Entscheidungsstichwort (Thema)

Konkurrenz von Leistungsansprüchen aus der Mitgliederkrankenhilfe und der Familienkrankenhilfe

 

Leitsatz (amtlich)

Der Restbetrag von 20 vH der Kosten für den Zahnersatz der Ehefrau eines Mitglieds der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner kann aus dessen freiwilliger Zusatzversicherung im Wege der Familienhilfe nur dann übernommen werden, wenn die Krankenkasse der Ehefrau die Übernahme rechtmäßig abgelehnt hat.

 

Orientierungssatz

1. § 205 Abs 1 RVO ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß die wesentlich günstigeren Leistungen der Familienkrankenhilfe aus der knappschaftlichen Krankenversicherung insoweit zu erbringen sind, als sie nicht von der Krankenkasse des unterhaltsberechtigten Ehegatten übernommen werden; das gilt auch für Leistungen, die im Ermessen des Trägers der knappschaftlichen Krankenversicherung liegen (wie zB die ganze oder teilweise Übernahme des Restbetrages bei Zahnersatz - § 20 RKG iVm § 182c S 3 RVO).

2. An der Ausübung des Ermessens ist der Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung gehindert, solange der die Versicherung des unterhaltsberechtigten Ehegatten durchführende (nichtknappschaftliche) Krankenversicherungsträger sein Ermessen entweder noch nicht oder ermessensfehlerhaft ausgeübt hat.

 

Normenkette

RKG § 20; RVO § 182c S 3 Fassung: 1974-08-07, § 205 Abs 1 S 1 Fassung: 1978-07-25; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.03.1981; Aktenzeichen L 6 Kn 40/80)

SG Gießen (Entscheidung vom 08.10.1980; Aktenzeichen S 6 Kn 79/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem bei ihr versicherten Kläger im Wege der Familienhilfe für den Zahnersatz seiner Ehefrau die Differenz zwischen den tatsächlichen Kosten und den von der Krankenkasse der Ehefrau getragenen Kosten zu übernehmen hat.

Der Kläger, der seit dem 1. April 1978 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog und seit dem 1. Februar 1979 das Altersruhegeld erhält, gehört der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner an. Daneben hat er die vorher bestehende Pflichtmitgliedschaft wegen der damit verbundenen besseren Leistungen freiwillig fortgesetzt. Seine Ehefrau, die von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte seit dem 1. Februar 1978 das Altersruhegeld bezieht, gehört der Krankenversicherung der Rentner bei der Barmer Ersatzkasse an. Die Krankenkasse der Ehefrau des Klägers leistete für den im Jahre 1980 eingegliederten Zahnersatz einen Zuschuß von 80 vH der Kosten. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Erstattung der Restkosten von 20 vH mit Bescheid vom 23. Mai 1980 ab. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 7. Juli 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. Oktober 1980 den Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 1980 und den Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1980 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Restkosten für den von der Barmer Ersatzkasse bezuschußten Zahnersatz seiner Ehefrau in Höhe von 974,56 DM zu erstatten. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 19. März 1981 die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei zur Erstattung des Eigenanteils in Höhe von 20 vH verpflichtet. Der Zuschuß zum Zahnersatz aus der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner sei auf 80 vH begrenzt, so daß die Kostenübernahme aus der freiwilligen Versicherung des Klägers auf den Eigenanteil von 20 vH beschränkt sei. Der auf einen Zuschuß in Höhe von 80 vH begrenzte Anspruch der Ehefrau des Klägers gegen ihre Ersatzkasse schließe den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Übernahme der restlichen 20 vH im Wege der Familienhilfe nicht aus. Die zusätzliche freiwillige Versicherung des Klägers erstrecke sich auf diejenigen Leistungen der Beklagten, die gegenüber der Krankenversicherung der Rentner wesentlich günstiger seien. Die Belastung mit einem Eigenanteil von 20 vH sei aber durchaus wesentlich und liege weit oberhalb der Grenze, bis zu der Abweichungen - bedingt durch die Gliederung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Regelungsmöglichkeiten der Versicherungsträger - hinzunehmen seien.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Juni 1975 (SozR 2200 § 205 Nr 4) würden auch auf solche Mitglieder der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner angewandt, die erst nach dem 1. Januar 1968 zusätzlich freiwillige Mitglieder der knappschaftlichen Krankenversicherung geworden seien und deren Ehefrauen erst nach diesem Zeitpunkt aufgrund eigenen Rentenbezuges der Krankenversicherung der Rentner angehörten. Entscheide sich ein solcher Versicherter - wie der Kläger - für die primäre Inanspruchnahme der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner und der Aufstockung der Leistungen aus der freiwilligen Krankenversicherung, so werde der sogenannte Eigenanteil von 20 vH als Ermessensleistung zu Lasten der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung übernommen. Bei Lieferung eines Zahnersatzes für die Ehefrau des Versicherten werde der Eigenanteil von 20 vH ebenfalls als Ermessensleistung zu Lasten der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung übernommen, sofern die Ehefrau keinen anderweitigen gesetzlichen Krankenpflegeanspruch habe. Im vorliegenden Falle könne jedoch der Eigenanteil deshalb nicht übernommen werden, weil die Differenz zwischen der Leistung aus der eigenen Krankenversicherung der Ehefrau und den tatsächlichen Kosten in Höhe von 20 vH nicht wesentlich sei.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für richtig und die Revision der Beklagten für unbegründet. Zusätzlich trägt er vor, die Grundsätze des Beschlusses des BVerfG vom 9. Juni 1975 seien auch auf Fälle der vorliegenden Art anwendbar, denn sonst würde die Ehefrau des Klägers unter sonst gleichen Voraussetzungen schlechter dastehen als Ehefrauen, die nie erwerbstätig gewesen seien und daher keine Rente bezögen. Auf den Eigenanteil von 20 vH, der wesentlich sei, habe der Kläger aus der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung einen Anspruch.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Die Gründe des Beschlusses des BVerfG vom 9. Juni 1975 (SozR 2200 § 205 Nr 4) treffen zwar nicht in vollem Umfang auf den vorliegenden Fall zu, weil hier ein anderer Sachverhalt zugrunde liegt. Der Kläger ist nicht schon vor Inkrafttreten des Finanzänderungsgesetzes 1967 (FinÄndG 1967) Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner und daneben freiwilliges Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung geworden. Die Mitgliedschaft seiner Ehefrau bei der Barmer Ersatzkasse ist auch nicht erst nach dem Beginn der freiwilligen Weiterversicherung begründet worden, sondern bestand schon vorher. Gleichwohl hat der Kläger nach den Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG unter den Voraussetzungen des § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) iVm § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für seine Ehefrau einen Anspruch auf die wesentlich günstigeren Leistungen aus der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung, die über die Leistungen der Krankenversicherung seiner Ehefrau hinausgehen. Das folgt zwar nicht aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und des Verbots der unechten Rückwirkung von Gesetzen, auf die das BVerfG die zitierte Entscheidung gestützt hat. In dieser Entscheidung ist aber darüber hinaus betont worden, daß es keinen einleuchtenden Grund dafür gibt, die zusätzlich zur knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner freiwillig versicherten Ehemänner solcher Frauen, die sich eine Rente und dadurch einen eigenen Krankenversicherungsschutz verdient haben, schlechter zu stellen als die Ehemänner solcher Frauen, die nie erwerbstätig gewesen sind, daher keine Rente beziehen und deshalb auch nicht selbst krankenversichert sind (vgl hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom 1. April 1981 - SozR 2200 § 205 Nr 39 -). Die Beklagte hat daher im Wege der Familienhilfe die von der Krankenkasse der Ehefrau des Klägers nicht zu tragenden - wesentlich günstigeren - Leistungen der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung zu erbringen. Das wird von der Beklagten auch nicht bestritten.

Nach der Entscheidung des BVerfG und dem darauf beruhenden Satzungsrecht der Beklagten hat jedoch der Kläger zunächst einmal die Leistungen der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner in Anspruch zu nehmen. Nur wenn und soweit die Leistungen der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung wesentlich günstiger sind als die Leistungen der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner hat wegen der Differenz die freiwillige knappschaftliche Krankenversicherung im Wege der Familienhilfe einzutreten. Soweit es sich jedoch um den Zahnersatz handelt, unterscheiden sich die Leistungen der freiwilligen knappschaftlichen Versicherung nicht von denen der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner. Das bedeutet, daß der Kläger bei eigenem Zahnersatz - entgegen der Verwaltungsübung der Beklagten - auch hinsichtlich des Eigenanteils die knappschaftliche Krankenversicherung der Rentner in Anspruch nehmen muß. Für Leistungen aus der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung bleibt also in solchen Fällen kein Raum. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß auch im Wege der Familienhilfe bei Zahnersatz ein Anspruch aus der freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung nicht in Betracht kommt, weil im Wege der Familienhilfe nur solche Leistungen gewährt werden können, auf die auch der Versicherte im eigenen Krankheitsfall aus seiner freiwilligen Versicherung einen Anspruch hätte. Das würde nämlich wiederum zu der vom BVerfG nicht gebilligten Ungleichbehandlung von einerseits solchen Ehemännern, deren Ehefrauen selbst der Krankenversicherung der Rentner angehören und andererseits solchen Versicherten führen, deren Ehefrauen nie erwerbstätig waren und keinen eigenen Versicherungsschutz haben. Die Versicherten, deren unterhaltsberechtigte Ehefrauen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht angehören, können selbstverständlich unter den Voraussetzungen des § 20 RKG, § 182c Satz 3 RVO auch den Eigenanteil von der Beklagten erhalten. Das kann den Versicherten nicht vorenthalten bleiben, deren Ehefrauen aus der eigenen Krankenversicherung der Rentner die Übernahme des Eigenanteils nicht verlangen können. Auch diese rechtliche Konsequenz wird von der Beklagten nicht in Abrede gestellt. Nach den Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts läßt sich jedoch die Frage nicht beantworten, ob die Ehefrau des Klägers von ihrer Krankenkasse die Übernahme des Eigenanteils verlangen kann. Das LSG hat dies zwar verneint, ohne dafür aber eine hinreichende Begründung zu geben. Der Umstand allein, daß auch die Beklagte nicht behauptet, die Ehefrau des Klägers könne von der Barmer Ersatzkasse die Übernahme des Eigenanteils verlangen, genügt nicht. Nach § 507 Abs 4 RVO gilt § 182c RVO auch für die Krankenkasse der Ehefrau des Klägers, die also ebenso wie die Beklagte in Härtefällen über die erstatteten 80 vH hinaus den Restbetrag von 20 vH übernehmen kann (§ 182c Satz 3 RVO). Zwar handelt es sich insoweit um eine Leistung, deren Gewährung von der positiven Ausübung des Ermessens durch die Krankenkasse abhängt. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der unbestimmte Rechtsbegriff des Härtefalles Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens ist (vgl BSG SozR 2200 § 182c Nr 6) oder ob er in den Ermessensbereich hineinragt und damit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt (vgl BSG SozR 2200 § 602 Nr 2 mwN), denn jedenfalls braucht die Beklagte ihr Ermessen nicht zugunsten des Klägers positiv auszuüben, solange die Krankenkasse seiner Ehefrau ihr Ermessen entweder noch nicht oder ermessensfehlerhaft ausgeübt hat. Das folgt aus der Subsidiarität der Leistungen der Familienhilfe gegenüber den Leistungen aus eigener Versicherung des Familienangehörigen. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob die Krankenkasse der Ehefrau des Klägers das ihr nach § 183c Satz 3 RVO eingeräumte Ermessen ausgeübt hat. In der Übernahme von 80 vH der Zahnersatzkosten mag zwar die konkludente Entscheidung liegen, die Restkosten nicht übernehmen zu wollen. Ob sie damit aber ihr Ermessen dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt oder die Voraussetzung für die Ausübung des Ermessen verneint hat, steht nicht fest. Das LSG wird die entsprechenden Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben, wobei zu erwägen sein wird, ob sich die Beiladung der Barmer Ersatzkasse nach § 75 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) empfiehlt.

Sollte sich aufgrund der nachzuholenden Feststellungen ergeben, daß die Krankenkasse der Ehefrau des Klägers die Übernahme des Restbetrages rechtmäßig abgelehnt hat, so wird die Beklagte ihr Ermessen auszuüben haben, denn sie kann die Erstattung der Restkosten nicht mit der Begründung ablehnen, es handele sich im Sinne der Entscheidung des BVerfG nicht um eine wesentlich günstigere Leistung der freiwilligen Versicherung des Klägers. Es mag dahingestellt bleiben, ob ein Anteil von 20 vH generell, dh ohne Rücksicht auf die nominelle Höhe wesentlich ist. Der Vergleich mit anderen Vorschriften, in denen das Merkmal der Wesentlichkeit für den Leistungsanspruch ebenfalls von Bedeutung ist (vgl zB § 45 Abs 2 RKG), führt für die hier zu beantwortende Frage zu keinen brauchbaren Erkenntnissen, weil dort die Interessenlage eine andere ist als in Fällen der vorliegenden Art. Als wesentlich günstiger im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG muß eine Leistung dann angesehen werden, wenn die Differenz zu der vergleichbaren anderen Leistung so erheblich ist, daß die Selbstbeschaffung den Durchschnitt der Versicherten nicht unerheblich belastet. Die Beklagte hat in § 49 Abs 2 ihrer Satzung in der im Jahre 1980 gültig gewesenen Fassung die Übernahme des Eigenanteils von den Einkommensverhältnissen des Versicherten abhängig gemacht. Damit hat sie nicht nur Richtlinien für die gleichmäßige Ausübung des Ermessens geschaffen (vgl BSG SozR 2200 § 182c Nr 4), sondern auch zum Ausdruck gebracht, daß sie selbst die Aufbringung des Eigenanteils von 20 vH den Versicherten mit entsprechenden Einkommensverhältnissen nicht für zumutbar hält. Jedenfalls für diesen Kreis von Versicherten ist die Erstattung des Eigenanteils durch die Beklagte eine Leistung, die gegenüber dem normalen Zuschuß zum Zahnersatz wesentlich günstiger ist.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657797

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