Entscheidungsstichwort (Thema)
Fiktion der Beitragszeit für Verfolgte
Leitsatz (amtlich)
Zur Anrechnung von Hachscharah-Zeiten als fiktive Beitragszeit.
Orientierungssatz
Eine Leistung an Verfolgte aus der Rentenversicherung kommt nur dann in Betracht, wenn zumindest durch die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eine konkrete Beziehung zur Rentenversicherung hergestellt worden ist oder worden wäre. Erst das Vorliegen dieser Voraussetzung berechtigt dazu, eine - verfolgungsbedingt unterlassene Beitragsleistung zu fingieren und den Verfolgten für diese Zeit einem ordnungsgemäß Versicherten gleichzustellen.
Normenkette
WGSVG § 14 Abs 2 S 1 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung von Hachscharah-Zeiten in den Jahren 1935 bis 1937 als glaubhaft gemachte oder fiktive Beitragszeiten.
Der im Jahre 1920 geborene Kläger, jüdischer Abstammung, ist als Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Nach Abschluß der Volksschule in Dortmund war ihm die Verwirklichung weiterer Berufspläne verfolgungsbedingt nicht möglich. Deshalb entschloß er sich auszuwandern und begab sich hierfür in eine vorbereitende Ausbildung (sog Hachscharah). Eintragungen in seinem Arbeitsbuch zufolge war er auf der jüdischen Plantage S Ausbau vom 29. Mai 1935 bis zum 23. September 1936 als Praktikant in Gärtnerei und Landwirtschaft und dann vom 9. Dezember 1936 bis zum 4. November 1937 auf dem Lehrgut H bei F als landwirtschaftlicher Eleve tätig. In einem Schreiben der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) F aus dem Jahre 1975 ist bestätigt, daß er damals bei dieser Kasse als Pflichtmitglied krankenversichert war. Während beider Tätigkeiten erhielt er freie Kost und Wohnung. Nach seinen Angaben wurde ihm auch ein Taschengeld von wöchentlich 3,-- RM ausgezahlt. Im Februar 1938 wanderte er nach Israel aus.
Mit Bescheid vom 2. Februar 1967 hatte die Beigeladene zu 2) einen Antrag des Klägers auf Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen für die Zeit vom Mai 1935 bis November 1937 abgelehnt. Den im Dezember 1972 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Oktober 1973 ab mit der Begründung, die Wartezeit sei nicht erfüllt. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Beigeladene zu 2) verurteilt, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an den Kläger zu zahlen: Die Wartezeit sei erfüllt, weil der Kläger zumindest auf der Plantage S Ausbau eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe. Eine Beitragsentrichtung sei aus Verfolgungsgründen unterblieben (Urteil vom 30. November 1976).
Auf die Berufung der Beigeladenen zu 2) hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das Urteil des SG Karlsruhe aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. November 1979): Wie sich aus einem vom Kläger vorgelegten Memorandum ergebe, seien Beiträge zur Invalidenversicherung für die in den Ausbildungsstätten tätig gewesene Praktikanten und Eleven nicht gezahlt worden. Die Tätigkeit auf den Gutshöfen könne auch nicht als fiktive Beitragszeit anerkannt werden, denn der Kläger habe in dieser Zeit keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt. Wesentlicher Zweck des Aufenthalts der Jugendlichen auf den Leergütern sei nicht die Vermittlung einer abgeschlossenen Berufsausbildung gewesen, sondern eine umfassende Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina, weshalb diese Leergüter auch als "Vorbereitungslager" bezeichnet worden seien. Versicherungspflicht habe nicht bestanden, da kein Entgelt gezahlt worden sei. Die Ausbildung sei grundsätzlich kostenpflichtig gewesen. Soweit die Jugendlichen oder ihre Angehörigen die notwendigen Kosten nicht hätten tragen können, seien jüdische Hilfsorganisationen dafür eingetreten. Das den Jugendlichen gewährte Taschengeld stamme aus solchen Unterstützungsleistungen. Es handele sich daher um kein Entgelt für geleistete Arbeit aus Mitteln des Betriebes, sondern um von Dritten geleistete Unterstützungszahlungen fürsorgerischer Art ohne Entgeltcharakter.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Urteil beruhe auf einem unvollständig aufgenommenen Sachverhalt. In materiell-rechtlicher Hinsicht habe das LSG § 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) und § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) unrichtig angewandt. Er sei in der fraglichen Zeit als Lehrling beschäftigt worden. Landwirtschaftliche Lehrlinge, die neben Kost und Logis wöchentlich ein Entgelt von 3,-- RM erhalten hätten, seien damals versicherungspflichtig gewesen. Entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil habe die Eltern keine rechtliche Verpflichtung getroffen, die Ausbildung mitzufinanzieren.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom
28. November 1979 aufzuheben und die Berufung
gegen das Urteil des SG Karlsruhe vom
30. November 1976 zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 2) beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 1) stellen keinen Antrag.
Die Beigeladene zu 2) hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere habe das LSG zu Recht entschieden, daß eine fiktive Beitragszeit nach § 14 Abs 2 WGSVG auch dann nicht anzuerkennen sei, wenn verfolgungsbedingt auf die Verrichtung einer nicht rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit ausgewichen worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, da er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 1247 Abs 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-) nicht erfüllt. Die Tätigkeit auf der Plantage S Ausbau und auf dem Lehrgut H ist weder als glaubhaft gemachte Beitragszeit nach § 1 VuVO noch als fiktive Beitragszeit nach § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG anrechenbar, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat.
Die Rüge des Klägers, das Urteil beruhe auf einem unvollständig aufgenommenen Sachverhalt, ist unbegründet. Denn der Tatbestand des angefochtenen Urteils stellt die rechtserheblichen Tatsachen in ausreichendem Umfange dar (vgl BSG, Urteil vom 16. Dezember 1959 - 9 RV 644/56 - = SozR Nr 8 zu § 136 SGG; Urteil vom 20. November 1959 - 1 RA 161/58 - = SozR Nr 6 zu § 163 SGG). Auf den Inhalt beigezogener Akten und Urkunden durfte das LSG Bezug nehmen (§ 136 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Zulässige und begründete Rügen, die das Zustandekommen der tatsächlichen Feststellungen in dem Urteil des LSG betreffen, hat der Kläger nicht vorgebracht. Deshalb ist der Senat an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 163 SGG).
Der Bescheid vom 2. Februar 1967, mit dem die Beklagte die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen für die fragliche Zeit abgelehnt hat, steht dem Anspruch allerdings nicht entgegen. Denn die Beklagte hat sich in dem angefochtenen Bescheid nicht auf die sich aus § 77 SGG ergebende Bindungswirkung berufen, sondern nach erneuter Prüfung in der Sache neu entschieden. Deshalb ist der Bescheid vom 1. Oktober 1973 in vollem Umfange zu überprüfen (vgl BSG vom 26. Januar 1978 - 5 RJ 34/77 - = SozR 2200 § 1251 Nr 41 1. Leitsatz). Daß in der fraglichen Zeit für den Kläger Rentenversicherungsbeiträge entrichtet worden sind, ist jedoch nicht glaubhaft gemacht. Das LSG hat für das Revisionsgericht bindend festgestellt, daß nach den vorliegenden Beweismitteln für den Kläger keine Beitragsentrichtung zur Invalidenversicherung glaubhaft gemacht ist.
Die Tätigkeit des Klägers auf der Plantage S Ausbau und auf dem Lehrgut H kann auch nicht als fiktive Beitragszeit nach § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG anerkannt werden. Nach dieser Vorschrift gelten Beiträge für Zeiten als entrichtet, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die jedoch aus Verfolgungsgründen eine Beitragsentrichtung unterblieben ist.
Welche Tätigkeiten im einzelnen der Kläger ausgeübt hat, ist nicht entscheidungserheblich; es kommt vielmehr darauf an, ob die Tätigkeit rentenversicherungspflichtig gewesen ist. Der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung, wie er sich in § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG findet, stimmt mit dem entsprechenden Begriff der RVO überein (vgl BSG Urteil vom 10. Dezember 1974 - 4 RJ 379/73 - = SozR 5070 § 14 Nr 2 = BSGE 38, 245, 247; Urteil vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 - = SozR 5070 § 14 Nr 4). Grundsätzlich konnten nach § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO in der damals geltenden Fassung (aF) auch Lehrlinge rentenversicherungspflichtig sein. Ob und inwieweit der Kläger in diesem Sinne Lehrling gewesen ist, kann letztlich dahinstehen. Denn auch Lehrlinge unterlagen nach § 1226 Abs 2 RVO aF nur dann der Rentenversicherungspflicht, wenn ein Entgelt gezahlt wurde. Dem Kläger sind während seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit neben freier Unterkunft und Verpflegung 3,-- RM wöchentlich gezahlt worden. Ob die freie Kost und Wohnung als Entgelt zu werten wären, braucht nicht geprüft zu werden. Selbst wenn dies bejaht werden müßte, würde daraus keine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung begründet worden sein, weil nach § 1227 RVO aF eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei war.
An die tatsächlichen Feststellungen, aus denen das LSG gefolgert hat, die gezahlten 3,-- bis 5,-- RM wöchentlich seien kein Entgelt gewesen, ist das Revisionsgericht nach § 163 SGG gebunden. Denn zulässige und begründete Revisionsrügen sind dagegen nicht erhoben worden. Das Berufungsgericht ist nach Auffassung des Senats aber auch zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei dem gezahlten Taschengeld um kein Entgelt gehandelt und deshalb Versicherungspflicht nicht bestanden hat.
Entgelt iS des § 160 RVO aF könnte die Zahlung nur sein, wenn sie als Gegenleistung für verrichtete Arbeit gewährt worden wäre (RVO Kommentar, hrsg von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes, Bd I 2. Aufl 1930 § 160 Anm 1). Dabei ist es unerheblich, ob die Arbeitsleistung der eigentliche Zweck des Beschäftigungsverhältnisses war oder ob in erster Linie eine andere Absicht verfolgt wurde, wie es bei einem Ausbildungsverhältnis sein mag. Deshalb würde der Annahme eines Entgelts nicht entgegenstehen, daß sich der Kläger Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen wollte und sollte, die er nach erfolgter Auswanderung benötigte. Eine Zuwendung, die Versicherungspflicht begründet, liegt aber nur dann vor, wenn damit eine für den Arbeitgeber geleistete Arbeit vergütet werden soll. Dies trifft auf die wöchentliche Zahlung an den Kläger nicht zu, einmal abgesehen davon, ob die Zuwendung vom Betrag her unter Berücksichtigung des Alters des Klägers sowie des Ortes, an dem die Tätigkeit verrichtet wurde, als Entgelt ausgereicht hätte.
Die von den jüdischen Verbänden auf Reichsebene vermittelte Ausbildung auf den landwirtschaftlichen Gütern war für die zur Auswanderung bereiten Jugendlichen grundsätzlich kostenpflichtig. Soweit die Angehörigen die Unterbringungskosten nicht selbst tragen konnten, was verfolgungsbedingt im Laufe der Jahre zunehmend der Fall war, sprangen jüdische Hilfsorganisationen ein und sorgten auch dafür, daß jeder Jugendliche wöchentlich einen kleineren Geldbetrag ausbezahlt erhielt. Solche Zahlungen stellten jedoch keine Vergütung für geleistete Arbeit dar, sondern trugen fürsorgerischen Charakter, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat. Da die Jugendlichen in der Zeit der Vorbereitung auf ihre Auswanderung auswärts untergebracht waren, benötigten sie etwas Taschengeld für geringfügige alltägliche Ausgaben.
Gegen ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis spricht auch, daß für die jugendlichen Auszubildenden keine Rentenversicherungsbeiträge abgeführt worden sind, obwohl - wie der Senat in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 - (= SozR 5070 § 14 Nr 4) ausgeführt hat - noch im Jahre 1941 die Versicherungspflicht für jüdische Beschäftigte nicht aufgehoben war. Es ist auch nicht überwiegend wahrscheinlich, daß verfolgungsbedingt die Entrichtung von Beiträgen für die Jugendlichen unterbunden wurde, um keine künftigen Rentenansprüche entstehen zu lassen. Denn im Hinblick auf die beabsichtigte Auswanderung und die damaligen Anwartschaftsvorschriften war die Inanspruchnahme deutscher Rentenleistungen äußerst unwahrscheinlich. Es läßt sich auch nicht argumentieren, die Zugehörigkeit von Juden zur Sozialversicherung habe - trotz bestehender Versicherungspflicht - verhindert werden sollen. Träfe dies zu, so wäre die nachgewiesene Pflichtmitgliedschaft des Klägers zur Krankenversicherung während der Tätigkeit auf dem Lehrgut H nicht erklärlich. Diese Krankenversicherungspflicht unterstreicht vielmehr, daß jedenfalls in der hier strittigen Zeit auf dem Gebiet der Sozialversicherung Juden auch in der Verwaltungspraxis der Sozialversicherung nicht anders als nichtjüdische Beschäftigte behandelt wurden. Andererseits kann allerdings wegen der unterschiedlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen von der Pflichtmitgliedschaft bei der Krankenkasse nicht auf die Rentenversicherungspflicht geschlossen werden.
Das Urteil des 1. Senats vom 13. März 1979 - 1 RJ 24/78 - (= SozR 5070 § 14 Nr 8) steht dem hier gewonnenen Ergebnis nicht entgegen. In jenem Urteil ist der 1. Senat von einer Entgeltzahlung für einen Hachscharah-Teilnehmer ausgegangen, weil das Berufungsgericht sie bindend festgestellt hatte (vgl § 163 SGG). In den Gründen des Urteils ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß nur jeweils für den Einzelfall entschieden werden könne.
Um eine fiktive Beitragszeit nach § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG anerkennen zu können, reicht es nicht aus, wenn auf eine nicht versicherungspflichtige Tätigkeit ausgewichen werden mußte, weil verfolgungsbedingt die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr möglich war. In diesem Zusammenhang hat der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden, § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG setze nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte voraus, daß für eine an sich rentenversicherungspflichtige Tätigkeit nur die Beitragszahlung verfolgungsbedingt unterblieben ist (vgl Urteil vom 10. Dezember 1974 - 4 RJ 379/73 - = SozR 5070 § 14 Nr 2 = BSGE 38, 245, 247; Urteil vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 - = SozR 5070 § 14 Nr 4; vgl auch Urteil des 1. Senats vom 13. März 1979 - 1 RJ 24/78 - = SozR 5070 § 14 Nr 8). Es besteht kein Anlaß, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen. Eine Leistung an Verfolgte aus der Rentenversicherung kommt nur dann in Betracht, wenn zumindest durch die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eine konkrete Beziehung zur Rentenversicherung hergestellt worden ist oder worden wäre. Erst das Vorliegen dieser Voraussetzung berechtigt dazu, eine - verfolgungsbedingt unterlassene Beitragsleistung zu fingieren und den Verfolgten für diese Zeit einem ordnungsgemäß Versicherten gleichzustellen. In anderen Fällen können Leistungen nur nach allgemeinem Wiedergutmachungsrecht gewährt werden; ein Schaden in der Sozialversicherung ist dann nicht eingetreten.
Nach alledem konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen