Leitsatz (amtlich)
1. Die Rentenbewilligung nach § 1241d Abs 2 RVO wird durch ein Urteil in dem Zeitpunkt ersetzt, da es rechtskräftig wird (Anschluß an und Ergänzung zu BSG 1964-08-19 4 RJ 419/62 = BSGE 21, 260).
2. Vorgezogenes Übergangsgeld (§ 1241d Abs 1 RVO) kann auch für die Zeit zwischen zwei Heilmaßnahmen zu gewähren sein (Anschluß an und Fortführung von BSG 1970-04-22 12 RJ 36/65 = SozR Nr 19 zu § 1241 RVO).
Normenkette
RVO § 1241d Abs 2 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1241d Abs 1 Fassung: 1974-08-07; SGG § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 18.12.1979; Aktenzeichen L 5 J 269/77) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 15.08.1977; Aktenzeichen S 5 J 155/76) |
Tatbestand
Streitig ist die Zahlung des Differenzbetrages zwischen Übergangsgeld und Berufsunfähigkeitsrente.
Der 1917 geborene Kläger beantragte im Juli 1972 eine Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, nachdem sie dem Kläger vom 25. April bis zum 6. Juni 1973 ein Heilverfahren gewährt und dazu Übergangsgeld gezahlt hatte. Das Sozialgericht (SG) Lübeck hielt den Kläger für berufsunfähig seit Februar 1973 und verurteilte die Beklagte, ihm für die Zeit vom 1. März bis zum 24. April 1973 Übergangsgeld und ab 7. Juni 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 4. März 1974). Während jenes Berufungsverfahrens führte die Beklagte vom 19. März bis zum 16. April 1975 ein weiteres Heilverfahren durch und zahlte für diese Zeit Übergangsgeld. Am 4. September 1975 nahm sie die Berufung zurück.
"Aufgrund des Urteils vom 4. März 1974" setzte die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit ab 7. Juni 1973 fest (Bescheid vom 14. Januar 1976). Im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren wandelte sie mit Bescheid vom 2. Februar 1977 die Berufsunfähigkeitsrente mit Wirkung vom 1. Oktober 1975 in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit um.
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) änderte mit Urteil vom 18. Dezember 1979 unter Zurückverweisung der Berufung im übrigen das die Klage in vollem Umfang abweisende Urteil des SG vom 15. August 1977 ab; es verpflichtete die Beklagte, für die Zeit vom 7. Juni 1973 bis zum 17. März 1975 anstatt der Rente wegen Berufsunfähigkeit vorgezogenes Übergangsgeld zu gewähren. Es hat ausgeführt: Die vom SG zugelassene Berufung sei zum Teil begründet. Da sowohl der Rentenantrag als auch der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit in der Zeit vor dem 1. Oktober 1975 gestellt worden bzw eingetreten seien, fänden die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF vor dem Rehabilitations-Angleichungsgesetz -RehaAnglG- (aF) Anwendung. Nach § 1241 Abs 1 RVO aF sei die Beklagte zu Recht im Vorprozeß vom SG verurteilt worden, ab März 1973 Übergangsgeld und für die Zeit vom 7. Juni 1973 an Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren. Die während jenes noch anhängigen Verfahrens durchgeführte weitere Heilmaßnahme habe aber zur Zuerkennung des Übergangsgeldes auch zwischen beiden Heilmaßnahmen führen müssen. Dem stehe § 1242 RVO aF nicht entgegen. Denn vor der Maßnahme "bewilligt" iS dieser Vorschrift sei die Rente erst, sobald entweder ein Rentenbewilligungsbescheid oder ein rechtskräftiges Urteil zugunsten des Versicherten vorliege. Auch aus der Rechtskraft des SG-Urteils vom 4. März 1974 folge nichts anderes, weil die nach der Verkündung jenes Urteils eingetretene Änderung der Sachlage und die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen nicht von der Rechtskraft des Urteils erfaßt würden. Hinsichtlich der Rentenhöhe bleibe die Berufung ohne Erfolg.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung prozessualen und materiellen Rechts. Schon wegen der Rechtskraftwirkung des im Vorprozeß ergangenen SG-Urteils habe sie Berufsunfähigkeitsrente gewähren müssen und kein Übergangsgeld zahlen dürfen. Materiell-rechtlich sei zunächst beachtlich, daß es sich hier um die Zeit zwischen zwei weit auseinanderliegenden Maßnahmen handele, von denen die zweite bei Abschluß der ersten noch nicht habe vorausgesehen werden können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgerichts vom 18. Dezember 1979
aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 15. August 1977
zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen mit der
Maßgabe, daß dem Kläger für die Zeit vom 7. Juni 1973
bis zum 17. März 1975 der Differenzbetrag zwischen
dem Übergangsgeld und der Rente wegen
Berufsunfähigkeit zu gewähren ist.
Er hält das LSG-Urteil für zutreffend. Erst mit dem Bescheid der Beklagten sei die Rente "bewilligt" worden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger für die Zeit zwischen den beiden Heilverfahren - 7. Juni 1973 bis 17. März 1975 - vorgezogenes Übergangsgeld zu beanspruchen hat. Ob auf eine geltend gemachte Rehabilitationsleistung die Bestimmungen der RVO idF des RehaAnglG vom 7. August 1974 oder in der früheren Fassung (aF) anzuwenden sind, beurteilt sich nach dem Recht, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Umstände gegolten hat (BSG, Urteil vom 31. August 1977 - 1 RA 47/76 - = BSGE 44, 231, 232 = SozR 2200 § 1236 Nr 3; vom 7. Dezember 1977 - 1 RA 7/77 - = BSGE 45, 212, 214; vom 15. März 1979 - 11 RA 38/78 - = SozR 2200 § 1236 Nr 16). Dabei geht es im anhängigen Verfahren nicht, wie in den vorgenannten Streitfällen, um die (Notwendigkeit einer) Rehabilitationsmaßnahme selbst, sondern um eine Ergänzungsleistung, nämlich das vorgezogene, dh für die Zeit vor dem Beginn der Maßnahme zu gewährende Übergangsgeld (vgl §§ 1240, 1241d Abs 1 und 2 RVO; §§ 1241 Abs 1, 1242 RVO aF). Die medizinische Maßnahme, aufgrund deren der Kläger das vorgezogene Übergangsgeld auch für die strittige Zeit vom 7. Juni 1973 bis zum 17. März 1975 begehrt, wurde in der Zeit vom 19. März bis zum 16. April 1975 durchgeführt. Ob nun hiernach die anspruchsbegründenden Umstände der Zeit nach dem Inkrafttreten des RehaAnglG (1. Oktober 1974) zuzuordnen sind oder deshalb, weil Übergangsgeld auch für vor diesem Tag liegende Zeiten verlangt wird, die Vorschriften der RVO idF vor dem RehaAnglG maßgebend sind, kann für die Entscheidung dahingestellt bleiben. Denn am Ergebnis ändert dies nichts: der Regelungsinhalt der alten und neuen Vorschriften stimmt im wesentlichen überein; § 1241 Abs 1 RVO aF entspricht weitgehend § 1241d Abs 1 RVO, § 1242 RVO aF dem § 1241d Abs 2 RVO.
Nach § 1241d Abs 2 Satz 1 RVO besteht während der Durchführung einer Maßnahme zur Rehabilitation kein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (nur diese Rentenart kommt hier für die strittige Zeit in Betracht), es sei denn, daß die Rente bereits vor Beginn der Maßnahme bewilligt war. Das gleiche gilt für einen sonstigen Zeitraum, für den Übergangsgeld zu zahlen ist (Satz 2 der Vorschrift). Da nach § 1241d Abs 1 Satz 2 RVO für den Fall, daß der Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bereits vor Beginn der Reha-Maßnahme gestellt ist, das Übergangsgeld mit dem Zeitpunkt beginnt, von dem an Rente zu zahlen gewesen wäre, kommt es entscheidend darauf an, wann hier die Rente "bewilligt" war.
Unter der Bewilligung einer Rente ist nach dem Wortlaut und Sprachgebrauch des Gesetzes die den Rentenanspruch zuerkennende Entscheidung durch den Versicherungsträger zu verstehen (vgl § 1630 Abs 2 RVO). Es steht fest, daß dies vor der am 19. März 1975 begonnenen Maßnahme nicht geschehen war. Damals lag lediglich das SG-Urteil vom 4. März 1974 vor, das die Beklagte verpflichtet hatte, zunächst Übergangsgeld und ab 7. Juni 1973 Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren. Dieses Urteil war aber zum damaligen Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig. Die Rechtskraft trat erst mit der späteren Zurücknahme der Berufung ein, ohne auf den Zeitpunkt der Verkündung des SG-Urteils zurückzuwirken (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung 37. Aufl, Anm 4A zu § 515). Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 19. August 1964 - 4 RJ 419/62 - (= BSGE 21, 260 = SozR Nr 2 zu § 1242 RVO) entschieden, im Rahmen des § 1242 RVO (aF) sei eine nicht rechtskräftige Verurteilung zur Rentengewährung der Rentenbewilligung durch den Versicherungsträger nicht gleichzusetzen. Dies ist unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien mit dem Vorrang der Reha-Maßnahme vor Rentenleistungen begründet worden: Sinn der Ausnahmeregelung sei, daß ein Versicherter, dem der Versicherungsträger Rente bewilligt habe, sich auf den Bestand der Rente solle verlassen dürfen, solange sich seine Erwerbsfähigkeit nicht bessere; demgegenüber könne derjenige, der im gerichtlichen Verfahren die Verurteilung des Versicherungsträgers erstreite, sich auf den Erfolg seiner Klage erst verlassen, wenn das Urteil Rechtskraft erlangt habe.
Im weiteren Urteil vom 16. September 1971 - 4 RJ 85/71 - (= Mitt LVA Rheinprovinz 1972, S 51) hat der Senat in den - insoweit die Entscheidung allerdings nicht tragenden - Gründen (S 6) ausgeführt, "eine Verurteilung durch das SG könnte überdies eine Rentenbewilligung durch die Beklagte iSd § 1242 RVO nur dann ersetzen, wenn sie vor Beginn der Heilbehandlung rechtskräftig geworden wäre".
Von dieser Rechtsprechung abzurücken besteht kein Anlaß, wobei zur Klarstellung hinzuzufügen ist, daß ein zusprechendes Urteil in dem Zeitpunkt, da es rechtskräftig wird, die Rentenbewilligung durch den Versicherungsträger ersetzt. Das gilt umso mehr, als der Vorrang der Rehabilitation vor der Rente jetzt im Gesetz noch stärker zum Ausdruck gebracht worden ist; dies insbesondere in § 7 Abs 1 Satz 1, 1. Halbsatz RehaAnglG, wonach Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit erst dann bewilligt werden sollen, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind. Wesentlich ist, daß im vorliegenden Fall die Beklagte vor Gewährung der zweiten Maßnahme den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente für nicht begründet gehalten und eine medizinische Maßnahme als erfolgversprechend angesehen hat. Erst danach erkannte sie in Form einer prozessualen Handlung (Zurücknahme der Berufung) den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente an. Es erscheint angebracht, ein- und dieselben materiell-rechtlichen Wirkungen nach einem solchen Handeln des Versicherungsträgers eintreten zu lassen, unabhängig vom Stadium des gerichtlichen Verfahrens und auch losgelöst davon, welchen prozessualen Mittels sich der Versicherungsträger bedient.
An der erörterten Rechtslage ändert sich auch nichts dadurch, daß während des Vorprozesses zwei Heilmaßnahmen gewährt worden sind und im anhängigen Verfahren nicht um Übergangsgeld für die Zeit zwischen fiktivem Rentenbeginn und der folgenden Maßnahme, sondern um die Leistung für die Zeit zwischen zwei Maßnahmen gestritten wird. Der Ansicht der Beklagten, solche Zwischenzeiten im Ausmaß des vorliegenden Falles würden vom Normzweck der Bestimmung nicht abgedeckt, stehen der oben erörterte Sinn der Bestimmung und der Gesetzeswortlaut entgegen. Auch die Interessenlage sowohl für den Rentenversicherungsträger als auch für den Versicherten ist die gleiche, ob es sich nun um die Zeit zwischen Rentenantrag und erstem Heilverfahren oder zwischen erstem und zweitem Heilverfahren handelt. Im übrigen ist mit Urteil des BSG vom 22. April 1970 - 12 RJ 36/65 - (= SozR Nr 19 zu § 1241 RVO) der Versicherungsträger verpflichtet worden, Übergangsgeld auch für die Zeit zwischen zwei Maßnahmen zu gewähren, die dort nahezu 15 Monate auseinander gelegen hatten. Zwar betraf jener Rechtsstreit in erster Linie die Frage, welcher Rentenversicherungsträger für die Zahlung des vorgezogenen Übergangsgeldes zuständig sei; der Anspruch auf Übergangsgeld ist aber, anders als die Beklagte es sehen möchte, dennoch zuerkannt bzw bestätigt worden.
Auch der Einwand der Beklagten, sie habe wegen der Rechtskraft des SG-Urteils vom 4. März 1974 schon ab 7. Juni 1973 Berufsunfähigkeitsrente zahlen müssen, dringt nicht durch. Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten (nur), soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Hinsichtlich des Zeitraums ab 7. Juni 1973 war Streitgegenstand des Vorprozesses - und konnte bis zum SG-Urteil vom 4. März 1974 auch nach damaliger Sach- und Rechtslage nur sein - die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente. Demgegenüber ist Gegenstand des anhängigen Verfahrens - zwar ebenfalls für die Zeit ab 7. Juni 1973, aber begrenzt bis zum 17. März 1975 - der Differenzbetrag zwischen schon gezahlter Berufsunfähigkeitsrente und Übergangsgeld. Somit fehlt es schon an der Identität des Streitgegenstandes. Denn über diesen Anspruch hat das SG mit Urteil vom 4. März 1974 nicht entschieden. Soweit es den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente ab 7. März 1973 zuerkannt hat, ist damit bejaht worden, was in § 1241d Abs 1 Satz 1 RVO ohnehin für die Zahlung des vorgezogenen Übergangsgeldes vorausgesetzt wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen