Leitsatz (amtlich)
Eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit ist gemäß RVO § 1276 Abs 1 für einen bei Erlaß des Bescheides nur in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zu gewähren, wenn zu jeder Zeit der Berufsunfähigkeit begründete Aussicht bestanden hat, daß die Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird (Anschluß an BSG 1967-06-29 4 RJ 35/66 = SozR Nr 6 zu § 1276 RVO).
Normenkette
RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Mai 1964 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Versicherungsträger gemäß § 1276 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Rente auf Zeit für einen bei Erlaß des Bescheides in der Vergangenheit liegenden Zeitraum feststellen darf. Die Beklagte wendet sich dagegen, daß das Landessozialgericht (LSG) sie verurteilt hat, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit auch für die Zeit vom 1. September 1957 bis zum 12. März 1958 zu zahlen.
Die im Jahre 1917 geborene Klägerin litt seit früher Kindheit an einer angeborenen zentralen Linsentrübung beider Augen und war dadurch beiderseits sehbehindert. Sie beantragte im November 1956 Rente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab. Im Klageverfahren erkannte sie durch Bescheid vom 9. Mai 1960 wegen einer - infolge Verschlimmerung des Augenleidens - am 11. September 1957 eingetretenen Berufsunfähigkeit den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit an, gewährte aber gemäß § 1276 Abs. 1 RVO die Rente erst vom Beginn der 27. Woche, dem 13. März 1958, an und nur bis zum 30. September 1959 als Rente auf Zeit. Durch einen weiteren Bescheid vom 12. August 1960 gewährte sie zu der Rente Kinderzuschüsse.
Die Klägerin begehrte die Rente bereits vom 1. September 1957 an und über den 30. September 1959 hinaus, weil sie auch weiterhin berufsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. März 1961).
Das LSG hat das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten vom 9. Mai 1960 und 12. August 1960 geändert und diese verurteilt, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit auch für die Zeit vom 1. September 1957 bis zum 12. März 1958 zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen, soweit das Urteil des SG den Rentenanspruch der Klägerin für die Zeit vom 1. September 1957 bis zum 12. März 1958 betrifft. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Klägerin sei vom September 1957 an wegen einer Verschlimmerung ihres Augenleidens berufsunfähig gewesen, die Berufsunfähigkeit habe aber nur bis zum 30. September 1959 bestanden. Sie sei nicht berufsunfähig und sei es auch nach dem 30. September 1959 nicht mehr gewesen. Der Klägerin stehe daher über den 30. September 1959 hinaus keine Rente zu. Zu Unrecht habe indessen die Beklagte den Beginn der Rente nach § 1276 Abs. 1 RVO auf die 27. Woche nach Eintritt der Berufsunfähigkeit festgesetzt. Diese Vorschrift sei nicht anzuwenden, weil sie ihrem Wortlaut und Zweck nach voraussetze, daß eine Prognose auf die zukünftige Entwicklung zu stellen sei. Als die Beklagte ihren Rentenbescheid vom 9. Mai 1960 erlassen habe, habe sie keine Prognose über die voraussichtliche künftige Entwicklung des Zustandes zu stellen gehabt, der bei der Klägerin im September 1957 zur Berufsunfähigkeit geführt habe. Nur rückschauend auf die Verhältnisse, wie sie sich in der Vergangenheit entwickelt gehabt hätten, sei festzustellen gewesen, daß die Berufsunfähigkeit im September 1957 eingetreten und durch die erfolgreich verlaufene Operation im September 1959 wieder behoben gewesen sei. Da § 1276 Abs. 1 RVO nicht anwendbar sei, stehe die bereits im November 1956 beantragte Rente der Klägerin nach § 1290 RVO vom Beginn des Monats an zu, in dem sie berufsunfähig geworden sei, also vom 1. September 1957 an.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 1276 RVO rügt.
Sie meint, der Wortlaut des § 1276 RVO weise zwar auf die Zukunft und einen Wegfall der Rente in der Zukunft hin. Es sei jedoch nicht richtig, daraus im Umkehrschluß zu folgern, daß eine Zeitrente nach § 1276 RVO für die Vergangenheit unzulässig sei. Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin vom 10. März 1961 zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, das Urteil des Berufungsgerichts sei nicht zu beanstanden.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Auffassung des Berufungsgerichts kann nicht zugestimmt werden, daß die Vorschrift des § 1276 Abs. 1 RVO in dem gegenwärtigen Fall nicht anzuwenden ist, weil sie ihrem Wortlaut und Zweck nach voraussetze, daß eine Prognose für die Zukunft zu stellen und dies in dem angefochtenen Bescheid vom 9. Mai 1960 nicht geschehen sei. Der 4. Senat hat in seinem Urteil vom 29. Juni 1967 - Az.: 4 RJ 35/66 - bereits entschieden, daß eine Rente auf Zeit - mit der Folge, daß der Rentenbeginn um 26 Wochen hinausgeschoben ist - auch in Betracht kommen kann, wenn die Rente für einen ausschließlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zu bewilligen ist, und daß sie jedenfalls dann nur auf Zeit zu gewähren ist, wenn zu jeder Zeit der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit begründete Aussicht auf Behebung in absehbarer Zeit bestanden hat. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Sowohl der Wortlaut als auch der Zweck des § 1276 Abs. 1 RVO stehen der vom LSG vertretenen Rechtsauffassung entgegen.
Der 4. Senat hat in seinem Urteil bereits dargelegt, daß zwar der Wortlaut des § 1276 Abs. 1 RVO in die Zukunft weist, es aber genügt, daß die Aussicht auf Besserung der Leistungsfähigkeit von dem Zeitraum der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit her gesehen, in der Zukunft liegt; im Zeitpunkt der Rentenbewilligung brauche sie nicht mehr eine künftige zu sein. - Es kommt also für die Beurteilung der Verhältnisse, die in der Zukunft liegen müssen, nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Rentenfeststellungsbescheides an, sondern auf den Zeitraum, für den die Versicherungsleistungen wegen Berufsunfähigkeit beansprucht werden und zu gewähren sind. Es kann demnach nur entscheidend sein, ob in der Zeit der bestehenden Berufsunfähigkeit vom 1. September 1957 bis zum 30. September 1959 die gesetzlichen Voraussetzungen des § 1276 Abs. 1 RVO erfüllt waren, nämlich begründete Aussicht bestanden hat, daß die Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird, oder ob in dieser Zeit die Berufsunfähigkeit nach der damals möglichen Beurteilung keine vorübergehende, sondern eine dauernde gewesen ist; denn die Voraussetzungen für die Gewährung der jeweiligen Rente müssen von ihrem Beginn an erfüllt sein. War in der Zeit vom 1. September 1957 bis 30. September 1959 die Aussicht begründet, daß die Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird, so fehlt es an der Rechtsgrundlage dafür, der Klägerin für diese Zeit eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, die nur dann in Betracht kommt, wenn die Berufsunfähigkeit von Dauer und in absehbarer Zeit nicht behebbar ist.
Zudem wäre es auch mit dem Zweck des § 1276 Abs. 1 RVO nicht zu vereinbaren, in den Fällen einer rückwirkenden Rentenfeststellung stets die Rente auf Zeit auszuschließen, weil es dann - rein zufällig - allein darauf ankäme, ob die Feststellung der Rente zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt vorgenommen wird. Mit Recht hat der 4. Senat in seinem Urteil ausgeführt: wenn schon bei noch bestehender, aber voraussichtlich in absehbarer Zeit behebbarer Berufsunfähigkeit für die ersten 26 Wochen keine Rente gewährt wird, so muß dies erst recht gelten, wenn der Bewilligungsbescheid zu einer Zeit ergeht, in der der Versicherte schon wieder erwerbsfähig ist.
Ob in der Zeit vom 1. September 1957 bis 30. September 1959 begründete Aussicht bestanden hat, daß die Berufsunfähigkeit der Klägerin in absehbarer Zeit behoben sein wird, ist von dem LSG nicht festgestellt worden und läßt sich auch den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Das LSG hat lediglich festgestellt, die Klägerin sei vom September 1957 an unstreitig an einer Verschlimmerung ihres Augenleidens erkrankt gewesen, wodurch Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 RVO begründet worden sei. Im Mai 1959 sei die Klägerin am linken Auge operiert worden, die Operation sei erfolgreich verlaufen und die Sehschärfe dieses Auges habe erheblich verbessert werden können. Nach dem 30. September 1959 sei die Klägerin wieder imstande gewesen, mittelschwere und leichte Frauenarbeiten sogar als Küchenhilfe oder Reinemachefrau zu leisten. Die Berufsunfähigkeit habe deshalb nur bis zum 30. September 1959 bestanden.
In dem angefochtenen Urteil fehlen indessen Feststellungen darüber, ob in dieser Zeit der Berufsunfähigkeit begründete Aussicht bestanden hat, daß die Berufsunfähigkeit der Klägerin wegen Verschlimmerung ihres Augenleidens in absehbarer Zeit behoben sein wird. Zwar hat das Berufungsgericht in dem Tatbestand seines Urteils erwähnt, der Oberarzt der Augenabteilung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses sei in den Gutachten vom 12. November 1958 und 16. Januar 1959 zu dem Ergebnis gekommen, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch die Augenerkrankung der Klägerin könne durch eine Operation wenigstens an einem Auge gebessert werden. Jedoch ist es nicht entscheidend, ob die MdE hätte gebessert werden können, sondern ob schon vom 11. September 1957 an begründete Aussicht bestanden hat, daß durch eine Operation wenigstens an einem Auge die durch die Verschlimmerung der Augenkrankheit begründete Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird. Dies wird u. a. vor allem auch davon abhängen, ob schon damals vorausschauend das später eingetretene günstige Ergebnis der Operation des linken Auges zu erwarten war.
Da die bisherigen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht für die Entscheidung ausreichen, ob die Voraussetzungen des § 1276 Abs. 1 RVO erfüllt sind, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Das LSG wird vielmehr die noch erforderlichen Feststellungen zu treffen haben. Aus diesen Gründen ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen