Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenbeihilfe. Berufsschadensausgleich. Funktion des Antrages
Leitsatz (amtlich)
Die gesetzliche Vermutung, daß auch die Hinterbliebenenversorgung beeinträchtigt ist, wenn der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf Berufsschadensausgleich hatte, hängt nicht von einem Antrag auf diese Leistung ab, falls der erforderliche Einkommensverlust veröffentlichten Tabellen entnommen werden kann (Ergänzung zu BSG vom 27.1.1987 9a RV 38/85 und 9a RV 6/86 = SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16).
Normenkette
BVG § 48 Abs 1 S 1, § 48 Abs 1 S 2 Halbs 1, § 30 Abs 3, § 30 Abs 5 S 1 Fassung: 1981-11-20
Verfahrensgang
SG Konstanz (Entscheidung vom 07.12.1988; Aktenzeichen S 8 V 648/88) |
Tatbestand
Die Klägerin beantragte im Juni 1987 Witwenversorgung nach ihrem 1917 geborenen, im Mai 1987 verstorbenen Ehemann. Ein Rechtsanspruch auf Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist abgelehnt worden (Bescheid vom 24. November 1987, Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 1988). Streitig ist noch eine Witwenbeihilfe. Der Ehemann hatte Beschädigtenrente wegen Schädigungsfolgen entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 vH bezogen (Bescheide vom 16. März 1964 und 9. Juli 1968). Vor dem Wehrdienst war er Dienstknecht in einer Bäckerei und Landwirtschaft sowie Holzfäller, nach dem Krieg bis 1952 Arbeiter in einer Furniergroßhandlung, sodann Postfacharbeiter und ab 1960 Postbeamter des einfachen Dienstes; seit Mai 1967 war er wegen Schlaganfallfolgen im Ruhestand. Der Beklagte lehnte eine Witwenbeihilfe ab, weil der Ehemann nicht durch Schädigungsfolgen gehindert gewesen sei, als Postbeamter voll zu arbeiten, weil keine höhere Hinterbliebenenversorgung bei weiterer Tätigkeit als Landarbeiter zu erwarten gewesen wäre, diese Versorgung nur um 1,55 vH gemindert und ein Berufsschadensausgleich nie beantragt worden sei (Bescheid vom 25. November 1987, Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1988). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, Witwenbeihilfe ab 1. Juni 1987 zu gewähren (Urteil vom 7. Dezember 1988). Zwar sei die Hinterbliebenenversorgung der Klägerin nicht durch Auswirkungen der Schädigungsfolgen um den gesetzlichen Mindestbetrag des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG beeinträchtigt. Aber dem Ehemann habe wenigstens fünf Jahre lang ein Berufsschadensausgleich zugestanden, und dies ersetze jene Voraussetzung (Satz 2 Halbsatz 1). Das Vergleichseinkommen in dem ohne die Schädigung erreichten Beruf eines angelernten Arbeiters in der Wirtschaft habe Jahrzehnte hinweg die Besoldung im einfachen Beamtendienst übertroffen. Ein Antrag auf Berufsschadensausgleich sei für diesen Ersatztatbestand, eine unwiderlegbare Rechtsvermutung, nicht erforderlich gewesen.
Der Beklagte rügt mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 2 BVG. Ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich iS dieser Vorschrift habe einen Antrag vorausgesetzt; einen solchen habe der Verstorbene zu Lebzeiten nie gestellt. Der Vermutungstatbestand könne mit dem Bundessozialgericht (BSG) allenfalls dann als erfüllt angesehen werden, wenn ein Antrag auf Berufsschadensausgleich nicht für die gesamte Dauer von fünf Jahren, wohl aber überhaupt gestellt worden sei und es sich aufdrängen müsse, daß die sonstigen Voraussetzungen wenigstens für jene Zeit gegeben gewesen seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des SG vor allem deshalb für überzeugend, weil die Verwaltung nicht etwa einen Berufsschadensausgleich an sie zahlen müsse.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat ihn mit Recht verurteilt, der Klägerin Witwenbeihilfe zu gewähren.
Die Voraussetzung des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG (idF vom 22. Januar 1982 - BGBl I 21 -/4. Juni 1985 - BGBl I 910 -), daß die Hinterbliebenenversorgung der Klägerin in einer Mindesthöhe durch berufliche Auswirkungen der Schädigung des Ehemannes beeinträchtigt sein müßte, ist unstreitig nicht gegeben. Diese Voraussetzung "gilt" aber für die Klägerin, die Witwe eines Schwerbeschädigten, nach dem dritten Fall des Satzes 2 Halbsatz 1 deshalb "als erfüllt", weil der Beschädigte "mindestens fünf Jahre Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich wegen eines Einkommensverlustes iS § 30 Abs 4 hatte". Dafür genügte ein schädigungsbedingter Einkommensverlust iS des § 30 Abs 3 BVG, dh nach Abs 4 aF (Abs 5 Satz 1 idF des 11. Anpassungsgesetzes-KOV vom 20. November 1981 - BGBl I 1199 -) ein Unterschied zwischen dem tatsächlichen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit und dem höheren Durchschnittseinkommen (Vergleichseinkommen) in der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung wahrscheinlich angehört hätte. Ein solcher Einkommensverlust bestand beim Ehemann der Klägerin mindestens über fünf Jahre, wobei von der Vergleichstätigkeit als angelernter Arbeiter (Leistungsgruppe 2) in der Wirtschaft auszugehen ist. Dies hat das SG verbindlich für das Revisionsgericht festgestellt (§§ 163, 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die Durchschnittseinkünfte der genannten Arbeitergruppe werden laufend veröffentlicht. Entsprechend den tatsächlichen Feststellungen über den ausgeübten und über den wahrscheinlich ohne die Schädigung erreichten Beruf lassen sich die maßgebenden Einkommensbeträge und damit der rechtserhebliche Einkommensverlust ebenfalls veröffentlichten Einkommenstabellen entnehmen. Als Bruttoeinkommen galt seit dem nicht schädigungsbedingten Übertritt in den Ruhestand (1967) anstelle des tatsächlichen Einkommens das Durchschnittseinkommen der bis dahin erreichten Berufsgruppe, dh eines Beamten des einfachen Dienstes. Für die unwiderlegbare Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG brauchte, wie das SG zutreffend entschieden hat, bei dieser Sachlage ein Berufsschadensausgleich nicht tatsächlich gezahlt und nicht einmal beantragt worden zu sein.
Wenn auch ein Anspruch auf Versorgung nach dem BVG nach § 1 Abs 1 des Gesetzes von einem Antrag abhängt, so braucht in diesem Zusammenhang mit § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG nicht entschieden zu werden, ob jede einzelne verlangte Versorgungsleistung (§ 9 BVG) und damit auch ein Berufsschadensausgleich gesondert beantragt worden sein muß, damit ein "Anspruch" entsteht. Für einen "Anspruch auf Berufsschadensausgleich" iS des bezeichneten Ersatztatbestandes, von dem eine Witwenbeihilfe abhängt, genügen grundsätzlich die zuvor genannten beruflichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die beim Ehemann der Klägerin wenigstens fünf Jahre lang gegeben waren (BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16; Urteil vom 25. Mai 1988 - 9/9a RV 56/86 -). Die Klägerin begehrt gerade nicht als Rechtsnachfolgerin nach dem Tod ihres Ehemannes rückwirkend einen Berufsschadensausgleich für ihn, wofür ein darauf gerichteter Antrag unerläßlich sein könnte. Als Voraussetzung für die verlangte Witwenbeihilfe ist die unwiderlegbare Rechtsvermutung, daß eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Beruf, die einen schädigungsbedingten Einkommensverlust bewirkte, auch zu einem wirtschaftlichen Nachteil in der Hinterbliebenenversorgung führt, entsprechend ihrem Zweck allein von jenem beruflichen Schaden iS des § 30 Abs 3 und 4 BVG abhängig. Dieser muß aber klar zu erkennen sein. Der Senat hat die Rechtsvermutung als Mittel der Beweiserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung bisher auch dann gelten lassen, wenn sich trotz Ablehnung eines Berufsschadensausgleichs aufdrängen muß, daß die bezeichneten Voraussetzungen über fünf Jahre lang gegeben waren (aaO, bes SozR 3100 § 48 Nr 16). Im Fall der Klägerin kann - über die bisherigen Entscheidungen des Senats hinaus - auf einen Antrag überhaupt verzichtet werden, weil der Einkommensverlust in der beschriebenen Weise offenkundig ist und weil die wesentlichen Funktionen des Antrages hier ohne Bedeutung sind. Wenn der Antrag den Leistungsbeginn bestimmt, dann ist dies allgemein für die Voraussetzung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG belanglos; denn ein Berufsschadensausgleich wird nicht begehrt. Der andere Zweck, ein Verwaltungsverfahren in Gang zu setzen und damit die notwendige Sachaufklärung zu veranlassen, ist hier deshalb nicht bedeutsam, weil die beruflichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, wie schon dargelegt, teils unstreitig, teils nach veröffentlichten Tabellen offenkundig sind.
Die Schutzfunktion des Antragserfordernisses (vgl dazu BSGE 61, 180, 182 f = SozR 3100 § 19 Nr 17; BSGE 63, 204, 206 = SozR 3100 § 19 Nr 19; zum Schwerbehindertenrecht: BSGE 60, 11 = SozR 3870 § 3 Nr 21) ist hier gegenstandslos, wo es um die wirtschaftliche Entschädigung für die Witwe eines Beschädigten geht, dessen Einkommensverhältnisse aus veröffentlichten Tabellen zu erkennen sind. Damit erübrigt sich auch eine Entscheidung darüber, ob die Verwaltung, wie die Klägerin meint, ihren Ehemann nach Eröffnung des Berufsschadensausgleichs für alle Schwerbeschädigten im Jahr 1964 oder spätestens nach dem Inkrafttreten der Rechtsvermutung im Jahr 1976 auf jene Leistung hätte hinweisen müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen