Leitsatz (amtlich)
Die Anwartschaftszeit von 6 Monaten (AVAVG § 85 Abs 1 S 1 Alternative 2) hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist wenigstens 180 Tage (6 x 30 Tage) gemäß BGB § 191 in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat.
Leitsatz (redaktionell)
Für die Bestimmung der materiell-rechtlichen Fristen des AVAVG sind die Vorschriften der BGB §§ 186 ff anzuwenden.
Normenkette
BGB § 186 Fassung: 1896-08-18, § 191 Fassung: 1896-08-18; AVAVG § 85 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. April 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der am 10. November 1897 geborene Ehemann der Klägerin, F Sch (Sch.), wohnhaft in E, war seit 1956 als Angestellter - zuletzt in Kassel - tätig. Nachdem sein Beschäftigungsverhältnis am 30. April 1964, einem Donnerstag, geendet hatte, kehrte er am 2. Mai (Samstag) an seinen Wohnsitz zurück, meldete sich am Montag, den 4. Mai, beim Arbeitsamt E arbeitslos und beantragte gleichzeitig die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg). Dieses wurde ihm durch Bescheid vom 6. Mai 1964 mit der Begründung verweigert, er habe in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung keine Anwartschaft auf Alg erworben, da er nicht 26 Wochen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Die Tätigkeit ab 1. November 1962 sei nicht versicherungspflichtig, weil er dann das 65. Lebensjahr vollendet habe. Aus dem gleichen Grunde besitze er keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.
Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Sozialgericht (SG) war der Auffassung, innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren habe Sch. unstreitig nur 25 Wochen und 6 Tage in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Seine Arbeitslosmeldung lasse sich auch nicht auf den 3. Mai 1964 zurückbeziehen, da Sch. nicht gehindert gewesen sei, sich schon am Samstag, den 2. Mai, arbeitslos zu melden. Schließlich habe Sch. während der Rahmenfrist auch keine sechs Monate versicherungspflichtige Beschäftigung aufzuweisen, da es sich hierbei stets um sechs volle Monate handeln müsse, die nicht 180 Tagen gleichgesetzt werden könnten. Dies ergebe sich aus der Tatsache, daß § 85 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) gegenüber den §§ 190 AVAVG, 126 Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Sonderregelung getroffen habe, sowie aus der geschichtlichen Entwicklung dieser Vorschrift. Berufung wurde zugelassen.
Während des Berufungsverfahrens ist Sch. verstorben. Seine Ehefrau, die Klägerin, hat das Verfahren aufgenommen. Das Landessozialgericht (LSG) hat ihrem Antrag entsprechend das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, an die Klägerin auf den Antrag ihres verstorbenen Ehemannes vom 4. Mai 1964 Alg für die Dauer von 78 Tagen zu gewähren (Urteil vom 14. April 1965). Die Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG sei für Sch. vom 4. Mai 1962 bis zum 3. Mai 1964 gelaufen. Der 2. Mai 1964, ein Sonnabend, müsse für den Beginn der Frist schon deshalb ausscheiden, weil Sch. an diesem Tag wegen privater Besorgungen in K der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe (§ 76 AVAVG). Auch seien keine Gründe erkennbar, die ihn gehindert hätten, sich an diesem Tag bei der geöffneten Dienststelle der Beklagten arbeitslos zu melden. Obwohl er also nur eine anwartschaftsbegründende Zeit von 25 Wochen und 6 Tagen nachweisen könne, habe er in dieser Zeit jedoch sechs Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden. Denn nach § 190 AVAVG seien die §§ 125, 126 RVO in der Arbeitslosenversicherung uneingeschränkt anzuwenden. Da die Anwartschaftszeit von sechs Monaten nicht zusammenhängend zu verlaufen brauche, sei der Monat nach § 126 RVO mit 30 Tagen zu berechnen, so daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung von 180 Tagen die Anwartschaftszeit erfülle. Weil Sch. vom 4. Mai bis 31. Oktober 1962 an 181 Tagen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und später den Meldekontrollen regelmäßig nachgekommen sei, stehe ihm nach §§ 87 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG Anspruch auf Alg für 78 Tage zu.
Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 12. Mai 1965 zugestellte Urteil form- und fristgerecht Revision ein und beantragte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Kassel vom 29. Oktober 1964 zurückzuweisen.
Sie ist der Meinung, mit den Worten "oder sechs Monate" in § 85 Abs. 1 AVAVG hätten nach der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift lediglich die vom Reichsversicherungsamt (RVA) in GE 4924 (AN 35, 411) entwickelten Grundsätze übernommen werden sollen. Danach könne die Anwartschaftszeit auch durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung von weniger als 26 Wochen (182 Tagen) erfüllt werden, wenn sie volle sechs Monate gedauert habe. Dies entspreche dem in § 85 Abs. 1 AVAVG zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedanken, daß ein Arbeitsloser zur Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen wenigstens die Hälfte des Jahres hindurch eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben müsse. Nicht aber habe der Gesetzgeber beabsichtigt, schon eine Beschäftigung von nur 6 mal 30, also 180, Tagen zur Erfüllung der Anwartschaftszeit genügen zu lassen. § 126 RVO könne nicht auf die materiell-rechtliche Frist des § 85 AVAVG angewandt werden, weil § 190 AVAVG allein für verfahrensrechtliche Fristen auf §§ 124 ff RVO verweise. Schließlich sei die Ansicht des LSG schon deshalb bedenklich, weil dann bei Arbeitnehmern mit monatlicher Bemessung des Arbeitsentgelts, also hauptsächlich bei Angestellten, bereits eine versicherungspflichtige Beschäftigung von 180 Tagen die Anwartschaft erfülle, während die übrigen Arbeitnehmer, vor allem die Arbeiter, eine Beschäftigungszeit von 182 Tagen nachweisen müßten.
Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Revisionsgericht nicht vertreten.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Nach § 85 Abs. 1 AVAVG hat die Anwartschaftszeit des § 74 Abs. 1 AVAVG erfüllt und damit - wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen des § 74 Abs. 1 AVAVG vorliegen - einen Anspruch auf Alg, wer in der Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG sechsundzwanzig Wochen oder sechs Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat. Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und geht dem Tag der Arbeitslosmeldung, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt sind, unmittelbar voraus.
Der Ehemann der Klägerin hat sich unstreitig am 4. Mai 1964 arbeitslos gemeldet. Folglich lief für ihn die Rahmenfrist vom 4. Mai 1962 bis zum 3. Mai 1964. In dieser Zeitspanne war er wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nur bis zum 31. Oktober 1962, also lediglich 25 Wochen und 6 Tage versicherungspflichtig beschäftigt (§§ 57, 70 AVAVG). Damit scheidet die 1. Alternative des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG (sechsundzwanzig Wochen) für die Erfüllung der Anwartschaftszeit aus. Jedoch trifft die 2. Alternative (sechs Monate) zu und sie begründet den Anspruch der Klägerin. Denn diese sechs Monate sind mit jeweils dreißig Tagen zu berechnen, so daß dann bereits eine versicherungspflichtige Beschäftigung von mindestens 180 Tagen die Anwartschaftszeit des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG erfüllt.
