Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.04.1984) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. April 1984 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg).
Vor seiner Arbeitslosmeldung am 1. Februar 1982 war der Kläger zuletzt vom 30. Juli 1980 bis 3. Februar 1982 als Kraftfahrer bei der Firma B. -M. KG in B. B. (Fa. B.) beschäftigt. Die Arbeitgeberin war weder tarifvertragsgebunden noch hatte sie tarifliche Regelungen auf das Arbeitsverhältnis des Klägers angewandt. In ihrem Betrieb gab es keinen Betriebsrat. Nach ihrer Arbeitsbescheinigung betrug die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden. Im letzten Lohnabrechnungszeitraum, dem Monat Dezember 1981, leistete der Kläger jedoch 305,75 Arbeitsstunden und erzielte ein Bruttoarbeitsentgelt von 2.934,46 DM.
Das Arbeitsamt bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 2. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1982 Alg ab 4. Februar 1982 unter Zugrundelegung eines im Monat Dezember 1981 erzielten durchschnittlichen Stundenlohnes von 9,59 DM und einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit der der Kläger höheres Alg begehrte, weil seiner Auffassung nach eine tarifliche wöchentliche regelmäßige Arbeitszeit von 54 Stunden bei der Bemessung des Alg zugrunde zu legen sei, abgewiesen. Es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 30. Mai 1983).
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 13. April 1984 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg unter Zugrundelegung einer durchschnittlichen tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 54 Stunden zu gewähren. Es hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, da im vorliegenden Falle eine unmittelbar nach Tarifvertragsrecht ausgerichtete Arbeitszeit nicht vorgelegen habe, müsse gemäß § 112 Abs. 4 Nr. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bei der Bemessung des Alg die tarifliche Arbeitszeit für gleiche oder ähnliche Beschäftigungen zugrunde gelegt Werden. Als tarifliche Arbeitszeltregelungen für derartige Beschäftigungen kämen hier zwei Tarifverträge in Betracht, nämlich der Manteltarifvertrag vom 27. Juli 1977 zwischen den Vereinigten Arbeitgeberverbänden Nahrung und Genuß Hessen, Rheinland-Pfalz e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten, Landesbezirk Hessen/Rheinland-Pfalz/Saar (MTV NGG) und der Manteltarifvertrag vom 6. August 1980 zwischen der Vereinigung der Arbeitgeberverbände Verkehrsgewerbe Rheinland-Pfalz e.V. und der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Bezirksverwaltung Rheinland-Pfalz (MTV Verkehr). Den Bestimmungen des MTV NGG, dessen räumlicher Geltungsbereich das Land Rheinland-Pfalz umfaßt, sei im vorliegenden Falle der Vorrang zu geben. Nach § 3 Nr. 3 MTV NGG könne ua für das Fahrpersonal die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit, die 40 Stunden betrage, bei außergewöhnlichen betrieblichen Notwendigkeiten mit Zustimmung des Betriebsrates auf 54 Stunden in der Woche ausgedehnt werden. Dies sei dann die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit und keine Mehrarbeit. Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers habe eine außergewöhnliche betriebliche Notwendigkeit zur Ausdehnung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 54 Stunden vorgelegen. Diese wöchentliche Arbeitszeit sei nach § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG zu berücksichtigen. Das Fehlen eines Betriebsrates stehe dem nicht entgegen.
Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten. Ihrer Auffassung nach richtet sich zwar die Berechnung der durchschnittlichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nach dem hilfsweise heranzuziehenden § 3 des MTV NGG, da für das Arbeitsverhältnis des Klägers verbindliche tarifvertragliche Regelungen weder bestanden hätten noch angewandt worden seien. Nach § 3 Nr. 1 dieser Regelung betrage die durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden. Das stimme auch mit den Angaben der Arbeitgeberin in der Arbeitsbescheinigung überein. Nach § 3 Nr. 3 MTV NGG sei eine Ausdehnung der tariflichen Arbeitszeit für das Fahrpersonal auf 54 Stunden pro Woche möglich. Die Tatsache jedoch, daß der Kläger nur im Bemessungszeitraum und den zwei vorangegangenen Monaten nicht die tariflich möglichen 54 Stunden, sondern sogar 76 Stunden gearbeitet habe, spreche dafür, daß es sich dabei nicht um eine durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit, sondern um nicht berücksichtigungsfähige Sonderleistungen in Form von Mehrarbeit gehandelt habe. Die Verlängerung der Arbeitszeit auf 54 Stunden gemäß § 3 Nr. 3 MTV NGG sei weiterhin an die Voraussetzung einer außerordentlichen betrieblichen Notwendigkeit und die Zustimmung des Betriebsrates gebunden. Da in dem Betrieb, in dem der Kläger beschäftigt war, kein Betriebsrat bestanden habe, könne die Ausnahmeregelung nicht angewandt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. April 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 30. Mai 1983 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Auf Grund seiner tatsächlichen Feststellungen ist das LSG zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger Anspruch auf ein höheres Alg hat, bei dessen Bemessung von einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 54 Stunden auszugehen ist.
Die allein streitige Höhe des Alg hängt gemäß § 111 Abs. 1 AFG von der Anwendung des § 112 AFG ab. Nach § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG ist das für die Bemessung des Alg maßgebliche Arbeitsentgelt das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt. Das Bemessungsentgelt ist demnach um so höher, je mehr Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum erzielt worden ist, je weniger an Arbeitszeit hierfür erforderlich war und je länger die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit war.
Bemessungszeitraum sind gemäß § 112 Abs. 3 AFG die letzten, am Tage des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten, insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der letzten, die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung vor der Entstehung des Anspruchs. Der letzte, am Tage des Ausscheidens des Klägers aus seinem Beschäftigungsverhältnis bei der Fa. B. abgerechnete Lohnabrechnungszeitraum, der insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfaßte, war nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG der Monat Dezember 1981. In diesem Zeitraum hatte der Kläger ein Bruttoarbeitsentgelt von 2.934,46 DM erzielt und 305,75 Arbeitsstunden geleistet. Von diesen Anspruchsvoraussetzungen sind sowohl die Beklagte als auch das LSG bei der Frage ausgegangen, ob dem Kläger höheres Alg zusteht. Unterschiedliche Auffassungen bestehen lediglich darin, von welcher tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im Bemessungszeitraum auszugehen ist. Zutreffend ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß dies 54 Stunden sind.
Eine tarifliche Arbeitszeit, die sich aus der unmittelbaren Anwendung eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis des Klägers ergibt, kann hier nicht vorliegen. Der Arbeitgeber des Klägers war nicht tarifgebunden. Auf das Arbeitsverhältnis wurden auch nicht tarifvertragliche Bestimmungen angewandt. Daher ist gemäß § 112 Abs. 4 Nr. 2 erste Alternative AFG als tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit die tarifliche Arbeitszeit für gleiche oder ähnliche Beschäftigungen zugrunde zu legen. Diese Vorschrift stellt also nicht auf die Art. des Betriebes ab, in dem der Arbeitslose bisher tätig war, sondern auf die Art. der Beschäftigung, die er dort ausgeübt hat. Das spricht dafür, worauf der Senat bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 1980 – 7 RAr 91/79 – (BSGE 51, 64, 67 = SozR 4100 § 112 Nr. 15) hingewiesen hat, daß in Fällen, in denen sich der nach Tarifvertragsrecht maßgebliche Betriebszweck des bisherigen Betriebes von der dort tatsächlich ausgeübten Beschäftigung des Arbeitslosen fachlich wesentlich unterscheidet, für die Feststellung der maßgeblichen tariflichen Arbeitszeit auf Tarifregelungen zurückzugreifen ist, die dem Charakter der bisher ausgeübten Tätigkeit am nächsten kommt. Das ist hier, wie das LSG richtig erkannt hat, der MTV NGG.
Die Tätigkeit eines Kraftfahrers, der verpackte Getränke transportiert, unterfällt zwar fachlich den Bereichen des Güternah- und Fernverkehrs, für den der MTV Verkehr gilt. Indessen regelt der MTV NGG, der nach seinem § 1 fachlich für Betriebe der Getränkeindustrie und Getränkehandlungen gilt, ausdrücklich die Arbeitszeit für das Fahrpersonal und berücksichtigt somit den Charakter der bisher ausgeübten Tätigkeit am nächsten. Seine Bestimmungen sind daher im vorliegenden Falle die Grundlage für die maßgebliche tarifliche Arbeitszeit. Tariflich regelmäßig iS von § 112 Abs. 2 AFG ist allerdings eine Arbeitszeit nicht schon dann, wenn sie nach dem Tarifvertrag überhaupt möglich ist. Vielmehr muß, wie der Senat bereits entschieden hat (BSG SozR 4100 § 112 Nrn 14 und 22), die maßgebliche Arbeitszeit eine nach dem Tarifvertrag regelmäßige sein, dh eine Arbeitszeit, die der Tarifvertrag als regelmäßig vorsieht. Von diesen rechtlichen Voraussetzungen ist das LSG bei der Anwendung der Bestimmungen des MTV NGG ausgegangen. Es unterscheidet insoweit zwischen tariflicher regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit und tarifrechtlich geregelter Mehrarbeit.
Das LSG hat weiter entschieden, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nach § 3 Nr. 1 MTV NGG betrage 40 Stunden. Nach § 3 Nr. 3 MTV NGG könne jedoch bei außergewöhnlichen betrieblichen Notwendigkeiten diese wöchentliche Arbeitszeit mit Zustimmung des Betriebsrates auf 54 Stunden in der Woche ausgedehnt werden. Hierbei handele es sich nicht um Mehrarbeit, die in § 4 MTV NGG ausdrücklich geregelt sei. Diese Entscheidung des LSG zu § 3 Nrn 1 und 3 MTV NGG ist für den Senat bindend. Diese Bestimmung enthält kein nach § 162 SGG revisibles Recht. Der Tarifvertrag enthält kein Bundesrecht. Sein Geltungsbereich erstreckt sich auch nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus, was gemäß § 162 SGG für die Revisibilität von nicht dem Bundesrecht angehörenden sonstigen, im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschriften genügt. Nach seinem § 1 Buchst a gilt der MTV NGG nur für das Land Rheinland-Pfalz.
Zwar wären die vorgenannten Bestimmungen des MTV NGG dennoch revisibel, wenn nicht nur zufällig, sondern bewußt und gewollt außerhalb von Rheinland-Pfalz inhaltlich gleiche Vorschriften bestünden. Dazu ist von der Beklagten jedoch nichts vorgetragen worden, so daß der Senat dies nicht zu prüfen hat (BSGE 56, 45, 50 = SozR 2100 § 70 Nr. 1; BSG SozR 4100 § 117 Nr. 14).
Das Vorbringen der Beklagten zur Anwendung der Vorschriften des MTV NGG ist aus den vorstehenden Gründen und auch deshalb unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, daß in der Firma B. ein Betriebsrat nicht bestand. Der § 112 Abs. 4 Nr. 2 AFG verweist auf tarifliche Arbeitszeiten für gleiche oder ähnliche Beschäftigungen. Hierfür ist zunächst, wie bereits ausgeführt wurde, auf die Art. der tatsächlich ausgeübten Beschäftigung abzustellen. Danach ist zu prüfen, ob die bei Ausübung dieser Tätigkeit im Bemessungszeitraum zurückgelegte Arbeitszeit in einem anderen tarifunterworfenen Betrieb nach dem dort geltenden Tarifrecht als tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit iS des § 112 Abs. 2 AFG anzusehen ist. Dabei ist grundsätzlich die Einhaltung der tarifvertraglichen Bestimmungen für die Tariflichkeit dieser vergleichsweise heranzuziehenden Beschäftigung zu unterstellen.
Da das LSG weiterhin unangegriffen auf Grund der Angaben des Klägers festgestellt hat, daß eine außergewöhnliche betriebliche Notwendigkeit zur Ausdehnung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 54 Stunden vorgelegen hat, ist davon auszugehen, daß diese Arbeitszeit die tarifliche regelmäßige wöchentliche im Sinne von § 112 Abs. 2 Satz 1 iVm Abs. 4 Nr. 2 AFG ist. Deshalb hat das LSG zu Recht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ein entsprechend höheres Alg zu zahlen.
Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen