Orientierungssatz
Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut kommt die Fiktion des WGSVG § 10 Abs 1 S 3 (Fassung: 1970-12-22 BGBl 1 1846, wonach die nach diesem § 10 Abs 1 nachentrichteten Beiträge als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gelten, nur für solche Beiträge in Betracht, die nach dem 1971-02-01 aufgrund der WGSVG §§ 9 und 10 für vorhergehende Zeiten nachentrichtet worden sind.
Normenkette
WGSVG § 10 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-22, § 9 Fassung: 1970-12-22
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. Juli 1973 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der am 12. April 1893 geborene Kläger ist Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er entrichtete bis März 1935 Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV), war dann arbeitslos und wanderte im Dezember 1935 aus verfolgungsbedingten Gründen aus Deutschland aus. Er wohnt jetzt in Israel. Im Jahre 1956 hat er für die Zeit von Januar 1950 bis Juni 1956 Beiträge nachentrichtet.
Er bezieht seit April 1958 Altersruhegeld, das die Beklagte mit Bescheid vom 4. Mai 1972 für Bezugszeiten vom 1. Februar 1971 an nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Art. 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) neu berechnete. Die Neuberechnung ergab keinen höheren monatlichen Zahlbetrag. Die Rente wurde daher in der bisherigen Höhe weitergezahlt.
Der Kläger begehrt die Zahlung eines höheren Altersruhegeldes vom 1. Februar 1971 an. Er meint, die von ihm im Jahre 1956 entrichteten 42 freiwilligen Beiträge zur AnV müßten nach § 10 Abs. 1 Satz 3 WGSVG nicht, wie die Beklagte es getan habe, als freiwillige, sondern als Pflichtbeiträge behandelt werden, woraus sich für ihn eine höhere Ausfallzeit ergebe.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen; Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat durch Urteil vom 24. Juli 1973 unter Zulassung der Revision die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die in § 10 Abs. 1 Satz 3 WGSVG enthaltene Fiktion, daß nachentrichtete Beiträge für die Zeiten vor dem 1. Januar 1947 und für Zeiten eines Auslandsaufenthalts, der sich an einen als Verfolgungszeit anzurechnenden Auslandsaufenthalt anschließt, als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit zu gelten haben, betreffe nur die Beiträge, die auf Grund des § 10 WGSVG entrichtet worden seien. Habe ein Verfolgter auf Grund allgemeiner Bestimmungen vor dem 1. Februar 1971 Beiträge entrichtet, so habe es damit sein Bewenden. Die Ausnahmevorschrift des § 8 Abs. 3 WGSVG lasse sich nicht auf andere Tatbestände entsprechend anwenden.
Die Vorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 2 WGSVÄndG, auf die sich der Kläger weiterhin berufe, enthalte keine selbständige Anspruchsgrundlage. Die Bestimmung sei für die Fälle des § 8 Abs. 3 WGSVG notwendig gewesen. Da auch die vor dem 1. Februar 1971 - dem Inkrafttreten des WGSVG - auf Grund des Art. X des BEG-Schlußgesetzes entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge zu gelten hätten, habe klargestellt werden müssen, daß die darauf beruhenden höheren Renten erst vom Inkrafttreten des WGSVG an zu zahlen seien.
Gegen das Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er führt aus, wenn auch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehle, daß bei Personen, die zur Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 WGSVG befugt seien, auch die schon früher gezahlten Beiträge mit Wirkung ab 1. Februar 1971 als Pflichtbeiträge zu behandeln seien, so müsse gleichwohl in diesem Sinne verfahren werden; sonst würde der betreffende Personenkreis benachteiligt werden. Hätte er - der Kläger - nicht schon im Jahre 1956 die Beiträge für die Kalenderjahre 1950 bis 1956, sondern erst nach Inkrafttreten des WGSVG nachentrichtet, so wären die Beiträge vom 1. Februar 1971 an als Pflichtbeiträge zu behandeln, und ihm stände von diesem Zeitpunkt an unter Berücksichtigung einer längeren Ausfallzeit ein höheres Altersruhegeld zu. Dadurch, daß er schon vor etwa 20 Jahren Gelder für Beitragsleistungen aufgewandt habe, anstatt sie erst nach dem Inkrafttreten des WGSVG aufzuwenden, werde er jetzt bestraft. Dies könne nicht rechtens sein. Es müsse vielmehr die Vorschrift des § 8 Abs. 3 WGSVG analog auch auf Fälle angewandt werden, in denen Beiträge aus sonstigen Gründen schon früher freiwillig gezahlt worden seien.
Für ihn wäre gemäß § 10 WGSVG bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres eine Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit von Januar 1950 bis März 1958 in Betracht gekommen. Hätte er früher schon freiwillige Beiträge für diesen gesamten Zeitraum entrichtet, so hätte er gemäß den Vorschriften des WGSVG Beiträge nicht mehr nachentrichten können. Er wäre dann von der neuen und für ihn günstigeren Ausfallzeitregelung nach den Bestimmungen des WGSVG ausgeschlossen gewesen. Dies zeige, daß die früher gezahlten freiwilligen Beiträge so behandelt werden müßten, als seien sie erst nach Inkrafttreten des WGSVG entrichtet worden.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 1972 abzuändern und diese zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung der im Jahre 1956 für die Kalendermonate Januar 1950 bis Juni 1956 entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge vom 1. Februar 1971 an ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet; er kann nicht beanspruchen, daß die von ihm bereits im Jahre 1956 nachentrichteten freiwilligen Beiträge als Pflichtbeiträge berücksichtigt werden.
Mit Ausnahme des in § 8 Abs. 3 WGSVG vorgesehenen Falles, daß freiwillige Beiträge bereits auf Grund des Art. X des BEG-Schlußgesetzes vor dem Inkrafttreten des WGSVG (1. Februar 1971) für frühere Zeiten freiwillig nachentrichtet waren, gilt die in § 8 Abs. 1 Satz 3 und § 10 Abs. 1 Satz 3 WGSVG enthaltene Fiktion, daß nachentrichtete freiwillige Beiträge als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, also als Pflichtbeiträge gelten, nur für solche Beiträge, die nach dem 1. Februar 1971 auf Grund der §§ 9 Abs. 1 und 2, 10 Abs. 1 und 2 WGSVG für Zeiten vor dem 1. Februar 1971 freiwillig nachentrichtet werden. Daß diese sich aus der gesetzlichen Regelung des WGSVG ergebende Rechtsfolge auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ergibt sich aus dem Gesetzgebungsverfahren, das zu dem WGSVÄndG geführt hat. So heißt es u. a. zur Begründung des jetzigen § 10 WGSVG: Aus Gründen der Wiedergutmachung gelten Beiträge, die für Zeiten zwischen 1933 und 1946 sowie - bei Emigration - für Zeiten eines Auslandsaufenthalts, die nicht bereits als Ersatzzeiten anzurechnen sind, nachentrichtet "werden", als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit (BT-Drucks. VI/1449 S. 2 und 3).
Darin kommt bereits zum Ausdruck, daß nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nur solche Beiträge in Betracht kommen, die nach Inkrafttreten des WGSVG nachentrichtet "werden". Es ergibt sich kein Anhalt dafür, daß daran gedacht gewesen ist, auch freiwilligen Beiträgen, die vor dem Inkrafttreten des WGSVG am 1. Februar 1971 bereits aus anderen Gründen für Zeiten vor dem 1. Februar 1971 freiwillig nachentrichtet waren, die Rechtswirkung beizulegen, daß sie als Pflichtbeiträge gelten, selbst wenn sie für Zeiten im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 3 WGSVG, also für Zeiten vor dem 1. Januar 1947 und für Zeiten eines Auslandsaufenthaltes, der sich an einen als Verfolgungszeit anzurechnenden Auslandsaufenthalt anschließt, entrichtet sind. Die gesetzliche Fiktion, daß auch frühere freiwillige Beiträge als Pflichtbeiträge gelten, ist ausdrücklich auf diejenigen vor dem 1. Februar 1971 bereits nachentrichteten freiwilligen Beiträge beschränkt, die auf Grund des Art. X des BEG-Schlußgesetzes nachentrichtet worden waren (§ 8 Abs. 3 WGSVG). Wie die Regelungen in § 8 Abs. 1 Satz 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 WGSVG erkennen lassen, hat der Gesetzgeber auch nicht übersehen, daß Verfolgte für Zeiten vor dem 1. Februar 1971 Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge bereits entrichtet haben. Der Gesetzgeber hat mithin den Verfolgten nur insoweit durch eine weitere nachträgliche Beitragsleistung Vergünstigungen gewähren wollen, als auf Grund des WGSVG vom 1. Februar 1971 an für vorhergehende Zeiten freiwillige Beiträge nachentrichtet werden. Diese Absicht des Gesetzgebers hat in dem Wortlaut der §§ 7 bis 10 WGSVG unter der Überschrift "Weiterversicherung-Nachentrichtung von Beiträgen" ihren eindeutigen Ausdruck gefunden. Hiernach ist entgegen der Ansicht der Revision für eine entsprechende Anwendung des dem § 8 Abs. 3 WGSVG zugrunde liegenden Rechtsgedankens auf andere Fälle der Nachentrichtung freiwilliger Beiträge vor dem 1. Februar 1971 kein Raum.
Mit zutreffender Begründung hat das LSG ferner dargelegt, daß der vom Kläger erhobene Anspruch auch nicht - wie er meint- auf die Vorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 2 WGSVÄndG gestützt werden kann, weil diese Vorschrift keine selbständige Anspruchsgrundlage beinhaltet, sondern nur bestimmt, von welchem Zeitpunkt an die nach den Vorschriften des WGSVG begründete Rente oder höhere Rente zu zahlen ist.
Die mit dem Stichtag 1. Februar 1971 verbundene gesetzliche Regelung verletzt auch nicht verfassungsrechtliche Grundsätze, denn sie bedeutet keinen Eingriff in bereits erworbene Rechte und verstößt auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (BSG 14, 96 ff).
Die Revision des Klägers kann hiernach keinen Erfolg haben, sondern muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen