Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung. Wegfall der EU
Orientierungssatz
Eine Rente wegen EU eines Versicherten, dessen Gesundheitszustand sich soweit gebessert hat, daß er wieder halb- bis untervollschichtig einsatzfähig ist, darf nur entzogen werden, wenn ihm das ArbA oder der Rentenversicherungsträger einen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten können.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.05.1975; Aktenzeichen L 2 J 203/74) |
SG Trier (Entscheidung vom 16.10.1974; Aktenzeichen S 2 J 345/71) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Mai 1975 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Beklagte die dem Kläger zuerkannte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entziehen darf (§ 1286 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1928 geborene Kläger hat den Beruf eines Kaufmanns erlernt, aber nicht ausgeübt. Er war von 1946 bis 1961 als Bauarbeiter und ab 1965 als Fabrikarbeiter beschäftigt. Dann erkrankte er an Tuberkulose. Als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 100 vH und um 80 vH seit 1973 wurden 1974 ua eine Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks und eine leichte Muskelverschmächtigung des rechten Armes anerkannt. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 23. Juni 1970 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 23. September 1971 entzog sie die Rente, nachdem bei der ärztlichen Nachuntersuchung ein frischer spezifischer Prozeß nicht mehr festgestellt und der Kläger als wieder halb- bis untervollschichtig einsatzfähig beurteilt worden war.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Entziehungsbescheid abgewiesen (Urteil vom 16. Oktober 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 26. Mai 1976 das Urteil des SG und den Entziehungsbescheid vom 23. September 1971 aufgehoben. Es hat ausgeführt, eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse sei seit Mitteilung des Bewilligungsbescheides vom 23. Juni 1970 nicht eingetreten. Zu den in § 1286 Abs 1 RVO erwähnten Verhältnissen, die für das Bestehen oder Nichtbestehen des Rentenanspruchs maßgebend seien, gehörten das Maß der gesundheitlichen Leistungseinschränkung und die Arbeitsmarktlage. Der gesundheitliche Befund habe sich gebessert, jedoch kein zur Rentenentziehung berechtigendes Ausmaß erreicht. Der Kläger könne nur leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen und geheizten Räumen, zunächst nur halbschichtig, leisten. Damit sei ihm als Teilzeitarbeitskraft der Arbeitsmarkt verschlossen. - Diese Auffassung hat das LSG aus Veröffentlichungen der obersten Arbeitsbehörden und Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit in einer anderen Sache gewonnen. - Der Bereich des für den Kläger zuständigen Arbeitsamtes sei unterdurchschnittlich industrialisiert. Deshalb müsse davon ausgegangen werden, daß der Kläger einen Arbeitsplatz nicht finden könne. Weder die Beklagte noch das Arbeitsamt hätten ihm einen solchen angeboten.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat der Senat die Revision im Hinblick auf die beim Großen Senat (GS) anhängigen Vorlagen zur Frage der Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit in Verbindung mit dem Teilzeitarbeitsmarkt zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und sinngemäß beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Es sei denkbar, daß er, weil er leichte bis mittelschwere Tätigkeiten halb- bis untervollschichtig verrichten könne, auf leichte vollschichtige Tätigkeiten verwiesen werden könne.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, das LSG habe bindend festgestellt, daß weder die Beklagte noch das Arbeitsamt ihm einen in Betracht kommenden Arbeitsplatz angeboten hätten. Damit könne davon ausgegangen werden, daß ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zu weiteren Ermittlungen zurückzuverweisen ist.
Zu Recht hat das LSG § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO dahin ausgelegt, daß rechtserhebliche Verhältnisse, in denen eine Änderung eingetreten sein muß, um die Rentenentziehung zu begründen, solche Verhältnisse sind, die für das Vorliegen von Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit rechtserheblich sind. Dies sind zum einen die gesundheitliche Leistungsfähigkeit für eine beruflich zumutbare Tätigkeit, zum anderen das Vorhandensein eines entsprechenden Teilzeitarbeitsmarktes, wenn der Versicherte gesundheitlich bedingt nur zu einer zeitlich eingeschränkten Tätigkeit fähig ist. Diese Rechtsauffassung zur Rentenentziehung ist auch in der Entscheidung des GS vom 10. Dezember 1976 zum Ausdruck gebracht (Abschnitt B II 5). In dem Beschluß hat der GS als Grundsatz ausgesprochen, daß der Versicherte auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden darf, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, sowie daß dem Versicherten der Arbeitsmarkt verschlossen ist, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten können; dabei darf der Versicherte in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann. Das LSG hat zwar die Akten des Arbeitsamts beigezogen, aber daraus nur das arbeitsamtsärztliche Gutachten vom 4. Dezember 1973 erwähnt. Es hat gesagt, weder die Beklagte noch das Arbeitsamt hätten dem Kläger einen Arbeitsplatz angeboten, jedoch nicht ausgeführt, was die Beklagte und das Arbeitsamt im einzelnen unternommen haben, um dem Kläger einen Arbeitsplatz anzubieten, zu welchen Zeiten und wie lange sie sich derart bemüht haben und wie sich der Kläger zu solchen Bemühungen gegenüber dem Arbeitsamt und der Beklagten verhalten hat.
Solcher Feststellungen bedarf es zur Prüfung eines dem Kläger offenen oder verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes. Dabei wird das LSG auch den Umfang der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit des Klägers neu prüfen können, wie die Beklagte angeregt hat.
Bei der neuen Entscheidung unter Heranziehung der Grundsätze des GS im Beschluß vom 10. Dezember 1976 wird das LSG auch die Besonderheiten einer auf die Aufhebung eines Rentenentziehungsbescheides gerichteten Anfechtungsklage zu berücksichtigen haben (vgl SozR Nr 7 zu § 123 SGG). In diesem Zusammenhang bedeutet die Entscheidung des GS vom 10. Dezember 1976 nicht die Schaffung einer "neuen Rechtslage"; denn in dem Beschluß sind die §§ 1246, 1247 RVO in Beziehung zum Teilzeitarbeitsmarkt nur ausgelegt worden - wenn auch unter Mitberücksichtigung des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974. Doch war schon nach §§ 1236, 1237 Abs 1 und 3 Satz 1 Buchst c, § 1240 RVO in der Fassung vom 23. Februar 1957 eine Berufsförderung durch Hilfe zur Erlangung einer Arbeitsstelle vorgesehen. Entsprechendes gilt für den vom GS herangezogenen § 103 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der Fassung vom 18. Dezember 1975 gegenüber § 103 Abs 1 und 2 AFG in der Fassung vom 25. Juni 1969.
Da die bisherigen Feststellungen des LSG zur Entscheidung durch das Revisionsgericht nicht ausreichen, ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Falls das LSG eine vollschichtige Einsatzfähigkeit des Klägers für leichte Arbeiten feststellen sollte, ist zu beachten, daß der Beschluß des GS sich nur auf die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit in Beziehung zum Teilzeitarbeitsmarkt beschränkt, weil gerade der Teilzeitarbeitsmarkt sich einem hinreichenden Überblick entzieht (GS Abschnitt B II 3, 12. Absatz, des Beschlusses vom 10. Dezember 1976; zum Arbeitsmarkt für vollschichtig einsatzfähige Versicherte vgl SozR Nr 108 zu § 1246 RVO und Urteil vom 27.5.1977 - 5 RJ 28/76 - Pressemitteilung Nr 36/77 des BSG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen