Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitliche Begrenzung des Kindergeldbezuges
Leitsatz (amtlich)
Ein über 27 Jahre altes Kind, das sich infolge seiner fortdauernden Behinderung noch in Schul- oder Berufsausbildung befindet, ist nicht deshalb zu berücksichtigen, weil ihm eine zum Selbstunterhalt ausreichende Erwerbstätigkeit zwar möglich, aber nicht zuzumuten ist.
Orientierungssatz
Eine durch die Behinderung bedingte Verzögerung der Berufsausbildung ist ebenso wie jede andere krankheitsbedingte Verzögerung kein Umstand, der die grundsätzlich auf die Vollendung des 27. Lebensjahres begrenzte Berücksichtigung verlängert.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1982-01-21; BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 3 Fassung: 1982-01-21; BKGG § 2 Abs 3 Fassung: 1982-01-21
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.07.1983; Aktenzeichen L 7 Kg 29/81) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 26.03.1981; Aktenzeichen S 10 Kg 18/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für die Zeit von September 1980 bis Dezember 1982 Kindergeld unter Berücksichtigung seiner am 24. August 1953 geborenen Tochter Barbara zu zahlen war.
Barbara G. bestand im Sommer 1972 die Reifeprüfung. Zur Vorbereitung auf das beabsichtigte technische Studienfach begann sie im Herbst 1972 ein Praktikum in einem elektrotechnischen Betrieb, das sie jedoch im Februar 1973 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig beendete. Ab Wintersemester 1973/1974 studierte sie für das höhere Lehramt zunächst die Fächer Mathematik und Physik; ab Wintersemester 1974/1975 gab sie die Fachrichtung Mathematik zugunsten des Faches Geographie auf, ab Wintersemester 1975/1976 wählte sie Biologie statt Physik. Während des Wintersemesters 1976/1977 und des Sommersemesters 1977 war sie krankheitshalber vom Studium beurlaubt. Am 10. Dezember 1982 bestand sie das Staatsexamen.
Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 26. März 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1980 die Berücksichtigung der Tochter Barbara bei der Zahlung des Kindergeldes an den Kläger über den Monat August 1980 hinaus abgelehnt. Die Klage und die Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Hildesheim vom 26. März 1981; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Niedersachsen vom 12. Juli 1983). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch nicht gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zu. Die Kindergeldzahlung wegen Verzögerung der Ausbildung sei grundsätzlich, insbesondere auch im Falle der Erkrankung während der Ausbildung, auf den Zeitpunkt der Vollendung des 27. Lebensjahres begrenzt. Ein Verzögerungstatbestand iS des § 2 Abs 3 Satz 2 BKGG habe bei Barbara G. nicht vorgelegen. Sie sei in der streitigen Zeit auch nicht gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG zu berücksichtigen gewesen, weil sie imstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Schließlich entspreche es entgegen der vom Bundesarbeitsminister (BMA) in dem Runderlaß vom 22. Januar 1980 (GMBl S 145) vertretenen Auffassung auch nicht dem Ziel der gesetzlichen Regelung, die Zahlung des Kindergeldes über das 27. Lebensjahr hinaus auszudehnen, weil Barbara G. sich infolge einer fortdauernden Behinderung über August 1980 hinaus noch in der Ausbildung befunden habe und ihr - unabhängig von dem Umfang der Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit - eine zum Selbstunterhalt ausreichende Erwerbstätigkeit zwar möglich, aber nicht zumutbar gewesen sei.
Der Kläger trägt zur Begründung seiner - vom LSG zugelassenen - Revision vor, das LSG habe die Beurteilung des Umfanges der Behinderung seiner Tochter Barbara nicht auf das rückschauend wertende Gutachten des Sachverständigen Professor Dr.K stützen dürfen. Zudem habe das LSG bei der Subsumtion des Sachverhalts unter den Begriff der Behinderung den Zeitfaktor außer Betracht gelassen. Schließlich habe es nicht berücksichtigt, daß auch die subjektive Einschätzung des eigenen Leistungsvermögens durch die betroffene Tochter Barbara entscheidungserheblich gewesen sei. In jedem Falle müsse zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, daß es für Barbara G. unzumutbar gewesen sei, die Ausbildung zum Zwecke des Unterhaltserwerbes kurz vor dem Abschlußexamen abzubrechen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Juli 1983 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 26. März 1981 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit von August 1980 bis Dezember 1982 Kindergeld unter Berücksichtigung der Tochter Barbara zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und daher zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Barbara G. war in der streitigen Zeit für das dem Kläger zustehende Kindergeld nicht zu berücksichtigen.
Das LSG hat zunächst zutreffend entschieden, daß Barbara G. in der streitigen Zeit nicht deshalb zu berücksichtigen war, weil sie wegen geistiger oder seelischer Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten (§ 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG). Hierzu hat das LSG aufgrund des von ihm erhobenen Sachverständigenbeweises festgestellt, daß der bei Barbara G. seit 1971/1972 bestehende neurotisch-psychosomatische Symptomenkomplex zwar Krankheitswert hatte, daß sie aber gleichwohl in der Lage war, mit einer gewissen Regelmäßigkeit einer vorwiegend geistig geprägten Erwerbstätigkeit nachzugehen und sich so selbst zu unterhalten. Diese Feststellung ist für den erkennenden Senat bindend. Insbesondere sind die von der Revision dagegen erhobenen Angriffe unbeachtlich. Der Einwand, das LSG habe diese Feststellung nicht auf das Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. K stützen dürfen, weil dieser die geistig-seelische Leistungsfähigkeit Barbara G's während der streitigen Zeit nur rückschauend habe beurteilen können, richtet sich gegen die Überzeugungsbildung des LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Rüge mangelhafter Überzeugungsbildung ist jedoch beschränkt auf die Nichtbeachtung allgemeiner Erfahrungssätze oder Denkgesetze (BSG in SozR Nrn 56 zu § 128 SGG und 47 zu § 164 SGG). Ein derartiger Verstoß ist aber in der Verwertung eines rückschauend würdigenden Gutachtens über die Auswirkungen eines neurotisch-psychosomatischen Krankheitsbildes nicht zu erkennen. Auch die Revision legt einen solchen nicht schlüssig dar.
Auch soweit der Kläger die Feststellung des LSG, Barbara G. sei in der streitigen Zeit imstande gewesen, sich selbst zu unterhalten, mit der Rüge angreift, der Begriff des Außerstandeseins zur Selbstunterhaltung könne nicht nur nach objektiven Merkmalen beurteilt, sondern müsse unter Berücksichtigung der subjektiven Beurteilung der Insuffizienz durch den Betroffenen selbst abgegrenzt werden, begründet er nicht schlüssig das Vorliegen eines Verstoßes gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze, weil auch der Umfang der vom Betroffenen selbst empfundenen Ausfallerscheinungen einer objektiven Beurteilung und Bewertung zugänglich ist. Soweit die Revision die Abwägung der einzelnen Tatbestandsmerkmale durch das LSG für unzutreffend hält, handelt es sich ebenfalls um nicht rechtserhebliche Einwendungen gegen die Überzeugungsbildung des LSG.
Das LSG hat auch zutreffend die Anwendbarkeit des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG auf Barbara G. verneint. Der Grundsatz, daß Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben und sich noch in Schul- oder Berufsausbildung befinden, berücksichtigt werden, ist durch § 2 Abs 3 BKGG - die weitere Ausnahmeregelung des § 2 Abs 4 BKGG entfällt hier von vornherein - dahin modifiziert worden, daß ihre Berücksichtigung stets mit der Vollendung des 27. Lebensjahres endet, wenn nicht einer der in Abs 3 erschöpfend aufgeführten Ausnahmetatbestände vorliegt; letzteres ist bei Barbara G. nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG aber nicht der Fall.
Das LSG hat schließlich auch zutreffend entschieden, daß die durch die Erkrankung Barbara G's bedingte Beurlaubung im Wintersemester 1976/1977 und im Sommersemester 1977 und die dadurch mitbedingte Verzögerung des Abschlusses der Ausbildung über das 27. Lebensjahr hinaus ihre Berücksichtigung für das Kindergeld über August 1980 hinaus nicht rechtfertigt. Der erkennende Senat hat, worauf das LSG zutreffend hinweist, bereits in dem Urteil vom 20. September 1977 - 8/12 RKg 3/77 - (SozR 5870 § 2 Nr 7) entschieden, daß eine Verlängerung des Kindergeldbezuges nicht eintritt, wenn sich der Abschluß der Schul- und Berufsausbildung wegen einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankung über das 27. Lebensjahr hinaus verzögert. Der Senat hat diese Abgrenzung sowohl aus der Systematik des Gesetzes als auch aus der Tatsache abgeleitet, daß das Kindergeld auch während der Erkrankung gezahlt worden ist und es daher der Zielsetzung des Gesetzes - Vollendung des 27. Lebensjahres als zeitliche Höchstgrenze im Falle der Ausbildungsverzögerung - widerspricht, wenn die Bezugszeit des Kindergeldes wegen einer zwischenzeitlichen Erkrankung im Ergebnis um die Zeit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit verlängert wird. Dies ist in dem - als Verwaltungsvorschrift den Senat nicht bindenden - Runderlaß des BMA vom 22. Januar 1980 - IIb 5 - 28051/1 - (mitgeteilt im Gemeinsamen Rundschreiben des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit -BMJFG- und des Bundesministers des Inneren - BMI- vom 12. Februar 1980 -GMBl 1980 S 145-; vgl insoweit inhaltlich übereinstimmend auch den Runderlaß 375/74 der Bundesanstalt für Arbeit, mitgeteilt im Gemeinsamen Rundschreiben des BMJFG und des BMI vom 30. August 1982 - GMBl 1982, 437, 461, RdNr 2.239 Abs 3 -) nicht hinreichend berücksichtigt, soweit es hier heißt, ein über 27 Jahre altes Kind, das sich infolge seiner fortdauernden Behinderung noch in Schul- oder Berufsausbildung befindet, sei unabhängig von dem Umfang der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit auch dann zu berücksichtigen, wenn ihm eine zum Selbstunterhalt ausreichende Erwerbstätigkeit zwar möglich, aber nicht zumutbar sei. Diese Abgrenzung findet im Wortlaut der Gewährungstatbestände des § 2 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 und 3 BKGG keine Grundlage; sie stellt auch eine der Zielsetzung beider Vorschriften nicht entsprechende Verknüpfung der Merkmale des Ausbildungsverzögerungstatbestandes (Nr 1) und des Behinderungstatbestandes (Nr 3) zu einem eigenständigen weiteren Leistungsgrund dar, dessen Anspruchsvoraussetzungen mit der Berücksichtigung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit unterhalb der Erwerbsunfähigkeit und vor allem mit der Zumutbarkeitsbeschränkung zudem wesentlich geringer sind, als die in § 2 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 und 3 BKGG geregelten Leistungsmerkmale. Der Senat läßt dahingestellt, ob eine derartige Erweiterung des Kindergeldanspruches sozialpolitisch erforderlich oder auch nur wünschenswert ist; dafür könnte sprechen, daß der möglicherweise bei Behinderten erhöhten und gerade für diesen Personenkreis schwerer wiegenden Gefahr des Abbruches einer - im Alter von 27 Jahren nicht selten kurz vor dem Abschluß stehenden - Schul- oder Berufsausbildung aus wirtschaftlichen Gründen so am wirksamsten begegnet werden kann und deshalb eine behinderungsbedingte Verzögerung der Ausbildung über das 27. Lebensjahr hinaus in gleicher Weise als schutzbedürftig angesehen werden sollte wie die in § 2 Abs 3 Satz 2 Nrn 1 bis 3 BKGG genannten Verzögerungstatbestände. Indessen beruht das Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Regelung nicht auf einer vom Gesetzgeber nicht erkannten unbeabsichtigten Gesetzeslücke, die durch die Rechtsprechung geschlossen werden könnte (BSGE 42, 172, 176; 47, 109, 111). Vielmehr handelt es sich bei der Nichtberücksichtigung der Ausbildungsverzögerung infolge einer Behinderung - ebenso wie bei dem vergleichbaren Fall der Ausbildungsverzögerung durch Krankheit - um einen Sachverhalt, den der Gesetzgeber bisher bewußt nicht in die Ausnahmetatbestände für die Gewährung des Kindergeldes über das 27. Lebensjahr hinaus einbezogen hat. Dementsprechend hat die Beklagte die Berücksichtigung des Kindes Barbara G. bei der Bemessung des dem Kläger in der streitigen Zeit zu zahlenden Kindergeldes zutreffend abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen