Leitsatz (amtlich)
Der Annahme, daß mindestens fünf Jahre ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich als Voraussetzung für eine Witwenbeihilfe bestanden hat, steht nicht entgegen, daß der Beschädigte jene Leistung erst kurz vor seinem Tod beantragt hatte. Dies gilt allerdings nur, wenn es sich der Verwaltung aufdrängen muß, daß alle tatsächlichen Voraussetzungen bereits mindestens insgesamt fünf Jahre lang vor dem Tod gegeben waren (Anschluß an BSG 27.1.1987 9a RV 38/85).
Normenkette
BVG § 48 Abs 1 S 2 Halbs 1 Alt 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.11.1985; Aktenzeichen L 07 V 0151/85) |
SG München (Entscheidung vom 05.02.1985; Aktenzeichen S 39 V 2266/84) |
Tatbestand
Die Klägerin beantragte im Dezember 1978 Witwenversorgung nach ihrem in diesem Monat im Alter von 57 Jahren verstorbenen Ehemann (Sch.). Er hatte Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Folgen eines Schußbruches am rechten Unterschenkel sowie einer Schädel- und Hirnverletzung entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH bezogen. Anfang November 1978 hatte er eine Neufeststellung wegen weiterer Schädigungsfolgen an der Wirbelsäule und an den Hoden sowie einen Berufsschadensausgleich beantragt. Den Antrag wegen zusätzlicher Schädigungsfolgen lehnte das Versorgungsamt gegenüber der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ab (Bescheid vom 18. Januar 1979, Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 1980); die Klägerin nahm ihre dagegen gerichtete Klage zurück. Für die Zeit ab 1. November 1978 gewährte die Verwaltung der Rechtsnachfolgerin einen Berufsschadensausgleich entsprechend dem Vergleichseinkommen eines technischen Angestellten der Leistungsgruppe III in der fleischverarbeitenden Industrie und eine höhere Rente wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit entsprechend einer MdE um 80 vH (Bescheid vom 15. Mai 1984). Der Verstorbene war als Metzger ausgebildet worden und mit kriegsbedingter Unterbrechung bis Februar 1948 in diesem Beruf beschäftigt gewesen, danach als Hilfsarbeiter, ua als Beifahrer, als Brauereiarbeiter und ab 1971 als Bürobote im öffentlichen Dienst. Das Versorgungsamt lehnte eine Witwenrente kraft Rechtsanspruches (§ 38 BVG) und eine Witwenbeihilfe (§ 48 BVG) ab (Bescheid vom 1. Juni 1984, Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 1984). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin eine "nicht unerhebliche" Minderung des Einkommens iS des § 48 BVG festzustellen und ihr ab 1. Januar 1979 dem Grunde nach Witwenbeihilfe zu gewähren (Urteil vom 5. Februar 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 1985). Nach Auffassung des Gerichts fehlt es für einen Anspruch auf Witwenbeihilfe an einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung durch eine schädigungsbedingte Erwerbseinschränkung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG; die fiktive Versorgung der Klägerin, die einer ohne Schädigungsauswirkungen ausgeübten Erwerbstätigkeit entspräche, sei im Verhältnis zur tatsächlichen Rentenhöhe nur um 10,98 vH gemindert. Witwenbeihilfe könne die Klägerin auch nicht aufgrund der "Fiktion" des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG erhalten, die darauf beruhe, daß der Verstorbene mindestens fünf Jahre lang einen Zahlungsanspruch auf Berufsschadensausgleich gehabt haben müßte. Vor November 1978 habe dafür ein Antrag als unabdingbare Voraussetzung gefehlt. Obwohl, abgesehen davon, unstreitig der Beschädigte seit Jahrzehnten einen Berufsschadensausgleich hätte erhalten können, könne eine Witwenbeihilfe nach der Verwaltungspraxis des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auch nicht als Härteausgleich nach § 89 BVG gewährt werden.
Die Klägerin rügt mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision eine unrichtige Auslegung der dritten Alternative des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG. Der Verstorbene habe mindestens fünf Jahre lang einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich gehabt. Die Leistung brauche nicht festgestellt gewesen zu sein. Ein Antrag sei wegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht erheblich gewesen. Die Verwaltung hätte kraft ihrer Betreuungspflicht dem Beschädigten raten müssen, einen solchen Antrag zu stellen, zumal er als Hirnverletzter Sonderfürsorgeberechtigter gewesen sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG, soweit es die Witwenbeihilfe betraf, zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung war er nicht offensichtlich zur Betreuung dahin verpflichtet, einen Antrag auf Berufsschadensausgleich anzuregen. Außerdem könne die unwiderlegbare Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG, eine Beweiserleichterung, nicht durch einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzt werden, zumal dann nicht, wenn - wie hier - der Grundtatbestand des Satzes 1 unstreitig nicht erfüllt sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist erfolgreich. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG, das der Klage auf Witwenbeihilfe stattgegeben hat, ist zurückzuweisen.
Allerdings kann die Klägerin entgegen der Begründung des SG-Urteils eine Witwenbeihilfe nicht allein nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG (in den hier ab Januar 1979 maßgebenden Fassungen vom 22. Juni 1976 -BGBl I 1633-/10. August 1978 -BGBl I 1217-/ 23. Juni 1986 -BGBl I 915-) beanspruchen. Das ist kein Streitgegenstand der Revision. Aber die erstinstanzliche Entscheidung ist bei sinnvoller Auslegung der Urteilsformel im Ergebnis zu bestätigen. Während die Feststellung des letzten Gliedes der Anspruchsvoraussetzungen - nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung - überflüssig ist, durfte der Klägerin dem Grunde nach (§ 130 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) Witwenbeihilfe zugesprochen werden; denn jene in § 48 Abs 1 Satz 1 BVG genannte Voraussetzung "gilt" nach dem dritten Fall des Satzes 2 Halbsatz 1 dadurch als erfüllt, daß "der Beschädigte im Zeitpunkt seines Todes ... mindestens fünf Jahre Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich wegen eines Einkommensverlustes iS des § 30 Abs 4 hatte".
Dieser Tatbestand erfordert nicht, daß der Verstorbene eine solche Versorgungsleistung mindestens fünf Jahre lang tatsächlich bezogen haben muß; sie muß auch nicht wenigstens im Zeitpunkt des Todes durch einen Verwaltungsakt zuerkannt gewesen sein. Wohl müssen die gesetzlichen Voraussetzungen klar erkennbar bestanden haben, wie es hier der Fall war (§ 40 Abs 1, § 41 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - -SGB I- vom 11. Dezember 1975 -BGBl I 3015-; BSG SozR 3100 § 48 Nr 13 aE unter Hinweis auf das den Pflegezulagetatbestand betreffende Urteil in SozR 3100 § 48 Nr 7). Falls der Gesetzgeber § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG anders verstände, hätte er dies ähnlich wie in § 38 Abs 1 Satz 2 BVG ausgedrückt. Nach dieser Vorschrift gilt der Tod als Folge einer Schädigung mit der Rechtsfolge des Hinterbliebenenrentenanspruches nach Satz 1 stets dann, "wenn ein Beschädigter an einem Leiden stirbt, das als Folge einer Schädigung rechtsverbindlich anerkannt und für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war". Der Annahme eines mindestens fünfjährigen Anspruchs auf Berufsschadensausgleich iS des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG steht in Fällen wie dem gegenwärtigen nicht entgegen, daß der Beschädigte diese Leistung erst kurz vor seinem Tod - hier im November 1978 - beantragt hatte, worauf sie ihm lediglich für die Zukunft zuerkannt worden war. Das gilt allerdings nur, wenn sich der Verwaltung aufdrängen muß, daß alle tatsächlichen Voraussetzungen bereits mindestens fünf Jahre lang vor dem Tod gegeben waren. So war es hier. Jener Grundsatz und diese Einschränkung ergeben sich bei sinnvoller Auslegung der genannten Bestimmung, wenn vor allem der Zweck des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG und die Bedeutung des Antrages, die ihm in diesem Zusammenhang zukommt, beachtet werden.
§ 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG läßt einen Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich die unwiderlegbare Rechtsvermutung begründen ("gilt"), daß ein gesundheitlicher Schaden des Beschädigten iS des § 1 Abs 1 bis 3 Satz 1 BVG zu wirtschaftlichen Nachteilen im Beruf gemäß § 30 Abs 3 ff BVG geführt hat und daß damit der Grundtatbestand des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG - Erwerbsbeschränkung und entsprechend geminderte Hinterbliebenenversorgung - erfüllt hat. Da diese Folge in der Regel nach allgemeiner Erfahrung zu erwarten ist, mindestens aber möglich ist, handelt es sich bei der Regelung nicht um eine Fiktion (wie in SozR 3100 § 48 Nr 6 und hier auch vom LSG angenommen; vgl dazu Stein/Jonas/Leipold, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl 1985, § 292, Rz 5). Ein Sachverhalt, der die Voraussetzung für einen Berufsschadensausgleich schafft, rechtfertigt die Vermutung, daß er die spätere Hinterbliebenenversorgung erheblich beeinträchtigt hat (BSG SozR 3100 § 48 Nr 4 S 7; 3100 § 48 Nr 6 S 13; 3100 § 48 Nr 13 S 36 f; Rundschreiben des BMA vom 10. Juli 1976, Bundesversorgungsblatt -BVBl- 1976, S 98 Nr 51; vgl auch BSGE 53, 169, 172 = SozR 3100 § 48 Nr 8). Als § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG in der geltenden Fassung durch Art 2 § 1 Nr 5 Buchstabe a Haushaltsstrukturgesetz-Arbeitsförderungsgesetz (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) geschaffen wurde, gaben die Gesetzgebungsorgane nicht zu verstehen, welchen Sinn diese Bestimmung haben sollte (Begründung zu Art 22 § 1 Nr 4 des Entwurfes des Haushaltsstrukturgesetzes -BR-Drucks 575/75, S 55 f-, woraus das HStruktG-AFG entnommen wurde, vgl BR-Drucks 739/75 = BT-Drucks 7/4359; BR-Drucks 740/75 = BT-Drucks 7/4372). Gleichwohl ist erkennbar mit dieser Rechtsvermutung eine Beweiserleichterung in jenem Sinn zur Vereinfachung für die Verwaltung geschaffen worden (BSG SozR 3100 § 89 Nr 8). Diese kommt zum Tragen, wenn - wie hier - die Versorgungsverwaltung aufgrund eines Antrages die notwendige Sachaufklärung mit einem für den Beschädigten günstigen Ergebnis betrieben hat. Die Rechtsvermutung erstreckt sich dann auch auf eine Zeit vor dem Antrag, falls die beruflichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Berufsschadensausgleich bereits zuvor klar erkennbar gegeben waren und auch von der Verwaltung nicht in Frage gestellt werden. Insoweit ist hier die Sachlage anders als in dem Fall, den das in SozR 3100 § 89 Nr 8 veröffentlichte Urteil betraf. Die Lage, daß sich der Verwaltung aufgrund der ohnehin vorgenommenen Aufklärung die Annahme aller tatsächlichen Voraussetzungen für eine hinreichend lange Zeit vor dem Antrag aufdrängen muß, rechtfertigt ebenso eine Witwenbeihilfe wegen des rückwirkend festzustellenden dritten Falles des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG, wie wenn sich die Unrichtigkeit einer früheren Versagung eines Berufsschadensausgleichs aufdrängen muß (Urteil des Senats vom 27. Januar 1987 - 9a RV 38/85 -).
Die Voraussetzungen eines Berufsschadensausgleichs für den Ehemann der Klägerin waren insgesamt mindestens fünf Jahre lang klar erkennbar gegeben. Das LSG hat dies als "unstreitig" bezeichnet, ohne abschließend über einen solchen Anspruch zu entscheiden, hat aber die erforderlichen Tatsachen festgestellt. Demnach war das Durchschnittseinkommen in dem maßgebenden Beruf eines technischen Angestellten der Leistungsgruppe III in der fleischverarbeitenden Industrie ab Ende 1973 fünf Jahre lang vor dem Tod des Ehemannes höher als das tatsächliche Bruttoeinkommen aus der Botentätigkeit im öffentlichen Dienst mit den Vergütungsgruppen X, ab Januar 1977 IXa und ab 15. März 1978 IX BAT, wie es für die Angestelltenversicherungsrente ermittelt worden ist (§ 30 Abs 3 und 4 BVG in den in den Jahren 1973 bis 1978 maßgebenden Fassungen des 4. AnpG-KOV vom 24. Juli 1972 -BGBl I 1284- bis zum 9. AnpG-KOV vom 27. Juni 1977 -BGBl I 1037-; § 30 Abs 4 Satz 1 BVG iVm §§ 9 und 10 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 5 BVG vom 28. Februar 1968 -BGBl I 194-/11. April 1974 -BGBl I 927/18. Januar 1977 -BGBl I 162-; Tabellen über die statistischen Durchschnittseinkommen in BVBl 1973, 90, 95 f; 1974, 84, 91; 1975, 82 f, 89; 1976, 98, 103; 1977, 81, 89). Der Anspruch bestand auch, was außerdem erforderlich ist (BSG SozR 3100 § 48 Nr 6), durchgehend mit einem Mindestzahlbetrag.
Der Versorgungsantrag, von dem der Anspruch grundsätzlich abhängt (§ 1 Abs 1, § 9 BVG; BSG SozR 3100 § 89 Nr 2 und 8; 3100 § 35 Nr 1; 3100 § 48 Nr 7), hat in diesem Zusammenhang zweifache Bedeutung: Er soll ein Verwaltungsverfahren in Gang setzen (§§ 8 ff Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - -SGB X- vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-), insbesondere die notwendige Sachaufklärung veranlassen (§§ 20 ff SGB X; früher §§ 12 ff KOVVfG vom 2. Mai 1985 -BGBl I 202-/6. Mai 1976 -BGBl I 1169-). Ein solches Verfahren, das zu einer Entscheidung über einen Berufsschadensausgleich führen soll, hat hier aber stattgefunden. Die Verwaltung hat sich mit der Aufklärung darüber befaßt, ob die beruflichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des § 30 Abs 3 und 4 BVG aF beim Ehemann der Klägerin gegeben waren, und das Ergebnis dieser Ermittlungen läßt sich unschwer auf die Zeit vor dem Antrag für insgesamt fünf Jahre erstrecken. Die außerdem dem Antrag zukommende Wirkung, den Leistungsbeginn zu bestimmen (§§ 60 und 61 BVG), steht der Auslegung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG zugunsten der Klägerin ebenfalls nicht entgegen. Die Verwaltung wird nicht mit einer rückwirkenden Zahlung von Berufsschadensausgleich für die Zeit vor dem auf diese Leistung gerichteten Antrag an die Rechtsnachfolgerin belastet.
Bei dieser Sachlage ist die vorstehende Auslegung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG als verfassungskonform geboten. Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz) besteht im Hinblick auf den dargelegten Zweck der Rechtsvermutung kein sachlich einleuchtender Grund, den gegenwärtigen Fall allein mangels eines Antrages vor November 1978 anders zu behandeln als den typischen Fall, daß dem Beschädigten ein Berufsschadensausgleich für mindestens fünf Jahre zuerkannt worden war, oder als den Fall, daß ein Antrag fünf Jahre vor dem Tod gestellt worden war und daß ihm bei sachgerechter Beurteilung hätte stattgegeben werden müssen.
Damit erübrigt es sich, auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zurückzugreifen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen