Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Umdeutung von freiwilligen Beiträgen in Pflichtbeiträge
Leitsatz (redaktionell)
Freiwillige Beiträge, die der Versicherte in der irrtümlichen Annahme der Versicherungsberechtigung für Zeiten der Versicherungspflicht entrichtet, sind nicht in Pflichtbeiträge umzudeuten. RVO § 1446 aF und RVO § 1422 nF regeln lediglich den umgekehrten Fall der Umdeutung von irrtümlich geleisteten Pflichtbeiträgen in freiwillige Beiträge.
Normenkette
AVG § 144 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1422 Fassung: 1972-10-16, § 1446 Fassung: 1924-12-15
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Dezember 1975 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 15. Januar 1975 wird insoweit zurückgewiesen, als das Sozialgericht die Klage gegen den Rentenbescheid vom 21. September 1973 abgewiesen hat.
Im übrigen wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Klägerin zu Recht die Berechnung ihrer Rente nach Mindesteinkommen verlangt (Art. 2 § 55 a Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -).
Die 1914 geborene Klägerin hatte sich, nachdem sie als Fabrikarbeiterin pflichtversichert gewesen war, seit 1941, als sie in der Landwirtschaft ihres Vaters mitarbeitete, freiwillig weiterversichert. Im November 1954 nahm sie eine Tätigkeit als Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft ihrer Schwester auf. Für die Jahre 1954, 1955 und 1956 entrichtete sie jeweils 26 Wochenbeitragsmarken und für 1957 7 Monatsbeitragsmarken. Nach einer Betriebsprüfung im Geschäft ihrer Schwester durch die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) im Jahre 1958 sind für die Zeit seit Januar 1958 in den Versicherungskarten Arbeitgeberentgeltbescheinigungen der Schwester eingetragen.
In dem Rentenbescheid der Beklagten vom 21. September 1973 sind Pflichtbeiträge für weniger als 25 Jahre festgestellt. Die Klägerin meint, die Mindestpflichtversicherungszeit von 25 Jahren zur Berechnung einer höheren Rente nach Mindesteinkommen gemäß Art. 2 § 55 a Abs. 1 ArVNG in der Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) werde durch Berücksichtigung der für die Zeit von November 1954 bis Ende 1957 entrichteten Markenbeiträge als Pflichtbeiträge erreicht; sie sei während dieser Zeit versicherungspflichtig gewesen.
Mit Bescheid vom 17. Januar 1974 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für die Zeit von November 1954 bis Dezember 1957 ab (§ 1418 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung); der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 26. Juni 1974 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Rentenbescheid vom 21. September 1973 und den Bescheid vom 17. Januar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1974 abgewiesen (Urteil vom 15. Januar 1975).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, die Rente der Klägerin nach Mindesteinkommen neu festzustellen und dabei zusätzlich 20 Versicherungsmonate, die in der Zeit von November 1954 bis Dezember 1957 durch Markenbeiträge belegt seien, als Pflichtversicherungsmonate zu werten (Urteil vom 8. Dezember 1975). Bei dieser Entscheidung brauchte das LSG über den Hilfsantrag der Klägerin auf Zulassung der Nachentrichtung von Beiträgen nicht mehr zu entscheiden. Zu seiner Sachentscheidung hat das LSG sinngemäß ausgeführt, in der Zeit von November 1954 bis Dezember 1957 habe objektiv Versicherungspflicht für die Klägerin bestanden. Der Versicherte könne vom Träger der Arbeiterrentenversicherung die Feststellung verlangen, daß während der mit Beitragsmarken belegten Zeiten ein gültiges Versicherungsverhältnis bestanden habe (Hinweis des LSG auf "§ 1223 Abs. 2 Satz 1 RVO, ähnlich § 1445 RVO in der Fassung von 1957"; gemeint sind wohl § 1423 Abs. 3 Satz 1 RVO nF und § 1445 RVO aF). Der Begriff "gültiges Versicherungsverhältnis" umfasse auch den Rechtsgrund, aus dem sich die Wirksamkeit des Beitrags herleite. Für den - umgekehrten - Fall der Verlagerung der Beiträge vom subjektiv unrichtigen Rechtsgrund der Versicherungspflicht auf den objektiv vorhandenen Rechtsgrund eines Versicherungsrechts habe es einer besonderen Regelung - § 1422 RVO (Rückforderung der Beiträge durch den Versicherten) - bedurft. Dagegen gebe es bei objektiver Versicherungspflicht allein die Möglichkeit, geleistete Beiträge in Vermögen des Versicherungsträgers zu belassen.
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wegen Abweichung des Urteils des LSG von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. Oktober 1968 - 1 RA 177/67 (SozR Nr. 1 zu § 1446 RVO aF) zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, daß das LSG die für die Zeit von November 1954 bis Ende 1957 entrichteten freiwilligen Beiträge als Pflichtbeiträge angesehen hat. Diese Beiträge könnten nicht umgedeutet werden (Hinweis auf SozR Nrn. 1 und 2 zu § 1446 RVO aF). Ferner beanstandet die Beklagte, daß das LSG bei Berücksichtigung der von ihm angerechneten 20 Beitragsmonate für 1954 bis 1957 irrtümlich Pflichtbeiträge für mehr als 300 Monate festgestellt habe; es habe die 7 Beitragsmonate für 1957 doppelt gezählt.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, das Arbeitsverhältnis von 1954 bis Ende 1957 sei wie die weitere Beschäftigung versicherungspflichtig gewesen. Ihr sei bei der Beitragsentrichtung für die umstrittene Zeit nicht bekannt gewesen, daß zwischen freiwilligen und Pflichtbeiträgen unterschieden werde. Entscheidend sei das der Beitragsentrichtung zugrunde liegende versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis. Hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses noch über die Beitragsnachentrichtung entscheiden könne.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Auffassung des LSG, die für die Zeit von November 1954 bis Ende 1957 entrichteten Beiträge seien als Pflichtbeiträge zu werten, ist nicht zu folgen. Es kommt daher nicht weiter darauf an, ob das LSG den in Art. 2 § 55 a Abs. 1 ArVNG geforderten Sachverhalt - das Vorliegen von 25 Versicherungsjahren - zutreffend festgestellt hat. Der Senat konnte deshalb in der Sache insoweit abschließend entscheiden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Das LSG hat außer acht gelassen, daß die Wertung entrichteter Beiträge, die nicht dem objektiv gegebenen Rechtsgrund der Versicherungspflicht oder der Versicherungsberechtigung entsprechen, in § 1446 RVO aF und § 1422 RVO nF abschließend geregelt ist, wie das BSG in SozR Nrn. 1 und 2 zu § 1446 RVO aF ausführlich dargelegt hat (Urteile vom 17. Oktober 1968 - 1 RA 177/67 und vom 27. Juli 1972 - 1 RA 161/71). Bei der Entscheidung in BSGE 28, 26 (= SozR Nr. 5 zu § 1423 RVO - Urteil vom 13. März 1968 - 12 RJ 338/64) ging es um die Nichtanrechnung von Beiträgen als unwirksam. Im vorliegenden Fall ist hingegen die Wirksamkeit der für November 1954 bis Ende 1957 entrichteten Beiträge nicht angefochten. Damit scheidet die Heranziehung von § 1445 RVO aF und § 1423 RVO nF, die in der Entscheidung in BSGE 28, 26 ausgelegt wurden, aus. Umstritten ist im vorliegenden Fall nur, ob die zur Arbeiterrentenversicherung entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge dieses Versicherungszweiges zu behandeln sind. Da der Versicherungszweig selbst nicht umstritten ist, sind auch § 1445 b RVO aF und § 1421 RVO nF nicht heranzuziehen. Es bleibt nur die Beurteilung nach § 1446 RVO aF und § 1422 RVO nF je nach dem Zeitraum, für den die Beiträge - bis 31. Dezember 1956 und seit 1. Januar 1957 - entrichtet sind. Zu § 1446 RVO aF hat das BSG entschieden, daß sich diese Vorschrift allein auf irrtümlich geleistete Pflichtbeiträge bezieht und nicht auf freiwillige Beiträge, die in der irrtümlichen Annahme der Versicherungsberechtigung entrichtet worden sind. Durch Umkehrschluß lasse sich auf sie eine entsprechende versicherungsrechtliche Wirkung, d. h. die Geltung als Pflichtbeiträge, nicht übertragen; denn eine solche Ausdehnung des in § 1446 RVO aF enthaltenen Grundsatzes hätte einer ausdrücklichen Gesetzesvorschrift bedurft (SozR Nr. 1 zu § 1446 RVO aF). Entsprechendes hat das BSG zu § 1422 RVO nF entschieden (s. in SozR Nr. 2 zu § 1446 RVO aF mit Hinweis auf SozR Nr. 5 zu § 1421 RVO nF). Es hat ausgeführt, daß der Gesetzgeber es bei der Rentenreform ebenso wie vorher ersichtlich unterlassen habe, eine gesetzliche Regelung dahin zu treffen, freiwillige Beiträge, die der Versicherte in der irrtümlichen Annahme der Versicherungsberechtigung für Zeiten einer bestehenden Pflichtversicherung entrichtet habe, in Pflichtbeiträge umzudeuten. Der erkennende Senat ist ebenfalls dieser Auffassung.
Es kommt hier nicht darauf an, ob und was die Klägerin sich gedacht oder nicht gedacht hat, als sie im November 1954 die seit 1941 gehandhabte freiwillige Versicherung in der bisherigen Weise fortsetzte und für jedes Jahr weiterhin wie bisher 26 Wochenbeitragsmarken entrichtete.
Die Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung aufgrund eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses waren vom Arbeitgeber für die Zeit seit November 1954 bis Ende 1956 gemäß §§ 6, 8 der 2. Lohnabzugsverordnung vom 24. April 1942 (2. LAV) nicht mehr durch Beitragsmarken, sondern durch Überweisung des Betrags an die Krankenkassen zu entrichten. Das bisherige Beitragsmarkenverfahren galt nur noch für die Selbstversicherung, die freiwillige Weiterversicherung und die freiwillige Höherversicherung sowie für die Pflichtversicherung der Selbständigen und der unständig Beschäftigten (§ 13 der 2. LAV); zu diesen Personenkreisen gehörte die Klägerin nicht.
Auch für die Zeit seit Inkrafttreten der RVO idF des ArVNG vom 23. Februar 1957 hatte nach § 1396 RVO der Arbeitgeber die Beiträge zu entrichten. Der Versicherte konnte nach § 1398 RVO anstelle des Arbeitgebers selbst die vollen Beiträge entrichten. Daß dies hier nicht geschehen ist, ergibt sich schon daraus, daß die Beiträge nicht - entsprechend der Entrichtung durch den Arbeitgeber - an die Einzugsstelle überwiesen wurden, sondern daß für 1957 Beitragsmarken der freiwilligen Weiterversicherung mit dem Aufdruck "B" verwendet (§ 1388 RVO) und nur für 7 Monate des Jahres 1957 entrichtet wurden, obwohl die Tätigkeit der Klägerin bei ihrer Schwester das ganze Jahr hindurch andauerte. Die Beiträge für die Zeit seit November 1954 bis Ende 1957 können somit nicht als Pflichtbeiträge angesehen werden, daß sie als freiwillige Beiträge zu behandeln sind, gilt auch bei Art. 2 § 55 a Abs. 1 ArVNG; denn dort wird nicht etwa eine tatsächliche, nur "an sich" versicherungspflichtige Beschäftigung als Arbeitnehmer als ausreichend für die Rentenberechnung nach Mindesteinkommen angesehen. Vielmehr sind Zeiten der freiwilligen Versicherung ausdrücklich bei der Ermittlung der 25 Versicherungsjahre ausgenommen (Art. 2 § 55 a Abs. 1 Satz 4 ArVNG).
Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben, da es nicht dem Gesetz entspricht. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG war zurückzuweisen, soweit das LSG über den Rentenbescheid vom 21. September 1973 entschieden hat. Da die freiwilligen Beiträge für die Zeit von November 1954 bis Ende 1957 nicht als Pflichtbeiträge gewertet werden können, hat der vor dem LSG gestellte Hilfsantrag der Klägerin auf Aufhebung des Urteils des SG, soweit dieses die Klage gegen den Bescheid vom 17. Januar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1974 abgewiesen hat, und auf Verurteilung der Beklagten zur Zulassung der Nachentrichtung wieder Bedeutung erlangt. Zur Entscheidung über diesen Antrag war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG. Die weitere Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen