Entscheidungsstichwort (Thema)
Bescheiderteilung nach Zuständigkeitswechsel. Gegenstand des Verfahrens
Leitsatz (amtlich)
Wird ein Rentenantrag - auch bei laufendem Streitverfahren - erkennbar zur Einleitung eines neuen Verwaltungsverfahrens auf Grund eines neuen Sachverhalts gestellt, gilt für dieses Verfahren die Zuständigkeit nach § 1630 Abs 2 RVO.
Orientierungssatz
Die gesetzliche Zuständigkeitsregelungen für das Verwaltungsverfahren werden durch das Prozeßrecht nicht berührt; sie richten sich allein nach dem Verwaltungsrecht (§ 1630 Abs 2 RVO). Dieses schließt einen Zuständigkeitswechsel nicht aus; die von dem zuständig gewordenen Leistungsträger erteilten Bescheide werden lediglich nach § 96 SGG Gegenstand eines bereits anhängigen Rechtsstreites.
Normenkette
RVO § 1630 Abs 2 Fassung: 1924-12-15; SGG § 96 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.06.1979; Aktenzeichen L 3 J 349/75) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 13.08.1975; Aktenzeichen S 6 J 7/75) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Der im Jahre 1939 geborene Kläger hat den Beruf eines Einzelhandelskaufmanns erlernt und bis 1958 ausgeübt. Danach arbeitete er ab 1959 zwei Monate als Kellner. Im Anschluß daran war er als Gastronomiekaufmann selbständig tätig.
Im Februar 1974 beantragte er die Gewährung der Versichertenrente. Der Rentenantrag wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 24. Oktober 1974 abgelehnt. Dieser Bescheid wurde am 31. Oktober 1974 als Einschreibsendung zur Post gegeben und dem Postbevollmächtigten des Klägers ausgehändigt. Die hiergegen am 7. Januar 1975 erhobene Klage wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Schleswig vom 13. August 1975 wegen Fristversäumnis als unzulässig abgewiesen. Während des Klageverfahrens wiederholte der Kläger mit Schriftsatz vom 18. Februar 1975 den früher gestellten Rentenantrag. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. Januar 1976 gem § 1635 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab.
Während des Berufungsverfahrens stellte der Kläger im Oktober 1975 bei der Beklagten erneut einen Antrag auf Versichertenrente. Diese gab den Antrag an die Beigeladene ab, da der Kläger zwischenzeitlich nach Hamburg verzogen war. Durch Bescheid vom 29. November 1976 gewährte die Beigeladene dem Kläger eine am 27. Oktober 1976 beginnende, bis zum 31. August 1977 befristete Berufsunfähigkeitsrente auf Zeit, die sie durch Bescheid vom 30. August 1977 ab 1. September 1977 in eine Dauerrente umwandelte.
Durch Urteil vom 11. Juni 1979 hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Klage gegen die Bescheide der Beigeladenen vom 29. November 1976 und 30. August 1977 als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das SG habe die Klage mit Recht als unzulässig abgewiesen, weil der Kläger die Klagefrist des § 87 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) versäumt habe. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht vorhanden. Der Kläger sei nicht durch die Folgen seines Unfalles daran gehindert gewesen, die erforderlichen Vorkehrungen für die Einlegung eines Rechtsmittels zu treffen. Die Klage gegen die Bescheide der Beigeladenen sei unzulässig, weil diese Bescheide zunächst der Überprüfung durch ein SG bedürften. Sie seien nicht nach § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden, weil sie nicht von der Beklagten, die den ersten Ablehnungsbescheid erteilt habe, erlassen worden seien, sondern von einem anderen Versicherungsträger, der Beigeladenen. Die Beigeladene könne nicht einen Bescheid der Beklagten abändern oder ersetzen. Im übrigen sei die Beigeladene für die Erteilung des Bescheides wegen des noch anhängigen Rechtsstreits nicht zuständig gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen die Versagung der Wiedereinsetzung für die Versäumung der Klagefrist. Er trägt weiter vor, daß das LSG über die Bescheide der Beigeladenen hätte sachlich entscheiden müssen, da diese gem § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden seien. Der Wechsel der Zuständigkeit eines Versicherungsträgers stehe dem nicht entgegen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgerichts vom 11. Juni 1979 sowie des
Sozialgerichts Schleswig vom 13. August 1975 und
den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1974
aufzuheben und die Bescheide der Beigeladenen vom
29. November 1976 und 30. August 1977 abzuändern,
die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen,
dem Kläger ab 1. März 1974 unter Annahme des Eintritts
des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit,
hilfsweise der Berufsunfähigkeit im Februar 1974
die ihm gesetzlich zustehenden Leistungen aus der
Rentenversicherung der Arbeiter zu bewilligen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, infolge der unzulässigen Klage hätte der Kläger einen neuen Rentenantrag stellen müssen, über den die Beigeladene als zuständiger Versicherungsträger hätte entscheiden müssen. Die Beigeladene bejaht ihre Zuständigkeit für die von ihr erteilten Bescheide, ist jedoch der Auffassung, daß diese nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits geworden seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit teilweise zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Für eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts fehlt es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen.
Mit Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger die Klagefrist des § 87 SGG gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1974 versäumt hatte und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) nicht in Betracht kam. Nach den verfahrensfehlerfrei zustande gekommenen Feststellungen des LSG wurde der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1974 dem Postbevollmächtigten des Klägers als Ersatzempfänger gemäß § 51 Abs 3 der Postordnung vom 16. Mai 1963 (BGBl I S 341) als Einschreibesendung (§ 4 Verwaltungszustellungsgesetz -VwZG-) ordnungsgemäß zugestellt. Hierdurch wurde die Klagefrist in Lauf gesetzt. Der Kläger war aus tatsächlichen Gründen nicht gehindert, die Klagefrist einzuhalten. An diese vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden; die Rügen des Klägers beziehen sich lediglich auf die Beweiswürdigung hinsichtlich der Schwere der beim Kläger vorliegenden Erkrankung. Insoweit liegt kein Verfahrensfehler vor.
Damit blieb der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1974 zwar streitbefangen, doch war er bei fehlender Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einer sachlichen Nachprüfung nicht zugänglich. Der weitere Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1976 hingegen ist deshalb nicht streitbefangen, weil er vom Kläger weder ausdrücklich noch sinngemäß angegriffen worden ist. Die Revision erweist sich insoweit als unbegründet, als der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1974 in Streit steht.
Die Bescheide der Beigeladenen sind entgegen der Ansicht des LSG Gegenstand des Rechtsstreits geworden (§ 96 SGG). Sie sind insoweit an die Stelle der Bescheide der Beklagten getreten, als sie den vom Kläger geltend gemachten Rentenanspruch jedenfalls teilweise anerkannt haben. Aufgrund der Bescheide der Beklagten stand eine Dauerrente in Streit. Diesen Prozeßstoff hat die Beigeladene durch ihre Bescheide beeinflußt, denn sie waren geeignet, den Kläger zumindest hinsichtlich eines Teiles seines prozessualen Anspruches klaglos zu stellen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 1977, § 96 RdNr 5).
Dem steht auch nicht entgegen, daß nicht die Beklagte, sondern die Beigeladene die Bescheide erlassen hat (vgl BSG-Urteil vom 25. Mai 1972 - 5 RKn 61/68 - = SozR Nr 23 zu § 96 SGG). Die Beigeladene war für die Bescheiderteilung nach § 1630 Abs 2 RVO zuständig. Zwar bleibt ein zunächst angegangener Versicherungsträger (hier die Beklagte) auch bei einem späteren Wohnsitzwechsel eines Antragstellers zur Entscheidung über einen Rentenantrag örtlich zuständig (so BSG-Urteil vom 26. Mai 1965 - 4 RJ 45/63 - = BSGE 23, 87; SozR Nr 1 zu § 1630 RVO). Im vorliegenden Fall hat auch die Beklagte vor der Wohnsitzverlegung des Klägers über dessen Anträge entschieden. Die Beigeladene hat jedoch über einen weiteren Antrag entschieden, den der Kläger ersichtlich zur Einleitung eines neuen Verwaltungsverfahrens stellte, weil er damit rechnen mußte, daß seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten wegen Fristversäumnis als unzulässig abgewiesen wird. Wird aber ein Leistungsantrag - auch wenn ein Streitverfahren läuft - nicht als Wiederholung, sondern erkennbar zur Einleitung eines neuen Verwaltungsverfahrens auf Grund eines neuen - durch Zeitablauf herbeigeführten (vgl § 1635 RVO) - Sachverhalts neu gestellt, so gilt für dieses neue Verfahren die Zuständigkeit nach § 1630 Abs 2 RVO, hier der Beigeladenen. Hierdurch wird auch vermieden, daß unnötige Verzögerungen bei der Bearbeitung des Rentenantrags dadurch eintreten, daß ein Versicherungsträger bei Eingang eines Rentenantrages erst feststellen muß, ob und ggf wieviel Rentenanträge früher von anderen Versicherungsträgern beschieden worden sind.
Die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen für das Verwaltungsverfahren werden durch das Prozeßrecht nicht berührt; sie richten sich allein nach dem Verwaltungsrecht (§ 1630 Abs 2 RVO). Dieses schließt einen Zuständigkeitswechsel nicht aus; die von dem zuständig gewordenen Leistungsträger erteilten Bescheide werden lediglich nach § 96 SGG Gegenstand eines bereits anhängigen Rechtsstreites (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 96 RdNr 6).
Als Gegenstand des Rechtsstreits waren die Bescheide der Beigeladenen vom LSG sachlich nachzuprüfen. Zur sachlichen Nachprüfung dieser Bescheide sind indessen tatsächliche Feststellungen über den Umfang sowie den Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung beim Kläger erforderlich, die der Senat nicht selbst treffen kann. Die Sache war daher zurückzuweisen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen