Leitsatz (amtlich)

1. Ein Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung steht einer Rückforderung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Überzahlung vom Empfänger vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt worden ist (insoweit Anschluß an BSG 1972-01-28 5 RKn 51/70 = BSGE 34, 29).

2. Es bleibt offen, ob eine Rückforderung auch dann zulässig ist, wenn beiden Seiten einfache Fahrlässigkeit zur Last fällt.

 

Normenkette

RVO § 1301 Fassung: 1965-06-09; BGB § 254 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18; RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09, § 1279 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 80 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25. Juni 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin beantragte im Februar 1972 Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres am 21. Dezember 1971 tödlich verunglückten Ehemannes. Im Antrag erklärte sie, bei der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie (BG Chemie) laufe ein Verfahren auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls; vordrucksgemäß verpflichtete sie sich, der Beklagten den Empfang einer Unfallhinterbliebenenrente unverzüglich mitzuteilen.

Mit Bescheid vom 27. März 1972 gewährte die BG Chemie der Klägerin Hinterbliebenenrente. Die Klägerin teilte dies der Beklagten nicht mit; die Nachricht der BG Chemie ging am 4. April 1972 bei der Beklagten ein, gelangte aber erst am 26. Juli 1972 zu den Rentenakten.

Mit Bescheid vom 19. Mai 1972 bewilligte auch die Beklagte Witwenrente ab 21. Dezember 1971. In diesem Bescheid wies sie die Klägerin auf die Verpflichtung hin, den Bezug einer Leistung aus der Unfallversicherung umgehend mitzuteilen; sie behielt sich für den Fall der Gewährung einer Unfallhinterbliebenenrente die Neuberechnung der Witwenrente und die Rückforderung überzahlter Beträge vor.

Mit Bescheid vom 6. September 1972 hob die Beklagte ihren Bescheid vom 19. Mai 1972 auf; sie berechnete die Witwenrente unter Anwendung von § 56 Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) ab 1. Juni 1972 neu, stellte eine Überzahlung von DM 864,50 fest und forderte diese unter Berufung auf § 80 AVG zurück.

Ihre Klage gegen die Neufeststellung nahm die Klägerin zurück, die Klage gegen den Rückforderungsbescheid wies das Sozialgericht (SG) nach erfolglosem Widerspruch ab.

In dem Urteil ist ausgeführt:

Wenn die Beklagte infolge eines organisatorischen Mangels in ihrem ersten Bescheid das teilweise Ruhen der Rente nicht berücksichtigt habe, so treffe sie ein Verschulden an der Überzahlung. Dieses Verschulden schließe jedoch eine Rückforderung nicht aus, weil der Klägerin grobe Fahrlässigkeit zur Last falle, da sie ihrer Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sei; es könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Beklagte eine Mitteilung der Klägerin ebensowenig beachtet haben würde wie die der BG Chemie. Die Klägerin habe beim Empfang der Leistung gewußt, daß ihr diese nicht in der gewährten Höhe zugestanden habe; die Rückforderung sei auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin vertretbar.

Mit der vom SG zugelassenen und mit Zustimmung der Beklagten eingelegten Sprungrevision beantragt die Klägerin,

das angefochtene Urteil und den Rückforderungsbescheid aufzuheben.

Sie macht geltend, die Rückforderung werde bereits durch das vom SG zu Recht festgestellte Verschulden der Beklagten ausgeschlossen; darauf, ob der Klägerin grobe Fahrlässigkeit zur Last falle, komme es nicht an. Im übrigen sei zu bezweifeln, daß die unterlassene Mitteilung ursächlich für die Überzahlung gewesen sei.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Sprungrevision.

Sie glaubt, bei der Erteilung des Bescheides vom 19. Mai 1972 korrekt gehandelt zu haben; im übrigen hält sie das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist nicht begründet.

Da nur noch der Rückforderungsbescheid streitig ist, muß der Senat davon ausgehen, daß es sich bei dem streitigen Betrag um eine zu Unrecht gezahlte Leistung handelt (vgl. §§ 56 Abs. 1, 5, 55 Abs. 4 AVG). Den sich daraus ergebenden Rückforderungsanspruch darf der Versicherungsträger nur geltend machen, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist (§ 80 Satz 2 AVG). Diese Beschränkungen gelten für jede Rückforderung einer zu Unrecht gezahlten Leistung; der Rückforderungsvorbehalt im Leistungsbescheid hat die Beklagte hiervon nicht freistellen können.

Wie das SG festgestellt hat, wußte die Klägerin bei Empfang der Leistung, daß ihr diese nicht in der gewährten Höhe zustand; es bestehen auch keine Zweifel daran, daß die Rückforderung bei den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin vertretbar ist. Zweifelhaft kann sonach nur sein, ob ein Verschulden der Beklagten an der Überzahlung eine Rückforderung ausschließt. Das SG hat zu Recht ein solches Verschulden bejaht. Die Beklagte kann dem festgestellten innerorganisatorischen Mangel seine Verschulden begründende Wirkung nicht dadurch nehmen, daß sie geltend macht, sie müsse im Interesse der Versicherten mitunter ohne vollständige Unterlagen Rente, allerdings mit Vorbehalten, bewilligen. Ihre Unterlagen waren hier nämlich nicht unvollständig; die Nachricht der BG war lange vor dem Bescheid vom 19. Mai 1972 in ihren Bereich gelangt. Gleichwohl darf, wie das SG richtig erkannt hat, die Beklagte die Überzahlung zurückfordern, weil auch die Klägerin ein rechtserhebliches Verschulden an der Überzahlung trifft.

Der Klägerin ist nicht zuzustimmen, wenn sie meint, nach der abschließenden Regelung des § 80 AVG komme es auf ein Verschulden des Leistungsempfängers nicht an. Der Wortlaut des § 80 Satz 2 AVG könnte zwar dahin verstanden werden, daß allein ein Verschulden des Versicherungsträgers einer Rückforderung entgegensteht. § 80 AVG regelt jedoch die Rückforderung nicht erschöpfend. Die Vorschrift setzt einen bei unrechtmäßiger Zahlung bestehenden Rückforderungsanspruch voraus; in ihrem Satz 2 haben Grundsätze, die die Rechtsprechung aus Gründen des Vertrauensschutzes mit Rücksicht auf Treu und Glauben entwickelt hatte, ihren Niederschlag gefunden (vgl. SozR Nr. 4 zu § 628 RVO mit weiteren Nachweisen). Nach diesen Grundsätzen war es aber nicht bedeutungslos, ob der Leistungsempfänger die Überzahlung schuldhaft mitverursacht hatte (vgl. SozR Nr. 1 zu § 1301 RVO). Es würde auch zu ungerechtfertigten Ergebnissen führen, wenn ein solches Mitverschulden keine Rolle spielte. Nahezu unverständlich wäre es, wollte man die Überzahlung, sofern nur ein Verschulden des Versicherungsträgers hieran festgestellt wird, sogar dem belassen, der die Leistungsbewilligung arglistig erwirkt hat. Eine Auslegung, wonach es auf ein Verschulden des Empfängers an der Herbeiführung der unrechtmäßigen Leistung nicht ankäme, stünde ferner im Widerspruch dazu, daß § 80 Satz 2 AVG, soweit die Kenntnis beim Empfang in Frage steht, ein bloßes Wissenmüssen um die Unrechtmäßigkeit der Leistung genügen läßt. Alles dies zwingt zu der Schlußfolgerung, daß § 80 AVG den Fall, daß außer dem Versicherungsträger auch der Leistungsempfänger die Überzahlung schuldhaft mitverursacht hat, nicht geregelt hat (vgl. BSG 34, 29, 32); insoweit ist das Gesetz lückenhaft.

Bei der Schließung dieser Gesetzeslücke ist zu beachten, daß das Gesetz einem Versicherungsträger die Rückforderung einer Überzahlung nicht verwehrt, wenn nicht nur ihn, sondern wenn auch den Leistungsempfänger hieran kein Verschulden trifft. In diesem Falle wird also ein Vertrauen des Leistungsempfängers nicht geschützt; bei gleicher Schuldlosigkeit ist die Rückforderung zulässig. Das legt es nahe, dem Versicherungsträger die Rückforderung auch dann nicht zu verwehren, wenn sowohl der Versicherungsträger als auch der Leistungsempfänger Schuld an der Überzahlung tragen, das Maß des jeweiligen Verschuldens jedoch annähernd gleich ist. In diesem Falle wäre also abzuwägen, inwieweit die Überzahlung von dem einen oder dem anderen Teil schuldhaft verursacht worden ist (vgl. § 254 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - und SozR Nr. 3 zu § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -), so daß für eine Rückforderung u. U. auch dann Raum bleibt, wenn sowohl dem Versicherungsträger als auch dem Empfänger einfache Fahrlässigkeit zur Last fällt. Der 5. Senat will freilich dem Versicherungsträger, der die Überzahlung mitverschuldet hat, eine Rückforderung generell nur dann gestatten, wenn diese vom Empfänger mindestens grob fahrlässig mit herbeigeführt worden ist (BSG 34, 29, 33 f). Der erkennende Senat trägt Bedenken, dem uneingeschränkt zu folgen; die vom 5. Senat zur Begründung seiner Auffassung herangezogenen Regelungen gehören anderen Rechtsgebieten an, haben einen anderen Wortlaut und beruhen auf nicht ohne weiteres vergleichbaren Interessenabwägungen. Einer abschließenden Erörterung dieser Frage bedarf es indessen nicht; auch der erkennende Senat ist der Ansicht, daß jedenfalls dort, wo der Empfänger die Überzahlung grobfahrlässig mit herbeigeführt hat, die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistung durch den Versicherungsträger nicht ausgeschlossen ist.

Das SG hat das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit der Klägerin jedenfalls seit dem Zugang des Rentenbescheides der Beklagten bejaht. Die Klägerin war verpflichtet, der Beklagten von der Bewilligung der Unfallhinterbliebenenrente sogleich Kenntnis zu geben. An das Bestehen dieser Pflicht wurde sie durch den Hinweis im Rentenbescheid eindeutig und eindringlich erinnert; darauf, daß die BG Chemie die Beklagte unterrichten würde, durfte sich die Klägerin nicht verlassen; ihre Mitteilungspflicht bestand unabhängig davon, ob auch die BG die Beklagte zu unterrichten hatte. Die Klägerin hat mithin durch ihr Unterlassen eine Verpflichtung verletzt, deren Bestehen ihr bewußt sein mußte und über deren Inhalt sie nicht im Zweifel sein konnte. Damit fehlt es an jedem Anhalt dafür, daß das SG den Begriff der groben Fahrlässigkeit (vgl. BGHZ 10, 14, 16; LM Nr. 9 zu § 932 BGB; Urteil des 7. Senats des BSG vom 31. August 1976 - 7 RAr 112/74 -) verkannt haben könnte. Das SG hat ferner festgestellt, daß die Beklagte bei einer unverzüglichen Information durch die Klägerin selbst nach der Erteilung des Bescheides vom 19. Mai 1972 noch in der Lage gewesen wäre, die Überzahlung zu verhindern; gegen diese tatsächliche Feststellung sind keine Verfahrensrügen erhoben; im übrigen dürfte für die Kausalität der Unterlassung genügen, daß pflichtgemäßes Handeln den Erfolg wahrscheinlich verhindert hätte. Damit sind die Voraussetzungen erfüllt, unter denen nach der Auffassung des 5. Senats ein Versicherungsträger die Überzahlung zurückfordern kann. Ebenso ist die Rückforderung berechtigt, wenn man das Maß des beiderseitigen Verschuldens abwägt; das Verschulden der Klägerin ist nämlich nicht geringer, sondern sogar höher zu bewerten als das der Beklagten.

Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte von ihrem ihr durch § 80 Satz 1 AVG eingeräumten Ermessen einen mit dem Gesetzeszweck nicht vereinbarten Gebrauch gemacht haben könnte, sind nicht ersichtlich.

Nach alledem war die Revision als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649415

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