Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorläufige Rente. Rentenbescheid. Zustellungsmangel

 

Orientierungssatz

Die Entziehung einer vorläufig gewährten Unfallrente ist nicht deshalb rechtsunwirksam, weil der die Entziehung aussprechende Rentenbescheid nicht den nach VwZG § 4 Abs 2 vorgeschriebenen Aktenvermerk trägt. Selbst wenn ein Mangel dieser Art vorliegt, greift die Zustellungsfiktion des VwZG § 9 Abs 1 ein, mit der Folge, daß ein solcher Rentenbescheid als zugestellt gilt.

 

Normenkette

VwZG § 4 Abs. 2 Fassung: 1957-07-03, § 9 Abs. 1 Fassung: 1957-07-03; RVO § 622 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.12.1970)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1970 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 13. Dezember 1968 eine vorläufige Teilrente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente wegen seines am 24. Januar 1968 erlittenen Arbeitsunfalls. Durch den Bescheid vom 23. Dezember 1969 entzog sie dem Kläger diese mit Ablauf des Monats Januar 1970 und lehnte die Gewährung einer Dauerrente (§ 1585 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -) ab, weil die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) einen rentenberechtigenden Grad nicht mehr erreiche.

Dieser Bescheid ist durch Einschreiben an den Kläger abgesandt worden. In den Akten der Beklagten ist nicht durch einen Aktenvermerk (siehe § 4 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - vom 3. Juli 1952 - BGBl I 379 -) festgestellt, an welchem Tag der Bescheid zur Post gegeben ist. Auf die Urschrift des Bescheides, die den Datumstempel vom 23. Dezember 1969 trägt, ist ein Posteinlieferungsschein geklebt, der einen Poststempel vom selben Tage und das Zeichen der Verwaltungsakten betreffend den Kläger enthält. Den - negativen - Dauerrentenbescheid erhielt der Kläger am 24. Dezember 1969.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Itzehoe am 4. Mai 1970 den Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, ab 24. Januar 1970 dem Kläger eine Dauerrente nach einer MdE um 30 v. H. zu gewähren. Die gewandelte Rechtsprechung des 2. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (siehe BSG 29, 73), wonach in Abweichung von BSG 24, 36 die Umwandlung der vorläufigen Rente in die Dauerrente kraft Gesetzes bei Zustellung des Entziehungsbescheides vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall verhindert wird, hält es mit Rücksicht auf den Wortlaut des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht für zutreffend.

Die zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch sein Urteil vom 11. Dezember 1970 zurückgewiesen. Mangels wirksamer Zustellung des - negativen - Dauerrentenbescheides sei die bisher gewährte vorläufige Rente eine Dauerrente geworden, die frühestens nach dem Ablauf eines weiteren Jahres und nicht bereits zum vorgesehenen Zeitpunkt hätte entzogen werden dürfen. Der Mangel der Zustellung ergebe sich aus dem Fehlen des nach § 4 Abs. 2 VwZG erforderlichen Vermerks, der eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Zustellung sei. Der mit der Urschrift des Bescheides verbundene Posteinlieferungsschein ersetze den erforderlichen Vermerk nicht. Diese Ordnungswidrigkeit der Zustellung sei nicht heilbar, weil nach § 9 Abs. 2 VwZG die Heilung eines Zustellungsmangels ausgeschlossen sei, wenn - wie hier - mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginne (BGH in LM Nr. 2 zu § 197 BEG; BFH in NJW 1970, 80).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, die Zustellung des Bescheides durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes könne nicht deshalb unwirksam sein, weil der nach § 4 Abs. 2 VwZG erforderliche Aktenvermerk nicht mit der Unterschrift oder dem Handzeichen des zuständigen Bediensteten versehen sei, sofern - wie hier - das Datum des Absendevermerks (Poststempel 23.12.1969) mit dem Datum des Posteinlieferungsscheins übereinstimme und zudem die Identität der zur Post gegebenen Briefsendung mit dem Bescheid durch das auf dem Posteinlieferungsschein vermerkte Aktenzeichen gesichert sei. Darüber hinaus sei § 4 Abs. 2 VwZG eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Nichtbeachtung die Wirksamkeit der Zustellung nicht berühre.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des SG Itzehoe vom 4. Mai 1970 und des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 11. Dezember 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des Urteils des LSG vom 11. Dezember 1970 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische LSG zurückzuverweisen.

Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend. Hilfsweise macht er geltend, daß anderenfalls nur eine Zurückverweisung des Rechtsstreits in Betracht komme, da die Vorinstanzen ungeprüft gelassen hätten, ob die Entziehung wegen Besserung der Unfallfolgen gerechtfertigt sei.

Die Beklagte hat durch den Bescheid vom 28. Dezember 1970 während des Revisionsverfahrens vorsorglich mit Ablauf des Monats Januar 1971 die Rente entzogen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete, durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sie ist auch insofern begründet, als der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der von der Beklagten erteilte Entziehungsbescheid vom 28. Dezember 1970 ist nicht gemäß § 171 Abs. 2 SGG Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden, weil er weder den Kläger klaglos stellt noch dem Klagebegehren durch die Entscheidung des Senats zum ersten Verwaltungsakt - dem Bescheid vom 23. Dezember 1969 - in vollem Umfange genügt wird.

Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß die aufgrund des Unfalls vom 24. Januar 1968 gewährte vorläufige Rente (§ 1585 Abs. 1 RVO) nur dann wirksam mit dem Bescheid vom 23. Dezember 1969 entzogen worden sein kann, wenn dieser Bescheid vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall - also vor Ablauf des 24. Januar 1970 - zugestellt worden ist. Ansonsten wäre die vorläufige Rente eine Dauerrente geworden, die frühestens nach Ablauf eines weiteren Jahres hätte geändert oder entzogen werden dürfen (vgl. § 622 Abs. 2 RVO).

Ob eine rechtsgültige Zustellung vorliegt, richtet sich nach den Vorschriften des VwZG vom 3. Juli 1952 (BGBl I 379). Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten u. a. für das Zustellungsverfahren bundesunmittelbarer Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1 VwZG), zu denen die Beklagte gehört (§ 1 Abs. 2 Satz 2 ihrer Satzung in der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1968). Nach § 1 Abs. 3 VwZG wird zugestellt, soweit dies durch Rechtsvorschrift oder behördliche Anordnung bestimmt ist. Dies ergibt sich für den im sog. förmlichen Feststellungsverfahren ergangenen (§ 1569 a Nr. 2, § 1583 Abs. 1 RVO) - negativen - Dauerrentenbescheid aus § 1585 Abs. 2, § 623 Abs. 2, § 1590 RVO. Diese Vorschriften setzen als selbstverständlich voraus, daß ein solcher Bescheid zugestellt wird.

Ob - wie das LSG meint - die mittels eingeschriebenen Briefes (§ 4 VwZG) durch die Post geschehene Zustellung des Bescheides fehlerhaft ist, weil der in § 4 Abs. 2 VwZG vorgesehene Aktenvermerk fehlt, kann dahinstehen. Ebenfalls offenbleiben kann, ob der in der Akte der Beklagten enthaltene Poststempel auf dem Bescheid (23.12.1969) möglicherweise - wie die Revision wohl meint - den an den Vermerk zu stellenden Anforderungen - jedenfalls in Verbindung mit dem Posteinlieferungsschein - genügt (so wohl BVerwG, DÖV 1972, 790) und somit eine ordnungsgemäße Zustellung gegeben ist; denn ein möglicher Fehler in der Zustellung gilt hier nach § 9 Abs. 1 VwZG als geheilt. Danach gilt ein nicht formgerecht zugestelltes Schriftstück - hier der Dauerrentenbescheid (negativ) - in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat, und dies war der 24. Dezember 1969. Dem steht § 9 Abs. 2 VwZG nicht entgegen. Zwar ist nach dieser Vorschrift die Heilung von Zustellungsmängeln ausgeschlossen, wenn - wie hier - mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginnt. Dies bedeutet aber nur, daß eine Heilung ausgeschlossen ist, soweit eine der in § 9 Abs. 2 VwZG genannten Fristen in Gang gesetzt wird. Durch den Ausschluß der Heilung eines Zustellungsmangels soll nur erreicht werden, daß die mit der Versäumung von Fristen verbundenen Nachteile eintreten, wenn die Zustellung fehlerhaft war. Diese Auslegung des Gesetzes legt bereits die Motive des Gesetzgebers nahe. Seinen Vorstellungen zufolge sollte mit § 9 VwZG der Rechtsgedanke des § 187 der Zivilprozeßordnung (ZPO) auch im Bereich des VwZG gelten (vgl. BR-Drucks. 660/51 zu § 10 des Entwurfs des VwZG; BT-Drucks. I/2963 zu § 10 aaO). Da nach § 187 Satz 2 ZPO die Heilung eines Zustellungsmangels ausgeschlossen ist, "soweit durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden soll", ist auch bei § 9 Abs. 2 VwZG hiervon auszugehen. Im Anschluß an das Urteil des 2. Senats des BSG in SozR Nr. 2 zu § 9 VwZG sieht auch der erkennende Senat den inneren Grund für die Regelung des § 9 Abs. 2 VwZG darin, daß die Zustellung nur den Zeitpunkt des Fristbeginns genau festlegen soll. Darüber hinaus besteht kein Anlaß, dem Mangel des Zustellungsaktes eine weitergehende Wirkung zu geben, wenn - wie hier - der Empfang des Bescheides nachgewiesen ist.

Mit dieser Rechtsprechung zu § 9 Abs. 2 VwZG steht der erkennende Senat - wie auch der 2. Senat des BSG - nicht in Widerspruch zu der vom LSG angezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH - (LM Nr. 2 zu § 197 BEG). In dem dort entschiedenen Fall war zu prüfen, ob trotz der Verletzung einer Zustellungsvorschrift die Frist zur Erhebung der Klage in Lauf gesetzt worden ist. Dies hat der BGH unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 VwZG verneint (vgl. LM Nr. 2 aaO - Bl. 49 Rs -). Diese Frage ist hier - wie ausgeführt - nicht Gegenstand des Rechtsstreits; denn die Klagefrist ist gewahrt. Demnach kann schon aus diesem Grunde die Entscheidung des BGH (aaO) nicht entgegenstehen. Dies gilt ebenfalls für das vom LSG zur Stützung seiner Ansicht angezogene Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) in NJW 1970, 80 = BFH 95, 419 ff. Auch dort ging es um die hier nicht einschlägige Frage der Wahrung einer Klagefrist.

Der negative Dauerrentenbescheid ist somit wirksam zugestellt. Seine Zustellung liegt auch innerhalb der in § 622 Abs. 2 RVO bestimmten Zweijahresfrist, so daß die bisher gewährte vorläufige Rente nicht kraft Gesetzes zu einer - noch nicht entziehbaren - Dauerrente geworden ist.

Zwar könnte im Hinblick auf § 4 Abs. 1 VwZG fraglich sein, ob bei einer nach § 9 Abs. 1 VwZG geheilten Zustellung als Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit stets der Zeitpunkt des nachgewiesenen Empfangs des Schriftstücks zu gelten hat, wenn bei einer ordnungsgemäßen Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes ein späterer Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit sich ergeben hätte. Dies kann aber hier dahinstehen. Selbst wenn entsprechend § 4 Abs. 1 VwZG dem Tag des nachgewiesenen Empfangs als dem zugleich spätest möglichen Tag der Aufgabe des Bescheides zur Post drei Tage hinzugerechnet werden, ist der Bescheid ebenfalls noch vor Ablauf der Zweijahresfrist - dem 24. Januar 1970 - zugestellt worden.

Entgegen der Ansicht des SG ist durch die nach der Zweijahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO wegen Ablaufs des Schutzmonats (§ 623 Abs. 2 RVO) erst wirksam gewordene negative Feststellung der Dauerrente die Umwandlung der vorläufigen Rente in einer Dauerrente (§ 622 Abs. 2 Satz 1 RVO) nicht bewirkt worden. Denn der vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zugestellte negative Dauerrentenbescheid verhindert die Umwandlung der bisher gewährten vorläufigen Rente in eine Dauerrente kraft Gesetzes, wie das BSG unter Aufgabe seines gegenteiligen Standpunktes (BSG 24, 36) mit eingehender Begründung entschieden hat (vgl. BSG 29, 73, 74 bis 76). Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, von dieser nunmehr gewandelten Rechtsprechung abzugehen.

Nach allem ordnet der angefochtene Bescheid die Entziehung der Rente mit Ablauf des Monats Januar 1970 wirksam an. Somit bleibt zu prüfen, ob materiell-rechtlich die Rentenentziehung gerechtfertigt war, weil die Unfallfolgen einen rentenberechtigten Grad der MdE nicht mehr erreichen. Dies kann auf Grund fehlender Feststellungen des LSG, die das BSG nicht selbst nachholen darf (§ 163 SGG), nicht entschieden werden. Deshalb war das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen, damit das LSG die nunmehr erforderlichen Feststellungen nachholt.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648754

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