Leitsatz (amtlich)
Wenn ein Gericht ausschließlich auf Grund eines von ihm angenommenen, in Wirklichkeit aber nicht bestehenden allgemeinen Erfahrungssatzes von einer feststehenden Tatsache auf das Vorliegen einer anderen, zweifelhaften Tatsache schließt, überschreitet es die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung. Es verletzt in einem solchen Falle auch die ihm obliegende Pflicht zur Amtsermittlung, wenn es zur Verfügung stehende, geeignete Beweise nicht erhebt.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03, § 162 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. November 1955 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Schleswig zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1916 geborene Kläger war landwirtschaftlicher Gehilfe. 1944 erlitt er eine Verwundung, die zur Folge hatte, daß ihm das rechte Bein im Oberschenkel amputiert werden mußte. Seit Anfang 1952 trägt er eine Prothese. Er bezieht eine Kriegsbeschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. Am linken Fuß sind außerdem die Zehen zu sogenannten Hammerzehen verbildet, wodurch Standfestigkeit, Gehfähigkeit und Beweglichkeit weiter herabgesetzt sind. Der Kläger betreibt mit Hilfe seiner Ehefrau auf eigene Rechnung einen bewachten Fahrradstand in Timmendorfer Strand. Während der Sommermonate hält er den Stand täglich geöffnet, in den Wintermonaten in der Regel nur an den Wochenendtagen. Die Reineinnahmen aus diesem Unternehmen sind sehr gering.
Am 8. Juli 1953 beantragte der Kläger die Gewährung der Invalidenrente. Die Beklagte ließ ihn begutachten. Die Gutachter stellten folgende Gesundheitsschäden fest:
1.) Verlust des rechten Beines durch Amputation im Oberschenkel mit guten Stumpfverhältnissen,
2.) reizlose Durchschußnarbe am linken Oberschenkel,
3.) leichte (ältere) rachitische Verbiegung einiger Knochen ohne Funktionseinschränkung,
4.) Teilverlust des rechten Daumenendgliedes,
5.) schwerer Plattfuß links mit Hammerzehenbildung, teilversteift,
6.) reduzierter Allgemeinzustand;
sie hielten den Kläger für fähig, leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung sowie mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt zu verrichten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. Dezember 1953 den Rentenantrag des Klägers mit der Begründung ab, er sei nicht invalide. Gegen dieses Urteil legte der Kläger bei dem Oberversicherungsamt Schleswig Berufung ein und überreichte ärztliche Bescheinigungen, nach welchen ihm wegen seines schlechten Gesundheitszustandes die Versorgung des Fahrradstandes nicht mehr zugemutet werden könne. Die Umschulung auf einen Beruf mit sitzender Tätigkeit könne vom Kläger nicht verlangt werden. Der Kläger wurde auf Grund eines Antrags nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) noch von dem Facharzt für Chirurgie Dr. S in Lübeck untersucht. Dieser hielt den Kläger für fähig, Arbeiten im Sitzen zu verrichten. In dem gleichen Sinne äußerte sich auch der Gutachter Med. Dir. Dr. G. Mit Urteil vom 29. März 1955 wies das Sozialgericht Lübeck, auf das die Klage am 1. Januar 1954 übergegangen war, die Klage ab, weil der Kläger durch seine seit 1945 ausgeübte Tätigkeit als Fahrradwächter bewiesen habe, daß er noch in der Lage sei, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein und überreichte ein Schreiben des Finanzamts Eutin vom 11. Mai 1955, wonach er im Jahre 1954 aus seinem Fahrradstand insgesamt DM 388.- eingenommen hat. Nach einer Bescheinigung seines Steuerberaters gingen von diesen Einnahmen noch etwa DM 150.- Unkosten ab.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht wurde als medizinischer Sachverständiger der Facharzt für Chirurgie Prof. M-B aus Lübeck gutachtlich gehört. Dieser kam zu folgendem Ergebnis:
"Bei dem Kläger ist der Oberschenkelstumpf kurz. Es wird eine Niederdruckprothese getragen. Außerdem hat er Hammerzehen am linken Fuß. Er ist nicht imstande, mindestens die Hälfte dessen zu verdienen, was andere Gesunde in gleicher Tätigkeit zu verdienen vermögen."
Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts vom 29. Mai 1955 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 1953 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger vom 1. August 1953 ab die Invalidenrente zu zahlen. Es nimmt an, daß der Kläger invalide ist und stützt sich hierbei auf einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß bei Beinverlust infolge Amputation im Oberschenkel in der Regel die Voraussetzungen der Invalidität erfüllt sind. Bei dem Kläger komme hinzu, daß er außerdem noch an einer Hammerzehenbildung links leide. Seine Tätigkeit als selbständiger Fahrradwächter sei nicht geeignet, den Gegenbeweis zu erbringen, daß bei ihm ausnahmsweise die Voraussetzungen der Invalidität nicht vorlägen, da es sich nicht um eine Tätigkeit in abhängiger Stellung handele und er sie auch nur ausführen könne, weil er von seiner Ehefrau unterstützt werde; außerdem verdiene er damit keinesfalls die gesetzliche Lohnhälfte. Es hat die Revision nicht zugelassen. Das Urteil wurde der Beklagten am 12. Januar 1956 zugestellt.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 9. Februar 1956 Revision eingelegt und sie am 27. Februar 1956 begründet. Sie rügt, das Landessozialgericht habe seine Amtsermittlungspflicht nicht genügend erfüllt, weil es verabsäumt habe, Ermittlungen anzustellen, welche Arbeiten der Kläger noch verrichten könne, ob es solche Arbeiten in seinem Wohngebiet gäbe und ob er damit die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne. Statt dessen habe es sich unzulässigerweise auf einen nicht anzuerkennenden allgemeinen Erfahrungsgrundsatz gestützt und habe dadurch auch die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. November 1955 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
1) die Revision als unzulässig zu verwerfen,
2) hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen,
3) die Revisionsklägerin zu verurteilen, ihm die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Er ist der Auffassung, daß das Landessozialgericht seiner Amtsermittlungspflicht in vollem Umfang nachgekommen ist.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Das Landessozialgericht hatte nach § 1253 RVO u. a. zu prüfen, ob der Kläger invalide ist. Zu diesem Zwecke mußte es nach § 1254 RVO vor allem folgende Feststellungen treffen:
1) Ausbildung und bisheriger Beruf des Klägers,
2) Art und Schwere der Krankheit bzw. der Gebrechen des Klägers,
3) die dem Kläger nach seinen Kräften und Fähigkeiten noch zumutbaren Tätigkeiten,
4) Höhe des hierdurch zu erzielenden Verdienstes,
5) ob es solche Tätigkeiten in dem Wohngebiet des Versicherten gibt,
6) Höhe der gesetzlichen Lohnhälfte.
Das Landessozialgericht hat ausdrücklich nur die beiden ersten Feststellungen getroffen. Wenn daraus zu schließen wäre, daß es die übrigen Feststellungen überhaupt nicht getroffen hat, so läge nicht ein Verfahrensmangel, sondern ein Subsumtionsfehler vor, da es dann die Entscheidung nach § 1254 RVO getroffen hätte, ohne daß alle gesetzlichen Tatbestandsmerkmale gegeben wären. Es kann indessen nicht angenommen werden, daß das Landessozialgericht die nicht ausdrücklich erwähnten Feststellungen für entbehrlich gehalten hat, es ist vielmehr davon auszugehen, daß es auch diese weiteren Feststellungen, wenn auch nur global, treffen wollte und getroffen hat. Das Landessozialgericht ist nach Ansicht des erkennenden Senats lediglich davon ausgegangen, daß es diese Feststellungen ohne Beweiserhebung global treffen durfte, indem es sich auf einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts stützte, daß bei Beinverlust durch Amputation im Oberschenkel auch nach Gewöhnung und Anpassung stets Invalidität vorläge, wenn nicht durch längere Arbeitsbewährung das Gegenteil bewiesen sei. Wie der erkennende Senat aber bereits in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, besteht ein solcher Erfahrungsgrundsatz nicht (vgl. dazu Urteil vom 15.12.1955 - 4 RJ 36/54 -, BSG. 2 S. 127). Das Landessozialgericht durfte daher seine weiteren Tatsachenfeststellungen nicht alleine darauf stützen, daß der Kläger Beinamputierter ist und an sonstigen Krankheiten leidet, sondern hätte weitere Ermittlungen erheben müssen, ob auch die weiteren Voraussetzungen des § 1254 RVO vorliegen. Es hat dadurch, daß es ausschließlich auf Grund eines von ihm angenommenen, in Wirklichkeit aber nicht bestehenden allgemeinen Erfahrungssatzes von einer feststehenden Tatsache auf das Vorliegen einer anderen, zweifelhaften Tatsache geschlossen hat, die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten und hat gleichzeitig die ihm obliegende Pflicht zur Amtsermittlung verletzt, weil es aus einem nicht anzuerkennenden Grunde unterlassen hat, weitere Ermittlungen anzustellen. Das Verfahren des Landessozialgerichts leidet daher an wesentlichen Mängeln. Da das angefochtene Urteil bei Vermeidung dieser Verfahrensmängel anders hätte ausfallen können, ist die Revision begründet. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben und, da es an ausreichenden wirksamen Tatsachenfeststellungen mangelt, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Das Landessozialgericht wird bei den anzustellenden Ermittlungen grundsätzlich nur diejenigen Tätigkeiten in den Kreis seiner Untersuchungen einzubeziehen brauchen, die typischerweise für einen landwirtschaftlichen Arbeiter in Frage kommen. Das sind die körperlich auszuführenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten und, falls es entsprechende Arbeitsstellen in dem für den Kläger verkehrsmäßig zu erreichenden Gebiet gibt, die ungelernten Arbeitertätigkeiten in gewerblichen Betrieben. Bei der Vielzahl der Arten von Tätigkeiten in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft würde es eine Überspannung der Anforderungen an die Amtsermittlungspflicht bedeuten, wenn das Gericht alle nur denkbaren Arten von Tätigkeiten daraufhin untersuchen müßte, ob sie von einem bestimmten Versicherten noch verrichtet werden können. Wenn die Beklagte weitere Arten von Tätigkeiten in den Kreis der Untersuchungen einbezogen haben möchte, muß sie schon selbst entsprechende Anregungen geben; denn ihr obliegt die Pflicht, dem Gericht bei der Aufklärung des Sachverhalts behilflich zu sein.
Das Landessozialgericht wird zu prüfen haben, welche Ermittlungen noch erforderlich sind. Medizinische Gutachten liegen bereits vor. Ob außerdem noch die Einholung von Auskünften, z. B. des zuständigen Arbeitsamts erforderlich ist, wird davon abhängen, ob das Gericht in ausreichendem Umfang eigene Kenntnisse von den Arbeitseinsatzmöglichkeiten Beinamputierter und über das Vorhandensein von geeigneten Arbeitsstellen in dem verkehrsmäßig von dem Kläger zu erreichenden Gebiet hat. In typisch liegenden Fällen wird sich die Einholung entsprechender Auskünfte jedenfalls erübrigen. Das Landessozialgericht wird gemäß § 128 SGG nach seinem freien Ermessen den Umfang der erforderlichen Ermittlungen zu bestimmen haben; es darf hierbei nur nicht, wie in dem angefochtenen Urteil geschehen, die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens überschreiten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen