Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz während des Essens und Trinkens
Leitsatz (amtlich)
Bedingt die Staubentwicklung bei der Arbeit erhöhten Durst, so steht der Arbeitnehmer, der kurz vor Schichtende ein Getränk für den nächsten Arbeitstag holt, bei dieser Vorbereitungshandlung unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Orientierungssatz
1. Die Einnahme von Speisen und Getränken ist grundsätzlich dem persönlichen, nicht unfallversicherten Lebensbereich zuzurechnen; dazu gehören auch die deswegen auf dem Betriebsgelände zurückzulegenden Wege.
2. Auf Wegen zum Besorgen von Nahrungsmitteln zum alsbaldigen Verzehr besteht außerhalb des Betriebsgeländes Unfallversicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO.
3. In Ausnahmefällen kann ein so enger Zusammenhang zwischen Essen und Trinken einerseits und betrieblicher Tätigkeit andererseits bestehen, daß das Moment der Eigenwirtschaftlichkeit als unwesentlich zurücktritt; nimmt beispielsweise ein Versicherter, der bei seiner Beschäftigung dursterregenden Einwirkungen ausgesetzt ist, Flüssigkeit zu sich, um seinen Durst zu stillen, so steht das im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, wenn das Trinken der Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit wesentlich dient.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.05.1984; Aktenzeichen L 2 BU 28/83) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 29.04.1983; Aktenzeichen S 25 BU 195/82) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht.
Der Kläger war zur Unfallzeit in der Zentralwerkstatt eines Bergbauunternehmens beschäftigt. Am 29. Oktober 1981 endete seine Arbeitszeit um 14.30 Uhr. Etwa eine Stunde vor Schichtende ging er zu dem Teeautomaten vor der Waschkaue der Zeche. Auf dem - abgekürzten - Weg dorthin, der durch Regen aufgeweicht war, knickte er um, fiel hin und zog sich einen Verrenkungsbruch des linken Sprunggelenks zu. Nach seinen Angaben gegenüber der Beklagten hatte er am Unfalltage nach dem Säubern seines Arbeitsplatzes noch Zeit bis zum Schichtende. Diese habe er nutzen wollen, um sich von dem erwähnten Automaten Pfefferminztee zu holen. An manchen Tagen nehme er den Tee morgens nach dem Umkleiden von der Kaue aus mit zu seinem Arbeitsplatz. Diesmal habe er vorsorgen wollen, damit er den Tee am nächsten Morgen im Kühlschrank gehabt hätte. Mit Bescheid vom 5. Juli 1982 lehnte die Beklagte es ab, dem Kläger Verletztenrente zu gewähren, weil der Unfall sich anläßlich einer nicht versicherten eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 29. April 1983 und 17. Mai 1984). Die Nahrungsaufnahme sei grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen und stehe nicht unter Versicherungsschutz. Zwar hätten die Ermittlungen ergeben, daß der Kläger bis kurz vor dem Unfall eine Tätigkeit verrichtet habe, bei der in verstärktem Umfang Staub auftreten könne. Den Tee habe der Kläger aber nicht beschaffen wollen, um einen dadurch entstandenen Durst zu löschen. Deshalb habe der Weg zum Teeautomaten nicht der unmittelbaren Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gedient. Der Kläger sei auch nicht einer besonderen Betriebsgefahr ausgesetzt gewesen, denn der Weg zur Waschkaue sei lediglich durch Regen zu einer Gefahrenquelle geworden, die bei Regen und Nässe auf jedem Weg auftreten könne, der nicht mit abstumpfenden Baustoffen befestigt sei.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Juli 1982 zu verurteilen, den Unfall vom 29. Oktober 1981 als Arbeitsunfall anzuerkennen und nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Er hat wegen der Folgen des am 29. Oktober 1981 erlittenen Unfalls gemäß §§ 580 Abs 1 iVm 581 Abs 1 Nr 2 RVO dem Grunde nach seit dem Wegfall der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Verletztenrente. Entgegen der von den Vorinstanzen und der Beklagten vertretenen Auffassung hat der Kläger einen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO erlitten.
Um einen solchen Unfall handelt es sich nur dann, wenn zwischen der hier aufgrund des Arbeitsverhältnisses nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versicherten Tätigkeit und dem schädigenden Ereignis ein Zusammenhang bestanden hat. Dieser ist grundsätzlich zu verneinen, sofern sich der Unfall bei einer dem privaten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnenden Tätigkeit ereignet hat. Als der Kläger am 29. Oktober 1981 während der Arbeitszeit auf dem Zechengelände stürzte und sich den Bruch des linken Sprunggelenks zuzog, befand er sich auf dem Weg zum Teeautomaten in der Waschkaue, um sich Tee für den nächsten Arbeitstag zu holen. Die Nahrungsaufnahme wird vom Bundessozialgericht (BSG) grundsätzlich als unversicherte, eigenwirtschaftliche Tätigkeit aus dem privaten und persönlichen Lebensbereich angesehen, wozu auch der Weg zu dem Ort gehört, an dem der Versicherte essen bzw trinken will (vgl BSG in SozR 2200 § 548 Nr 20).
Beim Holen von Nahrungsmitteln wird nach der bisherigen Rechtsprechung allerdings rechtlich danach unterschieden, ob sich der Versicherte auf dem Betriebsgelände - dem Ort seiner Tätigkeit - bewegt oder ob er dieses verlassen hat. Im letzteren Fall besteht über § 550 Abs 1 RVO auch während der Arbeitszeit Versicherungsschutz auf Wegen zwischen dem Ort der Tätigkeit und der Stelle, an der das Essen eingenommen wird. Besucht der Versicherte nicht eine Gaststätte, sondern holt er sich Lebensmittel, um diese an der Arbeitsstätte alsbald zu verzehren, so ist er außerhalb des Betriebsgeländes auf dem Weg zum Einkauf der Lebensmittel und zurück geschützt (vgl BSGE 55, 139, 140 = SozR 2200 § 550 Nr 54). Spielt sich dagegen ein vergleichbarer Vorgang nur auf dem Werksgelände ab, etwa beim Lebensmittelkauf in der Kantine, so wird wegen des Charakters der Eigenwirtschaftlichkeit grundsätzlich ein Versicherungsschutz verneint. Der Senat hat es hier unentschieden gelassen, ob er dieser Rechtsprechung folgt, ob sie geändert werden kann oder ob es dazu einer Änderung des Gesetzes bedarf. Die besonderen Umstände im Falle des Klägers rechtfertigen ohnehin die Annahme eines Arbeitsunfalls.
In Ausnahmefällen kann jedenfalls ein so enger Zusammenhang zwischen dem Essen und Trinken einerseits und der betrieblichen Tätigkeit andererseits bestehen, daß das Moment der Eigenwirtschaftlichkeit als unwesentlich zurücktritt. Nimmt der Versicherte, der bei seiner Beschäftigung dursterregenden Einwirkungen ausgesetzt ist, Flüssigkeit zu sich, um seinen Durst zu stillen, so steht das im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, wenn das Trinken der Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit wesentlich dient (so BSG in SozR Nr 41 zu § 542 RVO aF für den Fall, daß die Versicherte der Einwirkung von Faserstaub bei der Herstellung von Matratzen ausgesetzt war; vgl auch aaO Nr 21 zu § 548 RVO; Urteil vom 29. Oktober 1981 - 8/8a RU 54/80 -). Im Urteil vom 28. Mai 1974 - 2 RU 195/72 - hat das BSG den Fall eines Versicherten entschieden, dessen Arbeiten in einer Ton- und Klebsandgrube mit Staubentwickelung verbunden waren und der deswegen bei kalter Witterung erwärmte Milch zu trinken pflegte. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall jenes Versicherten bei der Vorbereitung der Nahrungsaufnahme (Trinken) und seiner Tätigkeit wurde bejaht. Dabei hat das BSG ausgeführt, die Beurteilung, ob auch die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Bedingung und deshalb Mitursache des Unfalls gewesen sei, sei eine sich nach den Umständen des Einzelfalls richtende Wertentscheidung.
Die Arbeit des Klägers war geeignet, einen verstärkten Durst zu erzeugen. Das LSG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils festgestellt, der Kläger habe bis kurz vor dem Unfall eine Arbeit verrichtet, bei der in verstärktem Umfang Staub auftreten konnte. Im Tatbestand dieses Urteils heißt es weiter, nach Auskunft der Arbeitgeberin des Klägers habe dieser im wesentlichen Armaturen des Schreit- und Schildausbaus an einem elektrischen Schleif- und Bürstenbock gereinigt. Hierbei sei es zu Rost- und Kohlenstaubanfall gekommen. Zwar sei eine Staubabsaugung vorhanden gewesen, deren Kapazität habe aber nicht ausgereicht. Deshalb würden die Armaturen seit 1982 in einer geschlossenen Reinigungstrommel mechanisch gereinigt. Nach diesen von der Beklagten nicht mit Gegenrügen angegriffenen und daher für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen war die vom Kläger im Oktober 1981 verrichtete Arbeit - bedingt durch den dabei entstehenden Staub - geeignet, Durst zu erzeugen.
Das LSG hat es darauf abgestellt, daß der Kläger den Tee nicht holen wollte, um einen vorhandenen Durst zu stillen; er habe vielmehr für den nächsten Tag vorsorgen wollen. Auch an diese Feststellungen ist der Senat gemäß § 163 SGG gebunden, denn sie sind nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden. Folglich war der Kläger im Rahmen einer Vorbereitungshandlung unterwegs zum Teeautomaten, wobei er das Getränk wegen des für den nächsten Tag durch den Staub bei der Arbeit zu erwartenden Durstes bereitstellen wollte. Der sachliche Zusammenhang zwischen der staubigen Arbeit mit dem daraus resultierenden Durst erstreckt sich auch auf die Vorbereitungshandlungen, die der Beseitigung des Durstes und der Beeinträchtigung in der Arbeitsfähigkeit dienen (vgl das bereits erwähnte Urteil des 2. Senats vom 28. Mai 1974, auch SozR 2200 § 550 Nr 25). Das Verhalten des Klägers war vernünftig und dem Betrieb dienlich. Da er am 29. Oktober 1981 seine Arbeit erledigt und noch Zeit bis zum Schichtende hatte, war es zweckmäßig, das erfahrungsgemäß ohnehin benötigte Getränk schon jetzt zu holen und nicht am nächsten Tag die Arbeit zu unterbrechen. Insoweit ist im Rahmen des Versicherungsschutzes in der Unfallversicherung dem Arbeitnehmer ein gewisser Spielraum bei der Disposition der Vorbereitungshandlungen einzuräumen. Duldet der Arbeitgeber - wie hier - daß Getränke außerhalb der offiziellen Pausen geholt werden, dann kann das auch schon vorsorglich geschehen.
Nun hat die Rechtsprechung (vgl BSG in SozR 2200 § 550 Nr 24 mwN) unterschieden zwischen dem vor Arbeitsantritt vorgenommenen Weg zum vorsorglichen Einkauf von Nahrungsmitteln und Getränken, der versicherungsrechtlich nicht dem Weg gleichzusetzen sei, der im Zusammenhang mit einer Arbeitspause von der Arbeitsstätte aus zurückgelegt werde, um Lebensmittel oder Getränke für den alsbaldigen Verzehr am Arbeitsplatz zu kaufen. Hier hat der Kläger sich jedoch auf einem Weg (innerhalb des Betriebes) während der Arbeitszeit befunden. Für den Versicherungsschutz von Vorbereitungshandlungen fordert das BSG (vgl SozR 2200 § 539 Nrn 63 und 67), daß sie in engem sachlichem, örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. An dem zeitlichen Zusammenhang fehlt es im Falle des Klägers nicht deswegen, weil er den Tee für den nächsten Arbeitstag holen wollte. Eine kurz vor Schichtende für die folgende Schicht getroffenen Arbeitsvorbereitung wahrt in aller Regel den zeitlichen Zusammenhang. Die dazwischen liegende arbeitsfreie Zeit muß unberücksichtigt bleiben. Wird die an einem Tag beendete Arbeit am nächsten mit Schichtbeginn fortgesetzt, so steht die Arbeitsvorbereitung vom Vortag in zeitlichem Zusammenhang mit den nun zu verrichtenden Tätigkeiten. Einen Versicherungsschutz hat das BSG (Urteil vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 54/82 -) bei der Vorbereitung auf eine ehrenamtliche Tätigkeit noch vor Aushändigung der dafür erforderlichen Bestallungsurkunde bejaht. Insgesamt gesehen stand somit die Vorbereitungshandlung hier in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, der sie dienlich war.
Da der Kläger den Unfall bei einer versicherten Tätigkeit erlitten hat, steht ihm dem Grunde nach mit dem Tage nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit (§ 580 Abs 2 RVO) Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Arbeitsunfalles zu. Dahingehend war gemäß § 170 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 130 SGG zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen