Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Änderung der Verhältnisse. Bindungswirkung. freie Beweiswürdigung. wesentlicher Verfahrensmangel
Orientierungssatz
Im Rahmen von BVG § 62 kann eine Nachprüfung der Feststellungen über Schädigungsfolgen durch Kriegseinwirkungen wegen deren eine wesentliche Änderung behauptet wird, nicht wegen der Rechtskraft des anspruchsbegründenden Urteils und der bindenden Wirkung des Bewilligungsbescheides abgelehnt werden. Tritt das Gericht nicht in eine neue Sachprüfung ein, sondern unterläßt es diese unter Hinweis auf die Rechtskraft des Urteils und die Bindungswirkung des Bescheides, berücksichtigt es nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens und verstößt gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung.
Normenkette
SGG § 77; BVG § 62; SGG § 128 Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.09.1965) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. September 1965 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezieht Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) auf Grund des Urteils des Sozialgerichts (SG) Augsburg vom 3. Juni 1954 und des Ausführungsbescheides des Versorgungsamts (VersorgA) vom 27. Juli 1954 wegen "Magenkatarrhs und Salzsäuremangels mit Beteiligung des Darmes und der ableitenden Gallenwege als Ruhrfolge", hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG; die Rente ist nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. festgesetzt worden. In dem Verfahren, das zu dieser Anerkennung geführt hatte, hatte der Kläger im Jahre 1951 als Schädigungsfolgen ursprünglich neben dem Magen-Darmleiden noch Kreuzschmerzen, ein Nervenleiden sowie ein Leber- und Gallenblasenleiden geltend gemacht.
Im August 1957 beantragte der Kläger die Anerkennung eines Leberschadens, die Verschlimmerung des anerkannten Magen- und Darmleidens sowie die Erhöhung der Rente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins; er war der Ansicht, der Leberschaden sei infolge der Ruhr entstanden. Gestützt auf die Abschrift des Krankenblatts der Kuranstalt Bad Mergentheim aus dem November 1957 und eine versorgungsärztliche Nachuntersuchung durch Reg. Medizinalrat Dr. H lehnte das VersorgA durch Bescheid vom 2. April 1958 den Antrag ab und führte aus, das anerkannte Magenleiden habe sich nicht verschlimmert, es bestehe keine Lebergewebsschädigung, ein Leberschaden sei nicht nachweisbar; es sei keine wesentliche Änderung in den für die Feststellung der Versorgung maßgebend gewesenen Verhältnissen eingetreten. Der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 11. Juni 1958 zurückgewiesen, weil durch die zwischenzeitliche Kur eine vielleicht zur Zeit des Antrags vorhanden gewesene Verschlimmerung beseitigt worden sei. Eine Leberschädigung sei nach ärztlicher Auffassung auszuschließen. § 30 BVG könne nicht angewandt werden.
Mit der Klage hat der Kläger ein ärztliches Zeugnis seines behandelnden Arztes Dr. B vom 10. Oktober 1958 beigebracht. Nach Beweisaufnahme durch Beiziehung der Akten der Landesversicherungsanstalt Württemberg mit einem Kurbericht des Hauses "S" dieses Versicherungsträgers aus dem Oktober 1959 und Anhörung des Gerichtsarztes, Facharztes für innere Krankheiten Dr. S, hat das SG durch Urteil vom 20. April 1960 die Klage abgewiesen, weil ein ursächlicher Zusammenhang einer Leberschädigung mit der anerkannten Gallenwegserkrankung nicht schlüssig vom Sachverständigen begründet worden sei. Das anerkannte Magenleiden habe sich nicht verschlimmert. Die Vorschrift des § 30 BVG könne nicht angewendet werden.
Der Kläger hat Berufung eingelegt und die ärztliche Stellungnahme des praktischen Arztes Dr. B vom 28. November 1963 beigebracht. Auf seinen Antrag hat das Landessozialgericht (LSG) gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. S vom 16. Februar 1965 eingeholt, welcher zu dem Ergebnis gelangt ist, nach ärztlicher Auffassung habe die Beteiligung der ableitenden Gallenwege als Ruhrfolge zeitweise - im Jahre 1959 - die Leber ergriffen; zur Zeit sei ein Leberschaden nicht festzustellen. Hiergegen hat sich der Kläger mit einer ärztlichen Bescheinigung seines behandelnden Arztes Dr. B vom 20. September 1965 gewandt und beantragt, gemäß § 109 SGG diesen Arzt gutachtlich zu hören. Durch Urteil vom 22. September 1965 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, durch den Neufeststellungsbescheid vom 2. April 1958 und den Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 1958 sei nur festgehalten, daß eine Lebergewebsschädigung nicht feststellbar sei. Das LSG habe aber über den ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Ereignissen im Sinne des § 1 BVG oder mit der anerkannten Schädigungsfolge nicht befunden. Da also der Beklagte keine Neuregelung getroffen habe, sei der Rechtsweg nicht eröffnet. Die Feststellung, eine Lebergewebsschädigung sei nicht vorhanden, stelle keine neue Regelung des ursächlichen Zusammenhangs gegenüber den früheren bindenden Bescheiden dar; deshalb sei es dem Gericht verwehrt, hierüber zu befinden. Die Frage, ob beim Kläger ein Leberzellschaden vorhanden sei und in ursächlichem Zusammenhang mit dem Wehrdienst oder den anerkannten Schädigungsfolgen stehe, müsse unerörtert bleiben. Das Gericht dürfe in dieser Hinsicht keine tatsächlichen Feststellungen treffen. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß sich die anerkannten Schädigungsfolgen ab Verschlimmerungsantrag verschlechtert hätten. Deshalb erübrige sich ein Eingehen auf den Antrag nach § 109 SGG, Dr. B zu hören, abgesehen davon, daß zur gleichen Beweisfrage bereits Dr. S gemäß § 109 SGG gehört sei; dessen Gutachten enthalte ebenso Unklarheiten wie dasjenige, das er als Gerichtsarzt erstattet habe. Das Gericht könne aus der von dem Sachverständigen Dr. B zu beantwortenden Beweisfrage aus rechtlichen Gründen keine Folgerungen ziehen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen LSG vom 22. September 1965 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 77, 109, 128 SGG und ist der Ansicht, das LSG habe über den Leberschaden als Folge der anerkannten Schädigung des galleableitenden Systems sachlich befinden müssen und habe - da es das Gutachten des Facharztes Dr. S für nicht geeignet gehalten habe - dem Antrag auf Anhörung des Dr. B entsprechen müssen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen LSG vom 22. September 1965 als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Das Berufungsgericht hat die Revision zwar nicht zugelassen. Das Rechtsmittel findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt.
Zu Unrecht hat das LSG geglaubt, im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils des SG vom 3. Juni 1954 und die bindende Wirkung des früheren Verwaltungsbescheides vom 3. März 1952 könne es über das Vorliegen eines Leberschadens nicht befinden. Es trifft zu, daß der Kläger im ersten Verfahren ein Leberleiden als Schädigungsfolge geltend gemacht hat. Damals hat das VersorgA einen erst 1948 festgestellten Leberschaden nicht als Schädigungsfolge angesehen. Der Kläger hat dann im früheren Rechtsmittelverfahren die Anerkennung eines Leberschadens nicht mehr betrieben; dies hat seinerzeit das SG im Urteil vom 3. Juni 1954 ausdrücklich ausgeführt und hat dazu bemerkt, das Vorliegen eines solchen Leidens sei nicht nachweisbar. Als Schädigungsfolgen hat es nach den Urteilsgründen den Magenkatarrh und Salzsäuremangel mit Beteiligung des Darmes und der ableitenden Gallenwege angesehen. Dies hat die Verwaltung in dem Ausführungsbescheid vom 27. Juli 1954 übernommen. Wenn nunmehr der Kläger hätte geltend machen wollen, das Leberleiden sei damals zu Unrecht nicht als Schädigungsfolge anerkannt worden, so würde er damit gemäß § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) die Erteilung eines neuen Bescheides beantragt haben. So hat aber die Verwaltung sein Gesuch vom August 1957 nicht aufgefaßt, sondern als einen Antrag auf Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG und dementsprechend die Bescheide vom 2. April und 11. Juni 1958 erlassen.
Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Versorgung entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Das Berufungsgericht hatte hier um so mehr Anlaß, das Begehren des Klägers nach dieser Vorschrift zu prüfen, weil nach ärztlicher Ansicht ein Leberschaden durch die als Schädigungsfolge anerkannte Schädigung des ableitenden Systems der Gallenwege hervorgerufen sein und eine mittelbare Schädigungsfolge darstellen kann. Das LSG hat sich also zu Unrecht darauf beschränkt festzustellen, daß die Verwaltung nach § 40 VerwVG eine neue Feststellung nicht getroffen habe. Es hat damit den Streitgegenstand 1958 verkannt und somit nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt.
Der Bescheid vom 27. Juli 1954 war ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Seine Rechtsverbindlichkeit konnte ebenso wie die Rechtskraft des Urteils vom 3. Juni 1954 nur so lange Bestand haben, als die Verhältnisse sich nicht wesentlich änderten, welche ihnen zugrunde lagen. Das Vorbringen des Klägers muß - wie die Verwaltung zu Recht angenommen hat - dahin ausgelegt werden, daß neben anderem auch eine derartige wesentliche Änderung behauptet ist. Wenn sie nachgewiesen ist, ist die Verwaltung verpflichtet, von der Rechtskraft des Urteils und der bindenden Wirkung des früheren Bescheides mit Dauerwirkung insoweit abzusehen. Nur die unveränderten Teile der früheren Feststellungen können nicht neu beurteilt werden (BSG 19, 77 ff). Infolgedessen kann hier im Rahmen des § 62 BVG eine Nachprüfung der Feststellungen, wegen deren eine wesentliche Änderung behauptet wird, nicht wegen der Rechtskraft des Urteils des SG vom 3. Juni 1954 und der bindenden Wirkung des Bescheides vom 27. Juli 1954 abgelehnt werden. Insoweit ist die Rechtslage grundverschieden von der bei einem begünstigenden Verwaltungsakt nach § 40 VerwVG.
Als wesentliche Änderung der Verhältnisse kommt hier in Betracht, daß zeitlich nach der früheren bindenden Feststellung aus dem Jahre 1954 infolge des anerkannten Magenkatarrhs mit Beteiligung der Gallenwege ein Leberschaden aufgetreten sein soll. Dies hat der Kläger behauptet und dafür ein Zeugnis des praktischen Arztes Dr. B vom 20. September 1965 beigebracht. Infolgedessen mußte das LSG hierauf sachlich eingehen (§ 123 SGG). Da es dies unterlassen und lediglich wegen der Rechtskraft des Urteils und der bindenden Wirkung des Bescheides aus dem Jahre 1954 eine gerichtliche Nachprüfung der jetzt angefochtenen Verwaltungsakte als unzulässig angesehen, das Gesamtergebnis des Verfahrens insoweit aber nicht berücksichtigt hat (§ 128 Abs. 1 SGG), leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Das angefochtene Urteil konnte deshalb nicht aufrechterhalten werden.
Das LSG hat es auf Grund seiner rechtlichen Betrachtung des Streitfalles unterlassen, tatsächliche Feststellungen zu treffen. Die Entscheidung des Rechtsstreits aber hängt davon ab, ob ein Leberschaden tatsächlich vorliegt und ob er ursächlich auf die im Jahre 1954 anerkannten Schädigungsfolgen in dem Sinne zurückzuführen ist, daß diese sich verschlimmert und den Leberschaden gezeitigt haben. Derartige Feststellungen zu treffen, ist dem Senat verwehrt. In diesem Zusammenhang ist dann auch noch zu klären, ob der Kläger sein Recht auf Anhörung des Dr. B gemäß § 109 SGG durch das früher erstattete Gutachten des Facharztes Dr. S verloren hat. In dieser Hinsicht hat das LSG ebenfalls Ausführungen nur nebenbei gemacht. Es wird darauf ankommen, ob das Gutachten des Dr. S als erschöpfend oder fehlerhaft angesehen werden kann, um dann über den neuen Antrag, Dr. B zu hören, entscheiden zu können.
Demgemäß war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 und 165 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen