Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch des Versicherungsträgers. Heilverfahren als Versicherungsfall
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Auslegung des Begriffs Versicherungsfall iS des G 131 § 72 Abs 11 S 1.
2. Bei Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen iS von AVG § 12 Nr 1 (= RVO § 1235 Nr 1) ist der Erstattungsanspruch des Versicherungsträgers nach G 131 § 72 Abs 11 nicht vom Eintritt des Rentenversicherungsfalles abhängig.
Normenkette
G131 § 72 Abs. 11 S. 1; AVG § 12 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1235 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Februar 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin - Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - von dem Beklagten - Freistaat Bayern - gemäß § 72 Abs. 11 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) die Erstattung der anteilmäßigen Kosten für durchgeführte Heilmaßnahmen verlangen kann.
Die Klägerin gewährte der Versicherten Olga K vom 15. Januar bis 26. Februar 1965 aufgrund der §§ 13 ff des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ein Heilverfahren. Da die Versicherte laut Bescheinigung der Finanzmittelstelle München vom 18. September 1957 als ehemals berufsmäßige Angehörige des Reichsarbeitsdienstes für die Zeit vom 1. Juli 1940 bis 8. Mai 1945 nach § 72 G 131 als nachversichert gilt, machte die Klägerin von den anfallenden Gesamtkosten in Höhe von 7.139,80 DM entsprechend dem Verhältnis der auf die Nachversicherung entfallenden Werteinheiten zur gesamten Versicherungszeit unter Hinweis auf § 72 Abs. 11 G 131 einen Betrag von 999,57 DM gegenüber dem Beklagten geltend. Dieser verweigerte die Zahlung mit der Begründung, daß er nach der genannten Vorschrift erst nach Eintritt des "Versicherungsfalles", also nach Bewilligung einer entsprechenden Rente ausgleichspflichtig sei.
Auf die deswegen im Oktober 1968 vor dem Verwaltungsgericht erhobene Klage verpflichtete das Sozialgericht (SG), nachdem der Rechtsstreit an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verwiesen war, den Beklagten zur Zahlung von 999,57 DM (Urteil vom 27. April 1973). Die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen aus folgenden Gründen zurück: Der Versicherungsfall im Sinne des § 72 Abs. 11 G 131 könne nicht mit dem Rentenversicherungsfall gleichgesetzt werden. Vielmehr bezeichne in der Rentenversicherung der Versicherungsfall den Eintritt eines Ereignisses, gegen dessen Nachteile der Versicherte geschützt werden solle. Dabei könne der Begriff des Versicherungsfalles auch dem Begriff des Leistungsfalles angenähert oder sogar gleichzustellen sein (Hinweis auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts - BSG - vom 25. Oktober 1963 und 5. März 1965 in BSG 20, 48 und 22, 278). Dies werde noch dadurch erhärtet, daß das Gesetz in § 12 AVG als Regelleistungen unter Ziffer 1 ausdrücklich die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit nenne und diese Maßnahmen im Sinne des § 13 AVG sogar den Rentenleistungen voranstelle. Der Eintritt der Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit müsse sonach als ein für den Versicherungsfall ebenso relevantes Ereignis angesehen werden wie der Eintritt der Berufsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit, des Alters oder des Todes. Darüber hinaus solle nach dem Willen des Gesetzgebers den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherungen für die ihnen auferlegten zusätzlichen Leistungen das entsprechende wirtschaftliche Äquivalent zustehen (Hinweis auf BT-Drucksache I/1306). Bei der vom Beklagten vertretenen Auffassung könnte aber in einer Reihe von Fällen eine Erstattung nie erfolgen, nämlich wenn der Rentenversicherungsfall nach einem vorherigen Leistungsfall nicht mehr eintreten würde. Auch sei es - abgesehen von dem erheblichen Verwaltungsaufwand - für den Träger der Rentenversicherung unzumutbar, wenn er in einer Vielzahl von Fällen auf die Erstattung der anteiligen Heilbehandlungskosten Jahre oder gar Jahrzehnte warten müßte. Soweit der Beklagte seine abweichende Rechtsauffassung auf Nr. 11 Abs. 4 der zu § 72 G 131 erlassenen Verwaltungsvorschriften (VV) stütze, betreffe diese Vorschrift lediglich die Gewährung eines Vorschusses auf "Rente" durch die Versorgungsdienststelle, nicht jedoch die Frage von Leistungen für Gesundheitsmaßnahmen. Ebensowenig sei die Rechtsansicht des Beklagten mit dem Wortlaut der Nr. 13 Abs. 4 VV zu begründen. Danach seien zwar Aufwendungen für Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit im gleichen Verhältnis wie Rentenleistungen zu erstatten. Hieraus könne jedoch nicht gefolgert werden, daß die anteiligen Kosten erst im Rentenversicherungsfall zu fordern seien, weil bereits aufgrund der Auslegung der Grundbestimmung des § 72 Abs. 11 G 131 bei Gesundheitsmaßnahmen der Begriff des Versicherungsfalles mit dem jeweiligen Leistungsfall gleichzusetzen sei. Dieser sei hier mit der bindenden Bewilligung der Gesundheitsmaßnahmen durch die Klägerin eingetreten. Daß demnach der Zeitpunkt des Leistungsfalles vor dem 15. Januar 1965 gelegen habe, werde letztlich vom Beklagten ebensowenig wie die Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsbetrages bestritten (Urteil vom 19. Februar 1974).
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 72 Abs. 11 G 131 durch das Berufungsgericht.
Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG München vom 27. April 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Beklagte die - der Höhe nach zwischen den Beteiligten unstreitigen - anteiligen Kosten des durchgeführten Heilverfahrens an die Klägerin zu zahlen hat.
Gemäß § 72 Abs. 11 Satz 1 G 131 erstatten die Träger der Versorgungslast den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung "im Versicherungsfall" die auf die Nachversicherungszeit des Absatzes 1 der Vorschrift entfallenden Leistungen, wobei hier im Hinblick auf die Regelung in den §§ 58 Abs. 1 Satz 2 und 59 a Abs. 1 G 131 den Beklagten die unmittelbare Zahlungspflicht trifft. Der Auffassung der Revision, daß unter Versicherungsfall im Sinne des § 72 Abs. 11 G 131 lediglich der - hier noch nicht eingetretene - Rentenversicherungsfall zu verstehen sei und demzufolge eine Zahlungsverpflichtung des Beklagten derzeit nicht bestehe, vermag der erkennende Senat nicht beizutreten.
Für den Begriff des Versicherungsfalles enthalten weder die Sozialversicherungsgesetze noch das G 131 eine Legaldefinition. Im Rentenversicherungsrecht umschreibt der Begriff - wie der erkennende Senat mit Urteil vom 25. Oktober 1963 (BSG 20, 48, 50) dargelegt hat - im allgemeinen nur die Ereignisse im Leben des Versicherten, gegen deren Nachteile er oder seine Hinterbliebenen geschützt werden sollen (ebenso BSG in SozR Nr. 3 zu § 1255 der Reichsversicherungsordnung und SozR Nr. 28 zu Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). In diesem Zusammenhang hat der 11. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 5. März 1965 (BSG 22, 278, 281) darauf hingewiesen, daß der Begriff Versicherungsfall für andere gesetzliche Vorschriften der Rentenversicherung möglicherweise anders auszulegen, insbesondere stärker dem Leistungsfall, d. h. der Erfüllung aller Leistungsvoraussetzungen, anzunähern oder sogar gleichzustellen ist. Es handelt sich somit um einen Begriff, der nicht immer die gleiche Bedeutung hat. Sein Wesen ist vielmehr der Zielsetzung, den Grundgedanken und der Systematik der jeweiligen Gesetze, die ihn verwenden, zu entnehmen (vgl. hierzu Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd., S. 291). Der Begriff Versicherungsfall erweist sich damit als eine Zweckschöpfung, die je nach Anwendungsgebiet einer unterschiedlichen Auslegung zugänglich ist (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III, S. 666 S. I).
Eine an dem Sinn und Zweck des § 72 Abs. 11 G 131 orientierte Auslegung führt indes dazu, den in dieser Vorschrift normierten Erstattungsanspruch des Versicherungsträgers bei Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen im Sinne des § 14 AVG nicht an den Eintritt des Rentenversicherungsfalles zu knüpfen. Die Erstattungsregelung "im Versicherungsfall" war im ursprünglichen Regierungsentwurf des G 131 (BT-Drucksache I/1306) nicht enthalten. Sie geht auf eine Empfehlung des Bundesrats zurück, die in Nr. 39 der Anlage 1 zur BT-Drucksache I/1306 wie folgt begründet wurde:
"Der Vorschlag soll sicherstellen, daß den Trägern der Rentenversicherung für die ihnen durch Absatz 1 und 2 auferlegten zusätzlichen Leistungen das wirtschaftliche Äquivalent zusteht".
Diese Zwecksetzung eines wirtschaftlichen Ausgleichs bezieht sich ohne zeitliche Schranke auf sämtliche Leistungen des Versicherungsträgers, demnach auch auf die Regelleistungen im Sinne des § 12 Nr. 1 AVG. Der uneingeschränkten Leistungsbezogenheit der Ausgleichsgarantie würde es aber widersprechen, § 72 Abs. 11 Satz 1 G 131 dahin zu interpretieren, daß die Erstattung einer derartigen Regelleistung von der späteren Bewilligung einer Versichertenrente abhängig sei. Zutreffend hat das LSG betont, daß bei Durchführung von Gesundheitsmaßnahmen in der Regel noch nicht feststeht, ob überhaupt und gegebenenfalls wann eine Rente gewährt wird. Der vom Gesetzgeber gewollte wirtschaftliche Ausgleich zugunsten des Versicherungsträgers würde somit in vielen Fällen unangemessen hinausgeschoben, wenn nicht gar vereitelt. Die vom Beklagten vertretene Gleichsetzung des Versicherungsfalles im Sinne des § 72 Abs. 11 G 131 mit dem Rentenversicherungsfall ist deswegen mit der Zielsetzung der Vorschrift nicht zu vereinbaren. Die Revision übersieht, daß es im Rentenversicherungsrecht keinen Leistungsfall geben kann, der nicht auf einem Versicherungsfall beruht (so bereits BSG-Urteil vom 5. März 1965 aaO). Nur in diesem Rahmen kommen daher den Worten "im Versicherungsfall" des § 72 Abs. 11 Satz 1 G 131 rechtliche Bedeutung zu. Sie beziehen sich auf jeden Fall der Gewährung einer Regelleistung des § 12 AVG. Insoweit hat das LSG auch zutreffend angenommen, daß der sonach mit dem Leistungsfall identische Versicherungsfall im Sinne des § 72 Abs. 11 G 131 mit der Bewilligung der Leistung durch die Klägerin und damit vor dem 15. Januar 1965 (Beginn des Heilverfahrens) eingetreten ist. Danach bestimmt sich die Fälligkeit des Erstattungsanspruchs. Diese ist jedenfalls dann eingetreten, wenn die Kosten für die Heilbehandlung - wie hier - feststehen.
Ein abweichendes Ergebnis wird auch nicht durch den Hinweis der Revision auf Nr. 14 Abs. 4 der zu § 72 Abs. 11 G 131 erlassenen VV (vgl. Beilagen zu den Bundesanzeigern Nr. 9 vom 13. Januar 1961 und Nr. 42 vom 29. Februar 1968) gerechtfertigt. Danach werden zwar die Aufwendungen für Maßnahmen zu Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit "im gleichen Verhältnis wie Rentenleistungen" erstattet. Abgesehen davon, daß durch diese interne Verwaltungsvorschrift nicht eine verbindliche Auslegung des Begriffs "im Versicherungsfall" hergeleitet werden kann, die von der - aufgezeigten - unmittelbar auf dem Gesetz beruhenden Interpretation abweicht, ist auch dem Inhalt der VV Nr. 14 Abs. 4 nicht zwingend zu entnehmen, daß die anteiligen Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen erst im Rentenversicherungsfall gefordert werden können. Der Wortlaut, daß diese Aufwendungen im gleichen Verhältnis "wie" Rentenleistungen zu erstatten sind, läßt jedenfalls das von der Klägerin praktizierte Verfahren zu, "entsprechend" der für Rentenleistungen in Nr. 14 Abs. 2 der VV unmittelbar getroffenen Regelung bei der Berechnung des Erstattungsanteils für eine Heilbehandlung ebenfalls das Verhältnis der auf die Nachversicherungszeit entfallenden Werteinheiten zu den Werten der Gesamtversicherungszeit zu ermitteln, dabei jedoch bezüglich letzterer den Zeitpunkt des konkreten Leistungsfalles zugrunde zu legen.
Schließlich spricht für die vom Beklagten vertretene Ansicht auch nicht - wie die Revision meint -, daß bei Nichteintritt des Rentenversicherungsfalles dem Versicherungsträger gleichwohl die Beiträge zur Rentenversicherung erhalten bleiben. Es fehlt insoweit jeder Anhalt dafür, daß diese im Einzelfall eintretende und dem geltenden Sozialversicherungsrecht systemimmanente Folge, den gesetzlich festgelegten Erstattungsanspruch des Versicherungsträgers für die von ihm erbrachten Leistungen ausschließen soll.
Nach alledem muß der Revision des Beklagten der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen