeiträge abführte, die den Voraussetzungen der §§ 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 10, 1385 Abs 4 Buchst h RVO in der bis zum 31. Dezember 1982 geltenden Fassung (vgl Art 19 Nrn 25, 41 Haushaltsbegleitgesetz 1983) genügten. Dafür, daß beiden Anforderungen Genüge getan war, sprechen folgende Erwägungen: Die Klägerin übte trotz ihres sog Eingangsleidens auch in den Jahren 1978/79 in gewisser Regelmäßigkeit Tätigkeiten aus, erzielte dadurch mehr als nur geringfügige Einkünfte und entrichtete hierfür entsprechende Pflichtbeiträge. Entgegen der Auffassung des LSG kommt es dann aber für die Frage der Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO nicht darauf an, ob die Klägerin ihren jeweiligen Arbeitsplatz „vollwertig ausgefüllt” hat (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1983 aaO).
Bezüglich der während des Arbeitslosengeldbezugs 1979/80 entrichteten Pflichtbeiträge ist ebenfalls davon auszugehen, daß diese wirksam sind, weil das Arbeitslosengeld der Klägerin nur zustand, wenn sie iS von § 103 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) der Arbeitsvermittlung im Bezugszeitraum zur Verfügung stand (§ 100 Abs 1 AFG). Dies ist in dem vom zuständigen Arbeitsamt beigezogenen Gutachten der fachärztlichen Begutachtungsstelle für Hirnverletzte und psychisch Kranke des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1979 bejaht worden, wie sich aus Bl 78 der vom LSG beigezogenen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten des Arbeitsamtes ergibt. Gleichwohl ist die dortige Beurteilung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. … und dessen Vermittlungsvorschlag für die Klägerin weder vom LSG noch in der vom Berufungsgericht angeordneten Begutachtung des Sachverständigen Dr. E. … gewürdigt worden. Damit hat das LSG gegen seine Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung aus § 103 Satz 1 SGG verstoßen. Das gilt umsomehr, als auch in dem vor der Bescheiderteilung von der Beklagten eingeholten Gutachten des Medizinaldirektors Dr. W. … vom 20. Mai 1980 der völlige Ausschluß eines Leistungsvermögens bei der Klägerin erst ab der Rentenantragstellung bejaht wird, nicht aber bereits während der vorausgegangenen Zeit der Beschäftigung und des Arbeitslosengeldbezugs.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen