Leitsatz (amtlich)
1. Anspruch auf Übergangsgeld nach § 59 AFG hat auch derjenige Behinderte, der wegen seiner Behinderung auch ohne die Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Fortbildung oder Umschulung keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben könnte.
2. Die Anforderung des § 25 Nr 3 RehaAnO vom 31.7.1975 (ANBA 1975, 994), daß der Behinderte vor Beginn der Maßnahme beruflich tätig gewesen ist, um Übergangsgeld erhalten zu können, steht nicht im Einklang mit der der Bundesanstalt für Arbeit nach § 58 Abs 2 AFG erteilten Ermächtigung.
Normenkette
AFG § 59 Abs 1 S 1, § 59 Abs 1 S 2 Nr 1, § 59a Abs 1 S 2, § 58 Abs 2; RehaAnO 1975 § 25 Nr 3 Fassung: 1975-07-31
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.01.1987; Aktenzeichen L 9 Al 39/86) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 14.11.1985; Aktenzeichen S 8 Al 80/83) |
Tatbestand
Im Prozeß geht es um die Rechtsfrage, ob einen Anspruch auf Übergangsgeld (Übg) wegen Teilnahme an einer Maßnahme auch derjenige Behinderte hat, der zum einen wegen seiner Behinderung auch ohne die Teilnahme keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben könnte und zum anderen vor Beginn der Maßnahme nicht beruflich tätig gewesen ist.
Die im Jahre 1957 geborene Beigeladene kann wegen Mongolismus keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Zur dauerhaften Eingliederung in eine Werkstatt für Behinderte (WfB) nahm sie vom 3. September 1979 bis zum 2. September 1981 an einer "Maßnahme im Eingangsverfahren und Arbeitstrainingsbereich" der Lebenshilfe-Werkstätten für Behinderte in B. teil. Der klagende Sozialhilfeträger trug die Kosten. Er leitete den Anspruch der Beigeladenen gegen die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) auf sich über. Diese hatte, weil die Förderung wegen des bei der Beigeladenen bestehenden Gebrechens notwendig war, ua Ausbildungsgeld (Abg) in Höhe von 65,-- DM, später 85,-- DM monatlich gewährt. Der Kläger verlangte - erfolglos- im Wege der Erstattung Übg, hilfsweise höheres Abg.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Würzburg den ablehnenden Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung von Übg an den Kläger verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, die Revision zugelassen und ausgeführt, der Beigeladenen habe Übg nach § 56 Abs 3 Nr 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zugestanden. § 25 Nr 3 der Anordnung des Verwaltungsrats der BA über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter idF vom 31. Juli 1975 - ANBA S 994 - (AReha aF), der eine vorherige berufliche Tätigkeit zur Voraussetzung gemacht habe, sei insoweit nicht durch die gesetzliche Ermächtigung gedeckt. Auch § 59 Abs 1 Satz 1 AFG aF der allein auf den Umfang der Bildungsmaßnahme abstelle, stehe dem Anspruch der Beigeladenen nicht entgegen. Die Fähigkeit zur ganztägigen Erwerbstätigkeit sei kein Kriterium für den Anspruch.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 59 AFG aF. Unabhängig von der inzwischen aufgehobenen Voraussetzung des § 25 Nr 3 AReha aF "wenn sie vor Beginn der Maßnahme beruflich tätig gewesen sind, ..." sei nach § 59 Abs 1 AFG aF Voraussetzung für den Bezug von Übg die generelle Möglichkeit des Behinderten, eine ganztägige Erwerbstätigkeit auszuüben. Auch für das hilfsweise geforderte erhöhte Abg gebe es keine Rechtsgrundlage.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
§ 59 Abs 1 Satz 1 AFG stehe der Gewährung von Übg an Behinderte nicht entgegen, weil er nur den Bezug von Übg aus Lohnersatz neben Lohn vermeiden solle. Da das Abg für Behinderte sich am Bedarf ausrichten müsse, dürfe es nicht nur in Höhe von 75,-- DM bzw 95,-- DM monatlich festgesetzt werden.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zutreffend zur Zahlung von Übg für die Beigeladene an den Kläger verurteilt.
Das Recht des Klägers gründet sich, obwohl dieser den Anspruch des Beigeladenen schon vor dem 1. Juli 1983 auf sich übergeleitet hatte, auf § 104 SGB 10 (vgl das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- in BSGE 60, 197, 198 f = SozR 4100 §56 Nr 19). Ob mit dem 7. Senat des BSG die Überleitungsanzeige bei Inkrafttreten der §§ 102 ff SGB 10 als nicht wirkungslos anzusehen und daher der Versicherte nach § 75 SGG beizuladen ist (Urteil vom 23. Oktober 1985 - 7 RAr 30/85 -), kann wegen der auch hier erfolgten Beiladung der Versicherten offen bleiben.
Nach § 59 Abs 1 Satz 2 Nr 1 AFG in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) hatte der Behinderte Anspruch auf Übg, wenn er keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben konnte, weil er als Erwachsener an einer Maßnahme der Berufsfindung und Arbeitserprobung oder der Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der Behinderung erforderlichen Grundausbildung teilnahm. Die Tätigkeit der Beigeladenen in der WfB war eine "weitere Bildungsmaßnahme" iS von § 19 Abs 1 Nr 4 AReha aF.
Das LSG hat festgestellt, daß die tatsächlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Übg vorliegen. Die Revision bezweifelt das nicht. Der Streit geht allein um die Rechtsfrage, ob die ebenfalls festgestellte Tatsache, daß die Beigeladene zu einer Erwerbstätigkeit überhaupt unfähig ist und vor Beginn der Maßnahme nicht beruflich tätig gewesen war, dem Anspruch entgegensteht.
Für die Rechtsansicht der Revision, Voraussetzung für das Übg sei die generelle Möglichkeit, Einkommen durch eine ganztägige Erwerbstätigkeit zu erzielen, spricht einiges. Man kann die erwähnte Vorschrift des AFG so verstehen, daß der Behinderte Anspruch auf Übg nur hat, wenn er allein wegen der Teilnahme an der Maßnahme nicht arbeiten kann. Da die BA ihre Leistungen grundsätzlich bei wirtschaftlichen Schäden aus einem nicht funktionierenden Arbeitsmarkt zu erbringen hat, während ihr nicht die Fürsorge für die Folgen von Krankheit oder Gebrechen obliegt, könnte man annehmen, daß wirtschaftliche Verluste, die sich sowohl aus den Bedingungen des Arbeitsmarktes als auch aus Krankheit oder Gebrechen ergeben (vgl auch BSGE 60, 197, 200 = SozR 4100 § 56 Nr 19), nicht von der BA, sondern von der Krankenkasse oder dem Träger der Sozialhilfe zumal dann abzudecken sind, wenn - wie hier - das Gebrechen den bedeutenderen Umstand darstellt und wenn man dem Übg Lohnersatzfunktion zuschreibt (Krebs, AFG, Rz 1 zu § 59, Stand: Juni 1986; vgl ferner SozR 4100 § 59 Nr 2 S 3 - querschnittsgelähmter Zimmerer-Lehrling - und Gagel/Steinmeyer AFG, § 59 Nr 4).
Dennoch überwiegen die Gründe für die Ansicht der Vorinstanzen. Die §§ 56 ff AFG, die vom RehaAnglG zusammen mit allen anderen Rehabilitationsvorschriften in den verschiedensten Gesetzen eingefügt wurden, erteilen auch der BA einen über die Sorge für das Funktionieren des Arbeitsmarktes hinausgehenden Rehabilitationsauftrag, soweit nicht die Rentenversicherung, die Unfallversicherung oder die Kriegsopferversorgung zuständig sind (Begründung A2 zum Regierungsentwurf des RehaAnglG, BT-Drucks VI/3742, S 41). Daß die BA nur berufsfördernde Leistungen kennt, steht nicht entgegen (aaO S 42). Wenn die BA Hilfen gewähren muß, die erforderlich sind, um die Erwerbsfähigkeit der Behinderten notfalls auch erst "herzustellen" (§ 56 Abs 1 Satz 1 AFG), dann schließt das eindeutig auch Hilfen für Behinderte ein, die ohne die Maßnahme nicht ganztägig arbeiten könnten.
Nach § 59 AFG wird Übg nur "Behinderten" gezahlt, also "Personen, deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben, infolge der Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb besonderer Hilfen bedürfen" (§ 2 Abs 1 AReha; ähnlich BSG in SozR 4100 § 56 Nr1). Von diesen Behinderten kann nur ein kleiner Teil trotz der Behinderung eine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben. Der Fall, daß der Behinderte zwar noch voll arbeiten kann, aber auf niedrigerem Niveau als ohne Behinderung, und deshalb beruflich eingegliedert werden muß, ist nicht der Regelfall. Wäre die Meinung der Beklagten richtig, dann erhielte die Mehrheit der - an einer Maßnahme teilnehmenden - Behinderten kein Übg, dieses stünde nur den Voll-Erwerbsfähigen zu, und gerade die Schwerbehinderten wären auf die Sozialhilfe angewiesen.
Für die Auffassung des Senats spricht auch § 59a Abs 1 Satz 2 AFG idF des RehaAnglG (aF). Danach wird, wenn der Behinderte kein Arbeitsentgelt erzielt hat, das Übg nach einem Pauschbetrag berechnet, wobei von einer Beschäftigung auszugehen ist, die für den Behinderten ohne die Behinderung in Betracht käme. Die Vorschrift zeigt, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit nicht außer acht gelassen hat, der Behinderte könne auch durch die Behinderung erwerbsunfähig geworden sein.
Die Revision will einen Anspruch der Beigeladenen auf Übg auch deshalb verneinen, weil diese nicht, wie das § 25 Nr 3 AReha aF verlangt, vor Beginn der Maßnahme beruflich tätig gewesen ist. § 25 Nr 3 der AReha steht jedoch nicht im Einklang mit der der BA in § 58 Abs 2 AFG erteilten Ermächtigung. Der 7. Senat des BSG hat für die insoweit gleichlautende Vorschrift des § 25 Nr 2 aaO bereits ausgesprochen, daß die BA damit eine inhaltliche Veränderung der Anspruchsvoraussetzungen des § 59 Abs 1 Satz 2 AFG idF vor dem RehaAnglG vorgenommen habe, obwohl sie gemäß § 58 Abs 2 Satz 1 AFG nur "das Nähere" über diese Voraussetzungen regeln dürfe (SozR 4100 § 59 Nr 2 S 4). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat für die hier streitige Vorschrift an.
Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen, ohne daß es auf den Hilfsantrag des klagenden Bezirks auf höheres Ausbildungsgeld (§ 24 AReha) noch ankäme. Die Höhe des Übg ist nicht Gegenstand des Verfahrens; für den Fall, daß der Behinderte vor der Maßnahme kein Arbeitsentgelt erzielt hat, trifft § 59a Satz 1 idF des RehaAnglG eine nähere Bestimmung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen