Entscheidungsstichwort (Thema)

Zahnersatz. besonderer Härtefall. Ermessensausübung. Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers

 

Orientierungssatz

1. Der Versicherungsträger kann aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung anläßlich der Bedürfnisprüfung nach § 182c S 3 RVO es auf das Einkommen des Versicherten abstellen; neben der Anwendung dieses generellen Ermessensmaßstabes muß aber stets Raum für eine Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Gegebenheiten des konkreten Sachverhalts bleiben.

2. Wird die vom Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung durch die Satzung sich selbst auferlegte Ermessensbindung nach Ablehnung der - vollen - Kostenübernahme für Zahnersatz ergänzt, so ist diese Änderung bei der Entscheidung über die vom Sozialhilfeträger gemäß § 1531 RVO erhobene Leistungsklage zu berücksichtigen.

 

Normenkette

RVO § 182c S 3 Fassung: 1977-06-27; RKG § 20 Fassung: 1967-12-21; RVO § 1531 Fassung: 1945-03-29; RKG § 109 Fassung: 1969-07-18, § 155 Fassung: 1976-12-23; SGG § 54 Abs 5 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

SG Duisburg (Entscheidung vom 10.04.1979; Aktenzeichen S 4 Kn 124/78)

 

Tatbestand

Die Klägerin beansprucht Ersatz der Aufwendungen, mit denen sie sich in ihrer Eigenschaft als örtlicher Träger der Sozialhilfe an den Kosten der Eingliederung von Zahnersatz bei einem Mitglied der Beklagten beteiligt hat.

Die Witwe Maria N. (Versicherte) bezieht von der Beklagten Hinterbliebenenrente und genießt deshalb zugleich den Schutz der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Neben ihrer Witwenrente, die im Jahre 1978 monatlich 468,80 DM betrug, erhielt sie zu dieser Zeit 39,-- DM an Werksrente, 105,-- DM Wohngeld und 122,30 DM als laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).

Im Februar 1978 erwies sich nach ärztlicher Beurteilung die Versorgung der Versicherten mit Zahnersatz als notwendig. Zu den durch die Behandlung verursachten Kosten leistete die Beklagte als Träger der knappschaftlichen KVdR einen Zuschuß von 80 vH des Rechnungsbetrages. Die Weigerung, wie beantragt, auch die restlichen Kosten zu übernehmen, begründete sie der Versicherten gegenüber mit dem Hinweis auf deren Einkommensverhältnisse. Daraufhin verpflichtete sich die Klägerin gegenüber dem behandelnden Zahnarzt zur Zahlung der Restkosten von 210,08 DM und forderte in dieser Höhe von der Beklagten Ersatz. Dieses Verlangen lehnte die Beklagte unter Hinweis auf den der Versicherten erteilten Ablehnungsbescheid mit einem am 19. Juli 1978 bei der Klägerin eingegangenen Schreiben ab.

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte verpflichtet, dem Ersatzbegehren zu entsprechen und an die Klägerin den von dieser inzwischen beglichenen Restbetrag von 210,08 DM zu entrichten. Im Urteil vom 10. April 1979 hat es zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: § 49 Abs 2 der Satzung der Beklagten (in der bis zum 31. Juli 1978 geltenden Fassung -aF-), auf den diese ihre Ablehnung gründe, stelle keine dem Gesetz entsprechende Richtlinie für die Ausübung des durch § 182c Satz 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) dem Krankenversicherungsträger bei der Entscheidung über die Übernahme der Gesamtkosten eingeräumten Ermessens dar. Die nach der Satzung vorgesehene Bindung an die starre Einkommensgrenze von einem Fünftel der Bezugsgröße des § 18 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften (SGB 4) stehe im Widerspruch zu dem Gebot, bei einer Ermessensbetätigung alle Gegebenheiten des Einzelfalles angemessen zu berücksichtigen. Bei sachgerechter Würdigung der gesamten Umstände hätte die Beklagte einen Härtefall bejahen und die Kosten in vollem Umfange übernehmen müssen.

Gegen dieses Urteil hat das SG die Berufung und mit gesondertem Beschluß auch die Sprungrevision zugelassen.

Die mit Zustimmung der Klägerin eingelegte Sprungrevision der Beklagten rügt die fehlerhafte Anwendung des § 182c Satz 3 RVO. Entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts sei die durch § 49 Abs 2 aF der Satzung konkret ausgestaltete Härteregelung geeignet, eine der Zweckrichtung der genannten Gesetzesbestimmung entsprechende, gleichmäßige Ausübung des Ermessens gegenüber den Versicherten zu gewährleisten. Nach dem BSHG leistungsberechtigte Personen würden nicht benachteiligt. Der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens, aus dem die §§ 182a und 182c RVO mit der Härtefallregelung in der jetzt maßgeblichen Gestalt hervorgegangen seien, belege, daß die Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis nicht schlechthin zur Anerkennung eines Härtefalls führen solle.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und

die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat auf die statthafte (vgl BSGE 45, 291) Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 5 SGG zutreffend entschieden, daß die Beklagte der Klägerin die für die Versorgung der Versicherten mit Zahnersatz aufgewendeten Kosten zu ersetzen hat.

Der Senat hat in dem ebenfalls zwischen den Beteiligten dieses Rechtsstreits geführten Revisionsverfahren 5a/5 RKn 16/79 mit Urteil vom selben Tage (25. Februar 1981), das zur Veröffentlichung vorgesehen ist, bei gleichgelagerter Sach- und Rechtslage folgendes entschieden: Die Klägerin als sachlich zuständiger (§§ 99, 100 BSHG) örtlicher Träger der Sozialhilfe hat die Versicherte im Rahmen der Krankenhilfe, die gemäß § 37 Abs 2 BSHG die Versorgung mit Zahnersatz umfaßt, durch Übernahme der noch ungedeckten Kosten der Zahnbehandlung unterstützt. Deshalb hat die Klägerin einen Ersatzanspruch nach § 1531 Satz 1 RVO gegen die Beklagte erworben, die ihrerseits diese Aufwendungen gemäß § 20 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) iVm § 182c Satz 3 RVO hätte tragen müssen.

Nach § 182c Satz 3 RVO in der seit dem 1. Juli 1977 geltenden Fassung des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes -KVKG- (Art 1 § 1 Nr 8 und Art 2 § 17) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1069) kann die Krankenkasse in besonderen Härtefällen auch den Restbetrag der Kosten für Zahnersatz übernehmen, der nach Gewährung des satzungsmäßigen Höchstzuschusses (hier 80 vH) grundsätzlich von den Versicherten als Eigenanteil zu zahlen wäre. Um die Struktur des § 182c Satz 3 RVO als Ermessensvorschrift zu bewahren, hält der Senat es für geboten, zwischen dem Begriff "besonderer Härtefall" und dem das Ermessen ausdrückenden "Können" eine unlösbare Verbindung zu sehen. Deshalb ragt auch hier der Begriff "besonderer Härtefall" in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. Die Verwaltung hat bei der Prüfung eines besonderen Härtefalls die sich aus diesem Begriff ergebenden rechtlichen Schranken zu beachten, deren Einhaltung von den Gerichten zu überprüfen ist (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Begründung, mit der die Beklagte hier einen Härtefall verneint, zeigt eine fehlerhafte Ausübung des ihr durch § 182c Satz 3 RVO eingeräumten Ermessens. Zwar kann der Versicherungsträger aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung anläßlich der Bedürfnisprüfung es auf das Einkommen des Versicherten abstellen; neben der Anwendung dieses generellen Ermessensmaßstabes muß aber stets Raum für eine Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Gegebenheiten des konkreten Sachverhalts bleiben. Bei der Wahl einer Einkommensgrenze als generelle Ermessensrichtschnur darf diese nicht in einer Weise festgelegt werden, die Versicherte von der nach dem Gesetz ersichtlich auch für sie gewollten Begünstigung ausschließt. Die Beklagte kann nicht den Anspruch der Versicherten auf Übernahme des Eigenanteils der Zahnersatzkosten und damit im Ergebnis ebenfalls nicht das Ersatzbegehren der Klägerin unter Berufung auf § 49 Abs 2 ihrer Satzung, worin in der bis zum 31. Juli 1978 geltenden Fassung die vollständige Kostenbefreiung gar nur bei einem Einkommen von höchstens einem Fünftel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 vorgesehen war, verneinen.

Die Verpflichtung der Beklagten, im Verhältnis zur Klägerin den Eigenanteil der Versicherten zu tragen, ergibt sich schon aus dem Gesichtspunkt der Selbstbindung. Die Beklagte hat mit Wirkung vom 1. August 1978 § 49 Abs 2 ihrer Satzung ergänzt (vgl 30. Nachtrag zur Satzung der Bundesknappschaft, Kompaß 1978, 288). Danach übernimmt sie gemäß § 49 Abs 2 Satz 5 der Satzung den Eigenanteil des Versicherten an den Zahnersatzkosten, wenn die Voraussetzungen des ebenfalls neu eingefügten § 47a Abs 3 der Satzung erfüllt sind. Ein besonderer Härtefall wird nach Satz 2 Buchst a der zuletzt genannten Bestimmung grundsätzlich angenommen, wenn der Versicherte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt im Sinne des BSHG erhält. Diese von der Beklagten selbst gesetzte Ermessensrichtlinie entspricht der Zielsetzung des § 182c Satz 3 RVO. Sie hat zur Folge, daß im Falle der Versicherten eine besondere Härte durch die Belastung mit dem Eigenanteil der Zahnersatzkosten anzuerkennen ist.

Wird die vom Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung durch die Satzung sich selbst auferlegte Ermessensbindung nach Ablehnung der - vollen - Kostenübernahme für Zahnersatz ergänzt, so ist diese Änderung bei der Entscheidung über die vom Sozialhilfeträger gemäß § 1531 RVO erhobene Leistungsklage zu berücksichtigen. Da somit alle Möglichkeiten einer ermessensfehlerfreien Ablehnung durch die Beklagte zu verneinen sind, hat das SG im Ergebnis zu Recht den Ersatzanspruch der Klägerin als begründet angesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658569

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