Leitsatz (amtlich)

Die Feststellung, daß wehrdiensteigentümliche Verhältnisse die Ursache für den Entschluß zu einer Selbsttötung gewesen sind, darf nicht allein auf eine von einem ärztlichen Sachverständigen geäußerte und nicht näher begründete Vermutung gestützt werden; geschieht dies, so ist SGG § 128 Abs 1 S 1 verletzt und liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne von SGG § 162 Abs 1 Nr 2 vor.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1955 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der 1901 geborene Ehemann der Klägerin, Reinhard B... tötete sich selbst am 26. Juni 1943 an der Ostfront nach mehrjährigem Einsatz als Kraftfahrer. Nach dem Schreiben des Einheitsführers vom 1. Juli 1943 an die Klägerin war ein äußerer Anlaß für die Tat nicht festzustellen; R.H. habe aber in der letzten Zeit vor seinem Tode häufig über Kopfschmerzen geklagt, gelegentlich seien Zustände geistiger Benommenheit eingetreten, auch scheine ihm der Tod seines Divisionskommandeurs, den er gefahren habe und an dem er sehr gehangen sei, so nahe gegangen zu sein, daß er nicht damit fertig geworden sei; R.H. habe wohl in einem Anfall von Schwermut die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Die Klägerin gab an, ein Versorgungsantrag, den sie im Jahre 1943 gestellt habe, sei abgelehnt worden, weil es sich um einen Selbstmord gehandelt habe; Kriegsgerichtsakten und frühere Versorgungsakten waren nicht mehr aufzufinden.

Am 1. September 1950 beantragte die Klägerin Versorgung nach dem Berliner Versorgungsgesetz (KVG) vom 24. Juli 1950/22. Dezember 1952 - VOBl. für Berlin 1950 I S. 318; GVBl. für Berlin 1952 S. 1184 - und nach dem auf Grund des Berliner Kriegsopferversorgungsgesetzes vom 12. April 1951 - GVBl. für Berlin 1951 S. 317 - auch für Berlin anzuwendenden Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt I Berlin lehnte den Antrag am 5. November 1952 ab; der Einspruch der Klägerin, der nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Widerspruch weiterbehandelt wurde, blieb ohne Erfolg (Bescheid des Landesversorgungsamts Berlin vom 12. Januar 1954). Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht (SG.) Berlin; sie berief sich noch auf den letzten Brief des R.H. vom 22. Juni 1943, den das SG. in der mündlichen Verhandlung am 3. Juli 1954 auch verlas; das SG. hörte außerdem den von der Klägerin benannten Zeugen Kurt R... Durch Urteil vom 3. Juli 1954 hob das SG. die Bescheide vom 5. November 1952 und 12. Januar 1954 auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Juli 1950 Witwenrente zu gewähren. Die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG.) Berlin durch Urteil vom 18. Oktober 1955 zurück: Nach dem Gutachten des Facharztes für Nerven- und Gemütsleiden Prof. Dr. H... vom 28. Mai 1955, dem zu folgen sei, habe es sich bei Reinhard B... um einen motivlosen Selbstmord auf Grund einer endogenen Depression gehandelt. R.H. habe sich sonach zwar in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden, dieser Zustand gehe aber nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes zurück. Dem Gutachten sei indes auch darin zu folgen, daß zweifellos Verhältnisse, die dem Wehrdienst eigentümlich seien, ein frühzeitiges Erkennen der Erkrankung und eine sachgemäße Behandlung verhindert hätten; in diesen Verhältnissen sei eine Schädigung im Sinne von § 1 Berliner KVG und BVG zu erblicken; diese Schädigung sei gegenüber der anlagebedingten Depression als die überwiegende Ursache für die Selbsttötung anzusehen. Die Revision ließ das LSG. nicht zu. Das Urteil wurde dem Beklagten am 17. November 1955 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 26. November 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 9. Dezember 1955, legte der Beklagte Revision ein; er beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit Verurteilung für die Zeit ab 1. Oktober 1950 erfolgt ist.

Die Revision sei nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; das LSG. habe gegen § 128 SGG verstoßen, es habe das Gutachten von Prof. Dr. H... das in tatsächlicher Hinsicht nicht genügend fundiert sei, nicht zur Grundlage der Urteilsfindung machen dürfen; das LSG. habe ferner § 62 SGG verletzt, es habe den Brief des R.H. vom 22. Juni 1943 der Versorgungsbehörde im Berufungsverfahren weder im Original noch in Abschrift mitgeteilt, der Brief sei nach dem Tatbestand des angefochtenen Urteils auch nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Die Revision sei auch begründet, das LSG. habe § 1 BVG unrichtig angewandt; da gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG. begründete Revisionsgründe geltend gemacht seien, sei das BSG. an sie nicht gebunden; der Brief des R.H. vom 22. Juni 1943 lasse keine sichere Diagnose dahin zu, daß R.H. im Zeitpunkt der Tat in seiner freien Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen sei; selbst wenn man mit dem Gutachten Prof. Dr. H... annehme, daß R.H. an einer manisch depressiven Erkrankung gelitten habe, habe diese Erkrankung nicht zur Folge, daß der Erkrankte ohne weiteres die notwendige Einsicht in sein Handeln verliere; auch Prof. Dr. H... habe angenommen, daß lediglich die rechtzeitige Behandlung dieser Erkrankung, die auch er für anlagebedingt gehalten habe, durch die besonderen Verhältnisse des Wehrdienstes verhindert worden sei. Auch der Autounfall des R.H. und seine schweren Fronterlebnisse könnten nicht als ursächlich für den Entschluß zur Selbsttötung angesehen werden.

Die Klägerin beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

II.

1.) Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; mit Recht rügt der Beklagte, das Urteil des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens. Das LSG. ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Selbsttötung des R.H. die Folge eines schädigenden Vorgangs im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften gewesen ist, davon ausgegangen, daß R.H. zur Zeit der Tat an einer endogenen Depression gelitten hat. Es hat sich insoweit im wesentlichen auf das Gutachten von Prof. Dr. H... gestützt; dieser Gutachter hat auf Grund der Briefe vom 22. Juni und vom 1. Juli 1943, der Aussagen des Zeugen R... vor dem SG. und einiger "nicht sehr genauer Hinweise in den Akten" den "starken Verdacht" eines endogenen depressiven Erlebens bei R.H. geäußert, er hat es deshalb "für das überwiegend Wahrscheinlichste" gehalten, daß bei R.H. ein "motivloser Selbstmord auf dem Boden einer endogenen Depression" vorgelegen hat. Nun hat aber Prof. Dr. H... selbst die Unterlagen, auf Grund deren er zu diesem Ergebnis gekommen ist, als "spärlich" bezeichnet; auch das LSG. hat ausgeführt, daß ein Gutachten, für das "rein medizinisch gesehen sehr geringe Unterlagen vorliegen, gewissen Mängeln naturgemäß unterworfen ist"; es ist deshalb schon zweifelhaft, ob das LSG. eine endogene Depression hat als erwiesen ansehen dürfen. Ob das LSG. sich insoweit noch im Rahmen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (vgl. § 128 SGG), gehalten hat, kann aber dahingestellt bleiben; auch das LSG. hat nämlich - übereinstimmend mit dem Gutachter - festgestellt, daß jedenfalls wehrdiensteigentümliche Verhältnisse - sei es der vom Zeugen R... geschilderte Kraftwagenunfall, seien es schwere Fronterlebnisse - für diese endogene Depression und für den allenfalls auf sie zurückzuführen Ausschluß der freien Willensbestimmung nicht ursächlich gewesen sind; es hat nur festgestellt, daß die besonderen Verhältnisse des Wehrdienstes verhindert haben, daß die vom LSG. angenommene Geisteskrankheit rechtzeitig erkannt und behandelt worden ist. Für diese Feststellung hat sich das LSG. aber nicht auf das Gutachten von Prof. Dr. H... stützen dürfen; auch dieser Gutachter hat seine Behauptung, daß die Verhältnisse des Wehrdienstes das frühzeitige Erkennen der Geisteskrankheit verhindert haben, nicht begründet und nicht dargetan, inwiefern das Verhalten des R.H. überhaupt zu einer Behandlung und vollends gar Anstaltsunterbringung hätte Anlaß geben müssen; seine Ausführungen geben insoweit nur einer Vermutung Raum; wenn das LSG. sich diese Vermutung zu eigen gemacht und allein auf Grund dieser Vermutung festgestellt hat, daß wehrdiensteigentümliche Verhältnisse die Ursache der Selbsttötung gewesen sind, so hat es die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen, überschritten; es hat damit gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verstoßen.

2.) Die Revision des Beklagten ist auch begründet. Es ist möglich, daß die Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, wenn sie sich in den Grenzen des § 128 SGG hält, zu einer anderen Entscheidung führt; das angefochtene Urteil beruht mithin auf dem gerügten Mangel in dem Verfahren des LSG. (§ 162 Abs. 2 SGG; vgl. dazu BSG. 2 S. 197 ff. [201]); es ist deshalb aufzuheben; gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG); der Senat kann die Sache nicht selbst entscheiden; der bisher festgestellte Sachverhalt läßt eine abschließende Beurteilung noch nicht zu; unter Umständen ist es auch notwendig, ein weiteres ärztliches Gutachten einzuholen. Übereinstimmend mit den Versorgungsärzten ist der bisherige Gutachter des LSG., Prof. Dr. B... zu dem Ergebnis gekommen, daß weder der Sturz des R.H. infolge des Durchbrechens seines Kraftfahrzeuges durch den Boden eines Schuppens ein halbes Jahr vor seinem Tod noch der Tod seines Generals eineinhalb Jahre vor der Selbsttötung als ursächlich für eine die freie Willensbestimmung beeinträchtigende Geistesstörung und für den auf ihr beruhenden Entschluß zur Selbsttötung angesehen werden können, daß vielmehr die endogene Depression des R.H. auf die Struktur seiner Persönlichkeit und nicht auf Verhältnisse des Wehrdienstes zurückzuführen ist. Es ist deshalb zu klären, ob das bekannt gewordene Verhalten des R.H. unter "normalen" äußeren Umständen den Verdacht einer Geisteskrankheit nahegelegt hätte, ob es wahrscheinlich ist, daß er, wenn er nicht Wehrdienst geleistet hätte und nicht an der Front gewesen wäre, sich selbst in ärztliche Behandlung begeben hätte oder auch gegen seinen Willen in eine solche Behandlung gebracht worden wäre, ob sein Geisteszustand - so, wie er sich nach dem Ergebnis der Ermittlungen geäußert hat - zu seiner Unterbringung in einer Anstalt Anlaß gegeben hätte und ob er durch ärztliche Behandlung und gegebenenfalls Anstaltsunterbringung mit Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre, sich selbst zu töten. Nach § 1 Abs. 3 BVG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs; sie ist aber auch erforderlich, die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs genügt nicht; ist es zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß die Selbsttötung in einer nicht durch den Wehrdienst bedingten endogenen Depression unter anderen als wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen hätte verhindert werden können, so entfallen versorgungsrechtliche Ansprüche.

 

Fundstellen

BSGE, 192

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