Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Ermittlungspflicht des SG
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Vielzahl der Arten von Tätigkeiten in der modernen Wirtschaft würde es eine Überspannung der Anforderungen bedeuten, wenn das Gericht alle nur denkbaren Arten von Tätigkeiten daraufhin untersuchen müßte, ob sie von einem bestimmten Versicherten noch verrichtet werden können.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 9. Mai 1955 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Schleswig zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1920 geborene Kläger war von Beruf landwirtschaftlicher Gehilfe. Infolge einer im Jahre 1942 erlittenen Verwundung mußte ihm das rechte Bein amputiert werden. Die Stumpflänge des Oberschenkels beträgt 20 cm. Auf Grund dieser Beschädigung bezieht er eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. Auf seinen Antrag gewährte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 24. März 1943 die Invalidenrente. Seit 1947 ist er als selbständiger Landwirt tätig. Er ist Eigentümer einer kleinen Parzelle mit einem Einheitswert von DM 120,-, hat 1 1/2 ha Land hinzugepachtet und wohnt mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern auf dem 1,5 ha großen landwirtschaftlichen Besitz seiner Eltern, den er mitbewirtschaftet.
Am 9. Juni 1953 ließ die Beklagte den Kläger begutachten. Die Gutachter stellten neben dem Verlust des rechten Beines durch Amputation im Oberschenkel noch Spreizfuß links fest und hielten den Kläger für fähig, leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung sowie mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt zu verrichten. Sie nahmen an, daß Invalidität nicht vorliege. Daraufhin entzog die Beklagte dem Kläger die Invalidenrente durch Bescheid vom 7. Oktober 1953 mit der Begründung, in seinem Zustand sei eine Besserung eingetreten; die Stumpfverhältnisse seien gut, es müsse eine ausreichende Gewöhnung an die Prothese angenommen werden; Invalidität liege nicht mehr vor.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Berufung ein, die mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes als Klage auf das Sozialgericht Schleswig überging. Der vom Sozialgericht gehörte medizinische Sachverständige kam zu dem Ergebnis, daß neben dem Verlust des rechten Beines noch ein eindeutiger Senkspreizfuß links mit beginnender Krampfaderbildung bestehe und Invalidität vorliege. Das Sozialgericht hob den Bescheid der Beklagten durch Urteil vom 18. Juni 1954 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Invalidenrente über den Entziehungstag hinaus weiterzugewähren.
Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung beim Landessozialgericht ein. Dieses hörte noch einen weiteren medizinischen Sachverständigen, der zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger nicht invalide sei. Das Landessozialgericht wies die Berufung durch Urteil vom 9. Mai 1955 zurück. Es stützte sich in erster Linie auf einen von ihm angenommenen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß bei Amputation eines Beines im Oberschenkel grundsätzlich die Voraussetzungen der Invalidität vorlägen, wenn nicht durch längere, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung des Geschädigten nachgewiesen sei, daß er auf dem allgemeinen Arbeitsfeld wettbewerbsfähig sei. Dies sei jedoch bei dem Kläger nicht der Fall; in der von ihm z. Zt. verrichteten landwirtschaftlichen Tätigkeit könne auf keinen Fall eine solche Bewährung erblickt werden. Darüber hinaus würde, selbst wenn man insoweit einen anderen Standpunkt vertrete, das Vorliegen von Invalidität auch deshalb bejaht werden müssen, weil der Kläger zusätzlich noch an einer Senk-Spreizfuß-Deformität sowie Krampfaderbildung leide. Alle Leiden zusammen hätten eine derartige Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit zur Folge, daß der Kläger auf jeden Fall als invalide im Sinne des § 1254 Reichsversicherungsordnung (RVO) bezeichnet werden müsse. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen. Das Urteil wurde der Beklagten am 19. August 1955 zugestellt.
Die Beklagte hat am 13. September 1955 Revision eingelegt und sie am 30. September 1955 begründet. Sie rügt die Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch das Landessozialgericht. Dieses habe keine Ermittlungen darüber angestellt, welche Arbeiten dem Kläger noch zugemutet werden könnten, habe auch unterlassen zu prüfen, ob er mit einer dieser Tätigkeiten noch mehr als die Hälfte des Durchschnittslohnes verdienen könne. Außerdem sei § 1254 RVO verletzt; das Landessozialgericht habe nicht von einem Erfahrungssatz des Inhalts ausgehen dürfen, daß bei Beinamputation im Oberschenkel in der Regel die Voraussetzungen der Invalidität vorlägen, sondern habe im Einzelfall die erforderlichen Feststellungen treffen müssen.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 9. Mai 1955 und das Urteil des Sozialgerichts vom 18. Juni 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts vom 9. Mai 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen und der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.
Er ist der Ansicht, daß die Beklagte sich nicht darauf berufen könne, das Landessozialgericht habe nicht festgestellt, welche Tätigkeiten der Kläger noch verrichten könne, da sie auch selbst diese Untersuchung unterlassen habe. Im übrigen habe das Landessozialgericht auch individuell die Verhältnisse des Klägers geprüft und habe sich nicht nur schematisch auf einen angenommenen allgemeinen Erfahrungsgrundsatz gestützt.
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.
Das Landessozialgericht hat, wenn auch nur global, so doch in ausreichendem Umfang die Feststellung derjenigen Tatsachen, die nach § 1254 RVO Voraussetzungen der Invalidität sind, getroffen. Es ist jedoch bei dieser Feststellung, wie die Beklagte zu Recht rügt, der ihm nach § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht in ausreichendem Umfange nachgekommen. Wie der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, besteht ein vom Landessozialgericht angenommener Erfahrungsgrundsatz des Inhalts, daß der Verlust eines Beines durch Amputation im Oberschenkel auch bei ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung sowie Fehlen sonstiger Leiden in der Regel Invalidität zur Folge hat, nicht (vgl. dazu Urt. v. 15.12.1955 - 4 RJ 36/54 - BSG. 2 S. 127). Daher durfte das Landessozialgericht seine weiteren Tatsachenfeststellungen nicht allein darauf stützen, daß der Kläger Beinamputierter ist und an einem Spreizfuß links leidet, sondern hätte weitere Ermittlungen darüber anstellen müssen, ob die einzelnen Voraussetzungen der Invalidität (§ 1254 RVO) vorliegen. Das Verfahren des Landessozialgerichts leidet daher an einem wesentlichen Mangel. Da das Urteil bei ausreichenden Ermittlungen anders hätte ausfallen können, ist die Revision begründet. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben und, weil es an ausreichenden wirksamen Tatsachenfeststellungen mangelt, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Das Landessozialgericht wird bei den anzustellenden Ermittlungen grundsätzlich nur diejenigen Tätigkeiten in den Kreis seiner Untersuchungen einzubeziehen brauchen, die typischerweise für einen landwirtschaftlichen Arbeiter in Frage kommen. Das sind die körperlich auszuführenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten und, falls es entsprechende Arbeitsstellen in dem für den Kläger verkehrsmäßig zu erreichenden Gebiet gibt, die ungelernten Arbeitertätigkeiten in gewerblichen Betrieben. Bei der Vielzahl der Arten von Tätigkeiten in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft würde es eine Überspannung der Anforderungen an die Amtsermittlungspflicht bedeuten, wenn das Gericht alle nur denkbaren Arten von Tätigkeiten daraufhin untersuchen müßte, ob sie von einem bestimmten Versicherten noch verrichtet werden können. Wenn die Beklagte weitere Arten von Tätigkeiten in den Kreis der Untersuchungen einbezogen haben möchte, muß sie schon selbst entsprechende Anregungen geben; denn ihr obliegt die Pflicht, dem Gericht bei der Aufklärung des Sachverhalts behilflich zu sein.
Das Landessozialgericht wird zu prüfen haben, welche Ermittlungen noch erforderlich sind. Medizinische Gutachten liegen bereits vor. Ob außerdem noch die Einholung von Auskünften, z. B. des zuständigen Arbeitsamts, erforderlich ist, wird davon abhängen, ob das Gericht in ausreichendem Umfang eigene Kenntnisse von der Arbeitseinsatzmöglichkeit Beinamputierter und über das Vorhandensein von geeigneten Arbeitsstellen in dem verkehrsmäßig von dem Kläger zu erreichenden Gebiet hat. In typisch liegenden Fällen wird sich die Einholung entsprechender Auskünfte jedenfalls erübrigen. Das Landessozialgericht wird gemäß § 128 SGG nach seinem freien Ermessen den Umfang der erforderlichen Ermittlungen zu bestimmen haben; es darf nur die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens nicht überschreiten. In dem angefochtenen Urteil war dies deshalb der Fall, weil es weitere Ermittlungen in Fällen dieser Art aus einem nicht anzuerkennenden Grunde generell für nicht erforderlich gehalten hat.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen