Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufige Rente. Rentenbescheid. Zustellungsmangel
Orientierungssatz
Die Entziehung einer vorläufig gewährten Unfallrente ist nicht deshalb rechtsunwirksam, weil der die Entziehung aussprechende Rentenbescheid nicht den nach VwZG § 4 Abs 2 vorgeschriebenen Aktenvermerk trägt. Selbst wenn ein Mangel dieser Art vorliegt, greift die Zustellungsfiktion des VwZG § 9 Abs 1 ein, mit der Folge, daß ein solcher Rentenbescheid als zugestellt gilt.
Normenkette
VwZG § 4 Abs. 2, § 9 Abs. 1; RVO § 622 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 16.07.1971) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 09.03.1970) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Juli 1971 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte stellte die wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Dezember 1967 dem Kläger in Höhe von 20 v. H. der Vollrente gewährte vorläufige Rente durch Bescheid vom 16. Oktober 1969 mit Ablauf des darauffolgenden Monats ein und versagte die Bewilligung einer Dauerrente mangels Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grad. Auf der Urschrift des Bescheides ist eine durch das Postamt ausgestellte Bescheinigung über die Einlieferung einer Einschreibsendung mit dem Datumstempel der Post vom 17. Oktober 1969 aufgeklebt. Auf dieser Bescheinigung ist das Aktenzeichen der den Kläger betreffenden Akten der Beklagten vermerkt. Im übrigen enthalten diese Akten keinen dienstlichen Vermerk der Beklagten, an welchem Tag der Bescheid zur Post gegeben worden ist.
Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat durch Urteil vom 9. März 1970 die mit Schreiben vom 20. Oktober 1969 eingelegte, am darauffolgenden Tag eingegangene Klage mit der Begründung abgewiesen, daß der Kläger durch Unfallfolgen nicht in rentenberechtigendem Grad in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei.
Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 16. Juli 1971 unter Aufhebung der Entscheidung des Erstgerichts und des Bescheides der Beklagten diese verurteilt, dem Kläger vom 1. Dezember 1969 an Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren.
Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Bescheid vom 16. Oktober 1969 sei nicht rechtswirksam zugestellt, denn es fehle der nach § 4 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorgeschriebene Vermerk, an welchem Tag die Einschreibsendung mit der für den Kläger bestimmten Bescheidausfertigung zur Post gegeben worden sei. Wegen Verstoßes gegen diese für die Zustellung - als die Beurkundung eines tatsächlichen Vorgangs - vorgeschriebene Förmlichkeit sei nicht nur die Zustellung des Bescheides, sondern dieser selbst rechtsunwirksam. Fehle - wie hier - der vorgeschriebene Vermerk über den Zeitpunkt der Aufgabe der Einschreibsendung bei der Post, lasse sich der Ablauf der Klagefrist nicht feststellen, denn für die Bestimmung des Tages, an dem der Bescheid nach § 4 Abs. 1 VwZG als zugestellt gelte, sei allein der Zeitpunkt maßgebend, welcher in dem nach § 4 Abs. 2 VwZG erforderlichen Vermerk niedergelegt sei. Der auf der Urschrift des Bescheides aufgeklebte Posteinlieferungsschein könne somit diesen Vermerk nicht ersetzen. Im Hinblick auf § 9 Abs. 2 VwZG sei die fehlerhafte Zustellung des Bescheides nicht heilbar, weil durch die Zustellung die Klagefrist habe in Lauf gesetzt werden sollen. Daher sei nicht entscheidend, daß der Kläger, wie sich daraus ergebe, daß er Klage erhoben habe, den Bescheid tatsächlich erhalten habe. Da der - hier fehlende - Vermerk nach § 4 Abs. 2 VwZG Rechtswirksamkeitsvoraussetzung sei, sei die dem Kläger bewilligte vorläufige Rente nach § 622 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu einer Dauerrente geworden. Diese könne frühestens nach Ablauf eines weiteren Jahres entzogen werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel mit der Begründung eingelegt, daß durch das Aufkleben des Posteinlieferungsscheins auf der Urschrift des Bescheides dem § 4 Abs. 2 VwZG genügt worden sei.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des LSG zutrifft, daß der Bescheid vom 16. Oktober 1969 gegenüber dem Kläger keine Rechtswirkungen erlangt habe, weil der nach § 4 Abs. 2 VwZG vorgeschriebene Aktenvermerk fehle. Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob - wie die Beklagte meint - diese Vorschrift dadurch eingehalten worden ist, daß der Posteinlieferungsschein auf die Urschrift des Bescheides aufgeklebt worden ist. Selbst wenn ein Mangel in der Zustellung des Bescheides vorliegen sollte, gilt dieser nach § 9 Abs. 1 VwZG jedenfalls am 20. Oktober 1969 als zugestellt, da der Kläger spätestens an diesem Tag den Bescheid erhalten hat; sein Klageschriftsatz trägt dieses Datum und ist am darauffolgenden Tag beim SG eingegangen. § 9 Abs. 2 VwZG. wonach der Absatz 1 dieser Vorschrift u. a. nicht anzuwenden ist, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginnt, steht - entgegen der Auffassung des LSG - dem nicht entgegen. Diese Vorschrift hindert nur den Ablauf der hier genannten Fristen, beläßt es jedoch im übrigen bei dem sich aus § 9 Abs. 1 VwZG ergebenden Grundsatz, daß bei einem Zustellungsmangel das Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt gilt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (SozR Nr. 2 zu § 9 VwZG mit Nachweisen; siehe auch das heute gefällte Urteil des erkennenden Senats in der Sache 8/7 RU 78/70). Auf die Frage des Ablaufs der Klagefrist kommt es in der vorliegenden Sache indessen nicht an; diese Frist ist gewahrt. Hier geht es vielmehr darum, ob innerhalb zweier Jahre nach dem Unfall die Dauerrente festgestellt worden ist (§§ 1585 Abs. 2, 622 Abs. 2 RVO). Eine Rechtswirkung in diesem Sinn vermag auch ein Bescheid zu erzeugen, der nach § 9 Abs. 1 VwZG als zugestellt gilt (vgl. SozR Nr. 1 zu § 9 VwZG).
Da der Bescheid vom 16. Oktober 1969, durch den die erste Dauerrente - negativ - festgestellt worden ist (mit der Folge des Wegfalls der vorläufigen Rente), als rechtswirksam zugestellt gilt und dessen Zustellung geraume Zeit vor dem Ablauf der 2-Jahresfrist erfolgt ist, ist die dem Kläger bewilligte vorläufige Rente nicht nach § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO zur Dauerrente geworden. Das Berufungsgericht hätte deshalb entscheiden müssen, ob dieser Bescheid nach seinem Inhalt rechtmäßig ist. Diese Entscheidung kann der erkennende Senat selbst nicht treffen, weil das LSG die hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - nicht getroffen hat.
Deshalb war zu erkennen, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Fundstellen