Hierbei kann die Frage, ob sich diese Berechnungsweise aus § 126 RVO ergibt oder ob § 190 AVAVG nur bei verfahrensrechtlichen, nicht aber auch bei materiell-rechtlichen Fristen die §§ 124 ff RVO für anwendbar erklärt, dahinstehen. Gegen eine Anwendung des § 190 AVAVG auf die materiell-rechtliche 6-Monats-Frist des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG spricht vor allem, worauf schon das RVA (GE 3292 AN 28, 350) zu § 199 AVAVG aF hingewiesen hat, seine Stellung im Siebenten Abschnitt "Verfahren" des AVAVG. Desgleichen die Tatsache, daß das AVAVG die für mehrere Teilgebiete gemeinsam geltenden Vorschriften in einen besonderen - jetzt: Achten Abschnitt "Allgemeine Vorschriften" einordnet, der aber weder auf § 190 AVAVG noch auf §§ 124 ff RVO verweist oder einschlägige Vorschriften enthält. Andererseits weisen die Kommentare zum AVAVG (Draeger/Buchwitz/Schönefelder, § 190 Anm. II 2; Krebs § 190 Anm. 3) darauf hin, daß § 190 Abs. 1 AVAVG nicht nur vom Verfahren in der Arbeitslosenversicherung, sondern ganz allgemein von der "Arbeitslosenversicherung" spricht, worunter auch deren materiell-rechtliche Vorschriften verstanden werden können. Letztlich hat diese Zweifelsfrage hier aber schon deshalb nur theoretische Bedeutung, weil § 191 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anwendbar ist, der inhaltlich voll mit § 126 RVO übereinstimmt. Die Auslegungsvorschriften des BGB gelten nach § 186 BGB überall dort, wo in Gesetzen Frist- und Terminsbestimmungen enthalten sind. Ihr Geltungsbereich erstreckt sich nicht allein auf das Privatrecht, sondern auf sämtliche Rechtsgebiete, insbesondere auch auf das öffentliche Recht (RG-Räte Komm. Anm. 2 zu § 186; RGZ 100, 18; 113, 340; Soergel/Siebert, BGB 9 A § 186 Anm. 4; Staudinger, § 186 Anm. 4; Forsthoff, 7. Auflage § 9, S. 159), sofern in den einzelnen Gesetzen keine Sonderregelungen enthalten sind. Selbst wenn daher § 190 AVAVG nur hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Fristen auf §§ 124 ff RVO verweisen sollte, wären für die materiell-rechtlichen Fristen die §§ 186 ff BGB anzuwenden. Damit auch § 191 BGB, so daß bei einem nach Monaten bemessenen Zeitraum, der nicht zusammenhängend zu verlaufen braucht, der Monat zu dreißig Tagen gerechnet wird. Deshalb sind in § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG 180 Tage versicherungspflichtiger Beschäftigung als sechs Monate zu bewerten und erfüllen somit die Anwartschaftszeit, wenn die Vorschrift nicht selbst die Anwendung dieser Fristbestimmungen ausschließt. Das wäre dann der Fall, wenn § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG eine Beschäftigung von zwar nicht unbedingt zusammenhängend verlaufenden, aber doch jeweils vollen Monatszeiträumen voraussetzen und eine Zusammenrechnung von einzelnen Tagen zu Monaten nicht zulassen würde. Ob dies der Fall ist oder nicht, läßt sich aus dem Wortlaut des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG nicht ohne weiteres erkennen, weshalb er ausgelegt werden muß (BSG 13, 40, 41). Gegenstand dieser Gesetzesauslegung ist allein der im § 85 Abs. 1 AVAVG zum Ausdruck kommende "objektivierte Wille" des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt (BVerfG 1, 299, 312). Hierbei kann die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift nur insoweit zu deren Auslegung herangezogen werden, als sie in ihr selbst Ausdruck gefunden hat (BSG 6, 255; 8, 140, 141; 20, 10, 14).
Nach der Ansicht der Beklagten soll aber gerade die Entstehungsgeschichte des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG ergeben, daß unter Monaten im Sinne dieser Vorschrift nur volle Monate zu verstehen sind, wobei es ausgeschlossen sei, dreißig einzelne Tage einem Monat und 180 einzelne Tage sechs Monaten gleichzusetzen.
Gesetzgeberischer Sinn der in § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG geforderten Anwartschaftszeit ist es, einen Anspruch auf Alg nur dann entstehen zu lassen, wenn der Arbeitslose innerhalb der Rahmenfrist wenigstens 1/2 Jahr versicherungspflichtig beschäftigt war. Dies ergibt sich schon aus der Begründung des Entwurfs zum AVAVG vom 16. Dezember 1926 (Reichstagsdrucksache Nr. 2885, III. Wahlperiode), der in § 58 Abs. 1 eine versicherungspflichtige Beschäftigung von 26 Wochen innerhalb der letzten 12 Monate forderte. Hierzu heißt es: "Die neue Vorschrift verlangt nicht mehr, als daß ein Arbeitsloser, um die Unterstützung zu erhalten, im vorhergehenden Jahr wenigstens die Hälfte der Zeit über seine Beschäftigung auch wirklich ausgeübt hat" (S. 90 aaO). Hieraus folgerte das RVA zunächst in GE 3624 (AN 30, 43), 4152 (AN 31, 341) und 4360 (AN 32, 204), daß für die Berechnung der Anwartschaftszeit die Kalenderwoche als Einheit zugrunde zu legen sei, ohne Rücksicht darauf, an wieviel Tagen die Arbeitnehmertätigkeit tatsächlich ausgeübt wurde. Daher wurde die Anwartschaftszeit (§ 95 Abs. 1 AVAVG aF) nur als erfüllt angesehen, wenn das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis 26 Wochen oder 182 Tage gedauert hatte. In GE 4924 (aaO) wurde diese Auffassung jedoch aufgegeben und ausgeführt, der Begründung zu § 58 des Entwurfs sei nicht zu entnehmen, daß unter Woche im Sinne des § 95 Abs. 1 aF nur die "Kalenderwoche" zu verstehen sei. Nach der im Verkehr herrschenden Anschauung werde eine Tätigkeit vom Montag bis zum Sonnabend als Beschäftigung während einer "Woche" angesehen, weshalb gleiches auch bei § 95 Abs. 1 gelten müsse. Ebenso entspreche es der Verkehrsanschauung, daß die Hälfte eines Jahres auch dann sechs Monate seien, wenn diese, etwa infolge der Einbeziehung des Monats Februar nicht 26 Kalenderwochen und somit auch nicht 182 Tage umfaßten. "Ein halbes oder ein ganzes Jahr ist aber nach der Verkehrsanschauung, von der das Gesetz nicht abweicht, immer zurückgelegt, wenn das Beschäftigungsverhältnis sechs oder zwölf volle Monate gedauert hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Beschäftigungsverhältnis am 1. oder einem anderen Tage eines Kalendermonats beginnt; es muß nur einen oder mehrere volle Monate nach seinem Beginn enden".
Mit dieser Entscheidung wurde also grundsätzlich an der Notwendigkeit eines 26-wöchigen Beschäftigungsverhältnisses festgehalten und nur für diejenigen Einzelfälle, in denen mit einer Beschäftigung von sechs vollen Monaten zwar eine Beschäftigungszeit von einem halben Jahr, nicht aber auch eine solche von sechsundzwanzig Wochen (182 Tagen) erreicht wurde, eine Ausnahmeregelung geschaffen. Hierbei ergibt die wiederholte Verwendung der Worte "volle Monate" und der Hinweis, das Beschäftigungsverhältnis müsse "einen oder mehrere volle Monate nach seinem Beginn enden", daß das RVA diese Ausnahme nur für jene Fälle machen wollte, in denen die Beschäftigung jeweils sechs volle Monatszeiträume erfaßte. Die weitere Frage, ob auch eine Reihe von einzelnen Beschäftigungstagen allein oder zusammen mit vollen Beschäftigungsmonaten zu sechs Monaten umgerechnet werden könnten, hat die GE 4924 jedoch überhaupt nicht behandelt. Daher läßt sich insoweit aus ihr nichts zu dem hier anstehenden Auslegungsproblem entnehmen.
Allein diese Entscheidung zu berücksichtigen und nicht etwa eine unterschiedliche Behandlung von Lohn- und Gehaltsempfängern herbeizuführen, waren Ziel und Zweck der Neufassung des § 95 Abs. 1 Satz 1 AVAVG aF (jetzt § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG nF) in der Großen Novelle zum AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl I 1018). Dort wurde erstmals eine Beschäftigungszeit von sechsundzwanzig Wochen "oder sechs Monaten" in der Rahmenfrist verlangt. Zur Begründung der Einfügung oder Ergänzung heißt es im Regierungsentwurf zur Großen Novelle (BT-Drucks. 1274, II. Wahlperiode 1953, S. 125): "Die Vorschrift übernimmt ferner den in der GE 4924 entwickelten Grundsatz, daß die Anwartschaft auch durch versicherungspflichtige Beschäftigung von weniger als 26 Wochen, wenn sie volle 6 Monate gedauert hat, erfüllt ist; (ähnl. S. 126 zu § 99 AVAVG aF).
Aus der Entstehungsgeschichte des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG haben jedoch nur die Worte "oder sechs Monate" in die Vorschrift selbst Eingang gefunden. Keinen Niederschlag erfuhr die Formulierung der GE 4924, daß es sich um volle Monate handeln müsse. Schon allein aus diesem Grunde kann nicht angenommen werden, in dem Wortlaut des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG sei eine Entstehungsgeschichte zum Ausdruck gekommen, nach der nur sechs volle Monate die Anwartschaftszeit erfüllen. Abgesehen davon würde, selbst wenn man § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG dahin auslegen wollte, daß volle Monate gemeint seien, sich hieraus ebenso wenig wie aus der genannten GE etwas über deren Berechnung, insbesondere über die Zulässigkeit der Umrechnung von Tagen in Monate ergeben. Denn auch dreißig einzelne, nach § 191 BGB (§ 126 RVO) addierte Tage gelten nach diesen Vorschriften als voller Monat und erfüllen somit die Voraussetzungen einer auf die GE 4924 gestützten Auslegung des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG. Um eine Anwendung dieser Umrechnungsbestimmungen hier auszuschließen, müßte vielmehr in § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG selbst zum Ausdruck kommen, daß die Zusammenrechnung einzelner Tage zu Monaten ausgeschlossen sein sollte. Weder dies, noch überhaupt die Forderung "voller Monat" läßt sich jedoch an Hand der geschichtlichen oder einer anderen Auslegungsmethode aus dieser Vorschrift entnehmen. Vielmehr führt gerade das Fehlen des Wortes (Begriffs) "volle" (Monate) zu dem Schluß, daß eine solche Umrechnung bei § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG zugelassen ist. Denn wenn der Gesetzgeber bei der Neufassung dieser Vorschrift ein Verbot der Zusammenrechnung hätte zum Ausdruck bringen wollen, mußte erwartet werden, daß er dann die genaue, ihm bekannte Formulierung der GE 4924 übernommen, also sechs volle Monate verlangt hätte.
Spricht somit gerade die Heranziehung der Entstehungsgeschichte des § 85 AVAVG nicht gegen, sondern für die Zusammenrechnung von dreißig einzelnen Beschäftigungstagen zu Monaten, so wird dies auch allein dem Sinn der Vorschrift, insbesondere ihrer Ergänzung durch die Große Novelle gerecht: Nach § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG soll die Anwartschaftszeit dann erfüllt sein, wenn der Arbeitslose in der Rahmenfrist wenigstens ein halbes Jahr versicherungspflichtig beschäftigt war, unabhängig davon, ob diese Zeit in einem Stück oder in mehreren Beschäftigungsabschnitten zurückgelegt wird. Bei der Prüfung dieser Voraussetzung ist grundsätzlich nicht von Tagen, sondern von Wochen auszugehen. Somit erfüllen sechsundzwanzig Wochen versicherungspflichtiger Beschäftigung die Anwartschaftszeit. Da es aber nach der GE 4924 für die Frage, ob ein halbes Jahr versicherungspflichtiger Beschäftigung gegeben ist, entscheidend auf die Verkehrsanschauung ankommt, genügen sechs Monate einer solchen Beschäftigung auch dann, wenn sie nicht volle sechsundzwanzig Wochen umfassen (§ 85 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative). Nach der Verkehrsauffassung wird jedoch die Summe von insgesamt dreißig Tagen zwar nicht als Kalendermonat, indessen doch als ein voller Monatszeitraum und sechs solcher Monatszeiträume wiederum als ein halbes Jahr angesehen. Somit entspricht die Umrechnung von dreißig einzelnen Tagen gemäß § 191 BGB (§ 126 RVO) einem Monat und von 180 solcher Tage zu sechs Monaten dem Willen des Gesetzgebers, die Anwartschaftszeit dann als erfüllt anzusehen, wenn nach der Verkehrsanschauung eine versicherungspflichtige Beschäftigung ein halbes Jahr gedauert hat. Dieser Wille wird aber, wie dargelegt, sowohl aus der Entstehungsgeschichte als auch aus dem Wortlaut des § 85 AVAVG ersichtlich.
Gegen diese Auslegung kann nicht eingewandt werden, sie lasse die Forderung einer Beschäftigungszeit von sechsundzwanzig Wochen als sinnlos erscheinen, da diese immer 182 Tage, also stets mehr als 180 Tage umfasse. Hierbei wird, worauf das LSG zu Recht hinweist, übersehen, daß eine volle Woche im Sinne des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG nach herrschender Meinung (vgl. GE 4924 aaO; Krebs § 85 Anm. 13; Brodhun/Strippel/Hennig, Arbeitslosenversicherung, § 85 Anm. c) auch vorliegt, wenn die versicherungspflichtige Beschäftigung montags beginnt und an einem Sonnabend endet, sowie wenn sie eine betriebsübliche 5-Tage-Woche umfaßt. Enthielte § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG also nicht die 1. Alternative, die grundsätzlich auf Beschäftigungswochen abstellt, so könnten bei mehreren innerhalb der Rahmenfrist liegenden Beschäftigungsverhältnissen, die sich ausschließlich auf 5-Tage-Wochen erstrecken (wie durch Tarifverträge u. ä. zunehmend durchgesetzt), diese jeweils nur mit fünf Beschäftigungstagen angerechnet werden. So würde beispielsweise eine Beschäftigungszeit von 24 zusammenhängenden Wochen (168 Tagen) und zwei einzelnen 5-Tage-Wochen nur eine Beschäftigungszeit von 178 Tagen ergeben, mithin die Anwartschaftszeit nicht mehr erfüllen. Daher wird die 1. Alternative des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG, die eine versicherungspflichtige Beschäftigung von 26 Wochen verlangt, keinesfalls ausgehöhlt und sinnlos, wenn man in Anwendung des § 191 BGB (§ 126 RVO) bereits 180 Beschäftigungstage als sechs Monate und damit die 2. Alternative dieser Vorschrift als erfüllt ansieht. Die 1. Alternative ("sechsundzwanzig Wochen") behält vielmehr ihre Bedeutung in allen jenen Fällen, in denen nicht ein, sondern mehrere Beschäftigungsverhältnisse zusammen die Anwartschaftszeit erfüllen. Nur dann, wenn nach dieser 1. Alternative zwar nicht 26 Wochen versicherungspflichtiger Beschäftigung, jedoch wenigstens 180 einzelne versicherungspflichtige Beschäftigungstage vorliegen, kommt die 2. Alternative ("oder sechs Monate") zur Anwendung. Allein diese Auslegung des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG vermeidet übrigens das unbillige Ergebnis, daß in einem Fall ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis von 26 Wochen, das mit einem Freitag abschließt, also eigentlich nur 25 Wochen und 5 Tage umfaßt, nach GE 4924 (aaO) und der ihr folgenden Meinung als solches von 26 Wochen gilt, während ein anderes - wie das des Ehemannes der Klägerin - das während des Laufs einer Woche beginnt sowie endet und daher sogar 25 Wochen und 6 Tage umfaßt, die Anwartschaftszeit von 26 Wochen nicht erfüllt.
Schließlich kann noch darauf hingewiesen werden, daß im Beitragsrecht der Arbeitslosenversicherung der Monat allgemein zu dreißig Tagen anzusetzen ist (§ 164 Abs. 5 AVAVG).
Nach alledem hatte der Ehemann der Klägerin, der in der Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG 181 Tage versicherungspflichtig beschäftigt war, hierdurch sechs Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden. Mithin ist die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 185 Abs. 1 Satz 1 AVAVG).
Daher ist der Anspruch der Klägerin als seiner Rechtsnachfolgerin auf Gewährung von Alg für 78 Tage (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG) gerechtfertigt. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG mußte also zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen