Entscheidungsstichwort (Thema)

Freie Station. Sachbezüge

 

Leitsatz (redaktionell)

Um Sachbezüge entsprechend Kost und Wohnung handelt es sich nicht, wenn der Arbeitgeber dem Versicherten Geldbezüge gewährt, durch die der Versicherte sich Kost und Wohnung selbst beschafft und durch die er, weil er eine vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Wohnung nicht in Anspruch nimmt, dafür in Geld entschädigt wird.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "freier Unterhalt" in ArVNG Art 2 § 55.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 55 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. März 1963 wird zurückgewiesen, soweit das Urteil den Anspruch des Klägers bis 30. Juni 1965 betrifft.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren am 28. Januar 1893, erhält von der Beklagten seit 1946 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit; vom 1. Januar 1957 an wurde die Rente nach Art. 2 §§ 30, 31 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) umgestellt und vom 1. Januar 1958 an nach Art. 2 § 37 Abs. 3 AnVNG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres erhöht.

Im Januar 1961 beantragte der Kläger rückwirkend ab 1. Januar 1957 eine weitere Erhöhung seiner Rente nach Art. 2 § 54 AnVNG, weil 23 Jahre lang für ihn Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einer Zuckerfabrik, damit nach seiner Meinung in einem landwirtschaftlichen Unternehmen, geleistet worden seien und ihm während dieser Zeit neben Barbezügen Deputatleistungen und - weil er in seinem eigenen Haus gewohnt habe - eine Wohnungsentschädigung gewährt worden seien. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 8. Februar 1961 ab. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 30. August 1962; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 8. März 1963). Das LSG führte aus, der Kläger habe nicht als Sach- oder Dienstleistung freien Unterhalt (Kost und Wohnung) oder "entsprechend" Sachbezüge erhalten; Wohnung als "Sachleistung" sei dem Kläger vom Arbeitgeber nicht gewährt worden, das Wohnungsgeld sei auch nicht ein "Sachbezug" entsprechend der Gewährung von Wohnung, sondern eine Geldleistung; Wohnung als "Dienstleistung" sei dem Kläger ebenfalls nicht gewährt worden, der Arbeitgeber habe nicht eine Wohnung außerhalb seines Herrschaftsbereichs dem Kläger zur Verfügung gestellt und die Kosten für diese Wohnung getragen; der Kläger habe vom Arbeitgeber auch nicht "Kost" erhalten, die Deputatleistungen - nach den Feststellungen des LSG jährlich 1100 kg Kartoffeln und 100 kg Zucker, täglich 2 Liter Milch sowie Licht, Wasser, Feuerung und Beheizung - hätten nicht zum Unterhalt des Klägers ausgereicht und nicht einmal das Existenzminimum gesichert. Schließlich sei die Zuckerfabrik O, in der der Kläger mit der Rübenabrechnung und Buchhaltung beschäftigt gewesen sei, nicht ein landwirtschaftliches Unternehmen im Sinne von § 915 Abs. 1 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung (RVO), sondern ein gewerblicher Betrieb. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 20. März 1963 zugestellt.

Am 17. April 1963 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,

unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Februar 1961, des Urteils des SG Hildesheim vom 30. August 1962 und des Urteils des LSG Niedersachsen vom 8. März 1963 die Beklagte nach Antrag vom 6. Januar 1961 zu verurteilen, die Berufsunfähigkeitsrente des Klägers ab 1. Januar 1957 um 10 % zu erhöhen.

Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete der Kläger die Revision am 8. Juni 1963: Das LSG habe bei der Feststellung des Sachverhalts gegen die §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen und Art. 2 § 54 Abs. 1 AnVNG in Verbindung mit § 915 Abs. 1 Buchst. a RVO nicht richtig angewandt. Nach den in Schlesien üblichen landwirtschaftlichen Arbeitsabkommen hätten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft Anspruch auf Dienstmanns- oder Werkswohnung gehabt; wenn diese Wohnung nicht habe zur Verfügung gestellt werden können oder, wie im Falle des Klägers, eine Wohnung wegen Wohnens im eigenen Haus nicht benötigt worden sei, habe der Arbeitgeber den entsprechenden Geldwert bezahlt; der Kläger sei damit so gestellt gewesen, wie wenn er in einem betriebseigenen Haus mietfrei gewohnt habe; damit und mit der Lieferung von Holz, Kohle, Strom, Wasser durch den Betrieb habe der Kläger freie Wohnung gehabt. Dem Kläger seien auch statt der Kost "entsprechend Sachbezüge" gewährt worden; die Deputatleistungen habe der Kläger nicht voll für sich selbst verbrauchen können, er habe damit auch den Bedarf seiner Familie gedeckt und dadurch eigene Barausgaben erspart; das Gesetz verlange nicht, daß dem Versicherten in jeder Hinsicht voller freier Unterhalt (Kost und Wohnung) für sich und seine Familie gewährt worden sei. Die Zuckerfabrik O sei ein landwirtschaftlicher Betrieb gewesen, sie sei in der Hauptsache dazu bestimmt gewesen, die Erzeugnisse des umfangreichen Anbaus von Zuckerrüben auf Eigen- und Pachtland des Arbeitgebers des Klägers aufzunehmen, die Verarbeitung von Erzeugnissen aus fremden Betrieben sei nicht entscheidend ins Gewicht gefallen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 Abs. 2 SGG); sie ist jedoch für die Zeit bis 30. Juni 1965 nicht begründet.

Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf Erhöhung der Rente nach Art. 2 § 54 AnVNG (= Art. 2 § 55 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -) in der vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 maßgebenden Fassung beurteilt. Durch Art. 2 § 2 Nr. 11 RVÄndG ist Art. 2 § 54 AnVNG wesentlich geändert worden (das gleiche gilt für Art. 2 § 55 ArVNG; vgl. Art. 2 § 1 Nr. 11 RVÄndG); die Änderung ist am 1. Juli 1965 in Kraft getreten (§ 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG). Abgesehen von den sonstigen Änderungen ist in Art. 2 § 54 AnVNG (Art. 2 § 55 ArVNG) in Abs. 1 der Begriff des "freien Unterhalts" nunmehr definiert durch den Zusatz "(Kost)" statt bisher "(Kost und Wohnung)"; außerdem ist nach Abs. 2 des Art. 2 § 54 AnVNG nF (Art. 2 § 55 ArVNG nF) ab 1. Juli 1965 eine Erhöhung der Rente möglich, wenn "neben Barbezügen in erheblichem Umfang Sachbezüge" gewährt worden sind. Es ist möglich, daß sich damit vom 1. Juli 1965 an die Rente des Klägers erhöht; insoweit wäre gegebenenfalls die Rente von der Beklagten von Amts wegen erneut umzustellen (Art. 5 § 6 RVÄndG). Der Senat hat deshalb über den Anspruch des Klägers auf Erhöhung der Rente nur für die Zeit bis 30. Juni 1965 entschieden.

Eine Erhöhung der Rente nach Art. 2 § 54 AnVNG aF (= Art. 2 § 55 ArVNG aF) hat der Kläger bei Vorliegen sonstiger Voraussetzungen nur dann zu beanspruchen, wenn er in einem landwirtschaftlichen Unternehmen im Sinne von § 915 Abs. 1 Buchst. a RVO aF (seit Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes am 1. Juli 1963 ersetzt durch § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF) versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Eine Zuckerfabrik ist nicht ein landwirtschaftliches Unternehmen im Sinne von § 915 Abs. 1 Buchst. a RVO aF, sie kann allenfalls ein "landwirtschaftlicher Nebenbetrieb" im Sinne von § 918 RVO aF (nunmehr ersetzt durch § 779 Abs. 1 RVO nF) sein. Ob Art. 2 § 54 AnVNG aF (Art. 2 § 55 ArVNG aF) auch für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem "landwirtschaftlichen Nebenbetrieb" gilt und ob die Zuckerfabrik O ein "landwirtschaftlicher Nebenbetrieb" gewesen ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls liegen die sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Erhöhung der Rente bei dem Kläger nicht vor. Das LSG ist zu Recht der Meinung gewesen, dem Kläger seien während seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Zuckerfabrik nicht neben Barbezügen "als Sach- oder Dienstleistungen freier Unterhalt (Kost und Wohnung) oder entsprechend Sachbezüge" gewährt worden.

Der Begriff "freier Unterhalt" ist in Art. 2 § 54 AnVNG aF (Art. 2 § 55 ArVNG aF) durch den Klammerzusatz definiert als die Gewährung von "Kost und Wohnung"; um verheiratete Versicherte in landwirtschaftlichen Unternehmen, die einen eigenen Hausstand geführt haben, von der Vergünstigung dieser Vorschrift nicht auszuschließen, ist bestimmt worden, diese Vorschrift sei auch anzuwenden, wenn "entsprechend" Sachbezüge gewährt werden. Das Gesetz spricht nicht von "entsprechenden" Sachbezügen, die Sachbezüge müssen deshalb weder gleichartig noch vollkommen gleichwertig mit Kost und Wohnung sein, sie müssen aber jedenfalls annähernd gleichwertig sein, weil sonst nicht von "freiem" Unterhalt gesprochen werden kann; "frei" ist der Unterhalt nur, wenn Barbezüge zur Bestreitung von Kost und Wohnung nicht aufgewandt werden müssen. Als "Sachleistung" wird Kost und Wohnung gewährt, wenn der Arbeitgeber den Versicherten selbst verköstigt und ihm Wohnraum aus seinem Verfügungsbereich überläßt; als "Dienstleistung" wird Kost und Wohnung gewährt, wenn der Arbeitgeber Kost und Wohnung für den Versicherten anderweitig beschafft und dem Versicherten dadurch "dient" daß er die so beschaffte Kost und Wohnung dem Versicherten überläßt, aber für die Bestreitung dieser Leistungen aufkommt. Gewährt der Arbeitgeber (statt Kost und Wohnung) "entsprechend" Sachbezüge, so kann er diese Sachbezüge ebenfalls als Sachleistung oder als Dienstleistung gewähren, er kann diese Sachbezüge dem Versicherten in Gestalt von Sachen zur Verfügung stellen, über die er, der Arbeitgeber, selbst verfügt (Sachleistung) oder die er, der Arbeitgeber, sich beschafft und dem Versicherten unentgeltlich überläßt (Dienstleistung). Der Begriff "Sach- oder Dienstleistungen" ist sowohl in dem Begriff "freier Unterhalt" als auch in dem Begriff "Sachbezüge" enthalten (vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zu Art. 2 § 55 ArVNG aF). Um "Sachbezüge" entsprechend Kost und Wohnung handelt es sich aber nicht, wenn der Arbeitgeber dem Versicherten Geldbezüge gewährt, durch die der Versicherte sich Kost und Wohnung selbst beschafft oder durch die der, weil er eine vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Wohnung nicht in Anspruch nimmt, für diese Nichtinanspruchnahme in Geld entschädigt wird. Durch solche Geldbezüge erhöhen sich vielmehr die "Barbezüge", die der Versicherte außerdem erhält. Durch Art. 2 § 54 AnVNG aF (Art. 2 § 55 ArVNG aF) sollen nicht Versicherte begünstigt werden, die anstelle von Kost und Wohnung "entsprechend" höhere Geld bezüge erhalten haben, sondern nur Versicherte, die tatsächlich neben Barbezügen "Kost und Wohnung" oder "entsprechend" Sach bezüge erhalten haben; durch diese Vorschriften sollen - nur - die Nachteile ausgeglichen werden, die sich aus der vor dem 1. Juli 1957 liegenden Unterbewertung des tatsächlich gewährten freien Unterhalts oder der "entsprechend" gewährten Sachbezüge ergeben haben. Art. 2 § 54 AnVNG aF (Art. 2 § 55 ArVNG aF) ist nicht anwendbar, wenn die Barbezüge eines Versicherten auch eine Entschädigung für nicht gewährten freien Unterhalt und für nicht "entsprechend" gewährte Sachbezüge enthalten haben oder dieser Anteil der Barbezüge dem Wert des freien Unterhalts oder der "entsprechend" gewährten Sachbezüge nicht voll entsprochen hat. So ist es aber im Fall des Klägers. Freier Unterhalt (Kost und Wohnung) ist dem Kläger von seinem Arbeitgeber als Sach- oder Dienstleistung nicht gewährt worden, weil der Kläger in seinem eigenen Haus gewohnt und sich selbst verpflegt hat. Durch die "Wohnungsentschädigung", die der Kläger erhalten hat, haben sich zwar seine sonstigen Barbezüge erhöht, diese Wohnungsentschädigung ist aber nicht ein "Sachbezug" gewesen, sondern eine Geldleistung. Die Sachbezüge, die dem Kläger neben seinen Barbezügen, zu denen auch die Wohnungsentschädigung gehört hat, gewährt worden sind, sind nicht Sachbezüge "entsprechend freiem Unterhalt" gewesen, weil der freie Unterhalt Kost und Wohnung umfaßt, Wohnung dem Kläger vom Arbeitgeber aber überhaupt nicht gewährt worden ist. Sie wären im übrigen auch nicht einmal Sachbezüge "entsprechend" der Kost gewesen, weil sie der Menge und - bei etwaiger teilweiser Weiterveräußerung - dem Wert nach nicht ausgereicht hätten, die "Kost" des Klägers zu bestreiten.

Das Urteil des LSG ist sonach zutreffend. Die Revision des Klägers ist unbegründet und zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325553

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