Entscheidungsstichwort (Thema)

Zumutbare Verweisungstätigkeit bei psychiatrischen Störungen. Berufsunfähigkeit eines Kraftfahrers. Sachaufklärung. rechtliches Gehör. Verletzung der Amtsermittlungspflicht und des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Erkrankungen auf psychiatrischem Gebiet, die zwar eine Erwerbstätigkeit in vollen Schichten noch zulassen, können aber den Versicherten (möglicherweise) daran hindern, eine zumutbare Verweisungstätigkeit iS der § 46 Abs 2, § 1246 Abs 2 RVO zu verrichten.

2. Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben aufgrund psychiatrischer Störungen (hier: Anzeichen für Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems, Neigung zu depressiver Verstimmung, psychogene Überlagerung und Verdeutlichungstendenzen) lassen sich nicht durch den Hinweis des Gerichts ausschließen, der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, von dem auf Veranlassung des orthopädischen Sachverständigen ein elektromyographisches Zusatzgutachten eingeholt worden ist, hätte sicher auf derartige Krankheitserscheinungen hingewiesen, sofern sie bestünden.

 

Orientierungssatz

1. Zur Berufsunfähigkeit eines Kraftfahrers - Verweisung auf die Tätigkeiten als Lagerverwalter, Magaziner oder Magazinarbeiter.

2. Zur Verletzung der Amtsermittlungspflicht und des rechtlichen Gehörs (hier: Einholung eines psychiatrischen Gutachtens).

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2, § 46 Abs. 2; RVO § 1246 Abs. 2; RKG § 47 Abs. 2; RVO § 1247 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 103, 128 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 24.05.1984; Aktenzeichen L 5 Kn 29/82)

SG Koblenz (Entscheidung vom 30.09.1982; Aktenzeichen S 5 Kn 9/81)

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit oder wegen Berufsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.

Nach einer nicht abgeschlossenen kaufmännischen Lehre war der im Jahre 1929 geborene Kläger ab Dezember 1945 knappschaftlich versichert und zwar als Berglehrling, Knappe im Schichtlohn und Grubenlokfahrer im Steinkohlenbergbau. Im Mai 1963 kehrte er vom Bergbau ab. Anschließend arbeitete er bis April 1979 als Kraftfahrer. Im Juni 1979 unterzog er sich einer Bandscheibenoperation an der Lendenwirbelsäule. Seinen im Mai 1980 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Oktober 1980 ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 30. September 1982 und 24. Mai 1984). Es hat ausgeführt, der Kläger könne noch leichte körperliche Arbeiten ohne besondere dauernde Belastungen der Wirbelsäule und ohne ständige Zwangshaltungen in geschlossenen Räumen regelmäßig in vollen Schichten verrichten. Einen Berufsschutz als Facharbeiter genieße er nicht. Von dem erlernten Knappenberuf habe er sich gelöst, ebenso von der Tätigkeit als Grubenlokfahrer. Als Kraftfahrer wäre der Kläger nur dann zur Gruppe der Facharbeiter zu rechnen, wenn er einem nach der Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973 ausgebildeten Kraftfahrer gleichgestellt werden könne, was jedoch nicht gerechtfertigt erscheine. Vielmehr sei er der Gruppe der angelernten Arbeiter - allenfalls im mittleren bis oberen Bereich - zuzuordnen. Verwiesen hat das LSG den Kläger auf die wie eine Anlerntätigkeit eingestufte Arbeit eines Lagerverwalters (Magaziners, Magazinarbeiters) in einem Teilelager von Betrieben der Metallindustrie. Deshalb sei er weder erwerbs- noch berufsunfähig und auch nicht vermindert bergmännisch berufsfähig, denn er könne die im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertigen Verweisungstätigkeiten auch in knappschaftlich versicherten Betrieben der Stahlindustrie verrichten.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 47 Abs 2, 46 Abs 2 und 45 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) sowie der §§ 103, 62 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 1. Oktober 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1980 zu verurteilen, ihm ab 1. Juni 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit oder verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu gewähren; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung noch nicht zu.

Das angefochtene Urteil beruht - wie der Kläger zutreffend rügt - auf einer Verletzung des § 103 SGG. Nach dieser Bestimmung erforscht das Gericht die für die Entscheidung nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung bedeutsamen Tatsachen von Amts wegen. Das Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dann, wenn von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus die ermittelten Tatsachen zur Urteilsfindung noch nicht ausreichten und sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen mußte (vgl BSG in SozR Nrn 7 und 40 zu § 103 SGG; SozR 2200 § 160 Nrn 5 und 49). Das ist hier der Fall.

Dem Antrag des Klägers, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, ist das LSG nicht gefolgt. Es hat ausgeführt, überzeugende Befunde oder sonstige Hinweise dafür, daß der Kläger an einer nach der Rechtsprechung für die Erwerbsfähigkeit erheblichen echten "psychiatrischen Erkrankung" mit psychotischen oder neurotischen Störungen und an dadurch bedingten, einer Arbeitsaufnahme oder weiteren Erwerbstätigkeit entgegenstehenden Hemmungen leide, die trotz fachärztlicher Behandlung und eigener zumutbarer Willensanspannung unüberwindbar und folglich so stark seien, daß sie eine regelmäßige vollschichtige Erwerbstätigkeit auf Dauer ausschlössen oder weitestgehend einschränkten, seien nicht vorhanden. Das Berufungsgericht geht hier von einer unzutreffenden rechtlichen Ausgangslage aus, jedenfalls soweit die Voraussetzungen der Ansprüche auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu prüfen waren. Erkrankungen auf psychiatrischem Gebiet, die zwar eine Erwerbstätigkeit in vollen Schichten noch zulassen, können aber möglicherweise den Versicherten daran hindern, eine zumutbare Verweisungstätigkeit iS der §§ 46 Abs 2 RKG, 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu verrichten. Ob das für die Tätigkeit des Lagerverwalters zutrifft, den das LSG als angelernt eingestuft hat und auf die es den Kläger verwiesen hat, ist noch nicht hinreichend geklärt. Das Berufungsgericht hat selbst dargelegt, daß die bisherigen Ermittlungen Anzeichen für psychiatrische Störungen, ua wie Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems, Neigung zu depressiver Verstimmung, psychogene Überlagerung und Verdeutlichungstendenzen ergeben haben. Darin möglicherweise zum Ausdruck kommende gesundheitliche Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben lassen sich nicht durch den Hinweis des LSG ausschließen, der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, von dem auf Veranlassung des orthopädischen Sachverständigen ein elektromyographisches Zusatzgutachten eingeholt worden ist, hätte sicherlich auf derartige Krankheitserscheinungen hingewiesen, sofern sie bestünden. Mit Hilfe dieses Zusatzgutachtens sollte nämlich lediglich objektiviert werden, ob eine Kraftminderung im Bereich der Fußheber und Fußsenker links beim Kläger besteht. Der Kläger rügt daher zu Recht, gestützt auf das Zusatzgutachten hätten allgemein Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht verneint werden können, weil der Sachverständige danach nicht gefragt worden sei und sich dazu nicht geäußert habe.

Das LSG hat allerdings noch ausgeführt, bei den psychogenen Überlagerungen, Verdeutlichungstendenzen, demonstrativen Verhaltensweisen, der psychischen Alteration und Fixierung handele es sich allenfalls um bestimmte, in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers liegende Eigentümlichkeiten und um zielgerichtete bewußte oder bewußtseinsnahe Begehrensvorstellungen, die keinen Krankheitswert hätten. Zu dieser Feststellung ist das Berufungsgericht ohne Beweisaufnahme und damit aufgrund eigener Sachkunde gelangt. Es hätte jedoch den Beteiligten zuvor Gelegenheit geben müssen, dazu Stellung zu nehmen. Das ist - soweit ersichtlich - nicht geschehen. Der Kläger rügt daher zutreffend auch eine Verletzung des nach Art 103 des Grundgesetzes (GG) geschützten und in den §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierten Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Das LSG hätte sich folglich gedrängt fühlen müssen, das beantragte psychiatrische Gutachten einzuholen. Auch hätte es den Kläger auf die etwa vorhandene Gerichtskunde hinweisen müssen. Wäre letzteres geschehen, so hätte der Kläger noch einmal die Notwendigkeit der beantragten Beweiserhebung darlegen können und wäre diese durchgeführt worden, so hätten sich möglicherweise weitere Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit des Klägers ergeben. Auf diesen Verfahrensmängeln kann das angefochtene Urteil daher beruhen. Da der Rechtsstreit schon aus diesen Gründen zurückverwiesen werden muß, kann es unentschieden bleiben, ob das Berufungsverfahren weitere, vom Kläger gerügte Mängel aufweist.

Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen zu dem Ergebnis führen, daß die dem Kläger verbliebene Erwerbsfähigkeit ausreicht, die vom LSG genannten Tätigkeiten des Lagerverwalters (Magaziners, Magazinarbeiters) zu verrichten, so kann er darauf nur verwiesen werden, wenn er sie nach einer Einarbeitungszeit von längstens drei Monaten ausführen kann. Nach der vom LSG angeführten Berufsinformationskarte der Bundesanstalt für Arbeit zum Lagerverwalter dauert die Einarbeitungs- und Anlernzeit in der Regel sechs Monate. Stellt das Berufungsgericht erneut fest, das gelte nicht für Facharbeiter und angelernte Arbeiter, die Grundkenntnisse aufweisen, so wird es die entsprechende Sachkunde anzeigen oder entsprechenden Beweis erheben müssen.

Sofern die Ermittlungen zu dem Ergebnis führen, daß für den Kläger keine Verweisungstätigkeiten aus der Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlerntätigkeiten) mehr in Betracht kommen, so wird das LSG seine Auffassung zur "bisherigen Berufstätigkeit" des Klägers iS der §§ 46 Abs 2 RKG, 1246 Abs 2 RVO überprüfen müssen. Der Kläger hat den Beruf des Kraftfahrers ausgeübt, der aufgrund der Berufskraftfahrer-Ausbildungsordnung vom 26. Oktober 1973 (BGBl I, 1518) seit dem 1. Januar 1974 als Ausbildungsberuf anerkannt ist. Da der Kläger jedoch eine entsprechende Ausbildung nicht durchlaufen und auch die vorgesehene Abschlußprüfung nicht abgelegt hat, kann er nur dann als Facharbeiter angesehen werden, wenn er den Beruf des Kraftfahrers vollwertig ausgeübt hat. Es mag zwar sein, daß ein Kraftfahrer ohne Ausbildungsgang die darin vermittelten Kenntnisse am ehesten bei einer längeren Fahrpraxis im Güterfernverkehr und im grenzüberschreitenden Verkehr erwerben kann. Aus dem Umstand, daß der Kläger nur im Nahverkehr tätig war, läßt sich jedoch ohne weitere Ermittlung und Prüfung nicht schließen, er sei nicht vollwertig als Kraftfahrer eingesetzt worden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663884

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