Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Anwartschaftszeit. Zivildienstleistender. Versicherungspflichtigkeit oder -freiheit der vorhergehenden Beschäftigung. Geringfügigkeit. Prognose. einheitliche Beurteilung
Orientierungssatz
Bei der erforderlichen prognostischen Beurteilung, ob die vom Arbeitslosen ausgeübte Tätigkeit in der Zeit vor Beginn des Zivildienstes überhaupt versicherungspflichtig oder wegen Geringfügigkeit versicherungsfrei war, liegt es nahe, den gesamten Zeitraum für die Frage der Versicherungspflicht einheitlich zu beurteilen; dann aber stellt sich hier die Frage der Unmittelbarkeit gem § 26 Abs 1 Nr 2 Buchst a SGB 3 nicht, weil zwischen dem Ende der Beschäftigung und der Aufnahme des Zivildienstes nur das Wochenende lag.
Normenkette
SGB 3 § 26 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Fassung: 2001-06-19; SGB 3 § 27 Abs. 2; SGB 3 § 123 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2001-12-20; SGB 4 § 8
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 10. Dezember 2008 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Im Streit ist ein Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 4.7.2002.
Der 1981 geborene Kläger legte im Mai 2001 das Abitur ab. Im April, Juli und August 2000 arbeitete er bei der Firma M Nach dem Abitur war er bis Ende August als Lageraushilfe bei einer Spedition tätig. In der Zeit vom 3.9.2001 bis 30.6.2002 leistete der Kläger Zivildienst und nahm zum Wintersemester 2002/2003 ein Studium auf.
Seinen Antrag auf Gewährung von Alg lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die für den Bezug von Alg erforderliche Anwartschaftszeit sei nicht erfüllt, weil der Kläger innerhalb der dreijährigen Rahmenfrist nicht mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Der Zivildienst begründe keine Versicherungspflicht, weil der Kläger nicht unmittelbar vor dessen Beginn, sondern nur im Juli 2001, versicherungspflichtig tätig gewesen sei (Bescheid vom 18.9.2002; Widerspruchsbescheid vom 21.1.2003).
Während das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger ab 4.7.2002 Alg zu zahlen (Gerichtsbescheid vom 13.4.2004), hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage auf die Berufung der Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids vom 13.4.2004 abgewiesen (Urteil vom 10.12.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger erfülle nicht die für den Bezug von Alg erforderliche Anwartschaftszeit, weil er innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren weder mindestens zwölf Monate eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt noch als Zivildienstleistender mindestens sechs Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Eine Versicherungspflicht für Zivildienstleistende, die - wie der Kläger - während der Ableistung des Dienstes nicht als Beschäftigte versicherungspflichtig seien, bestehe nur, wenn sie unmittelbar vor Beginn des Zivildienstes versicherungspflichtig gewesen seien, eine Entgeltersatzleistung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) bezogen oder eine Beschäftigung gesucht hätten. Von einer Beschäftigung unmittelbar vor Dienstantritt könne nur ausgegangen werden, wenn - anders als hier - zwischen der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung und dem Dienstantritt kein Zeitraum von mehr als vier Wochen liege.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, er erfülle die Anwartschaftszeit, weil der Zivildienst als versicherungspflichtige und daher anwartschaftsbegründende Zeit zu berücksichtigen sei. Die in § 26 Abs 1 Nr 2 SGB III enthaltene gesetzliche Formulierung "unmittelbar vor Dienstantritt" sei weit auszulegen. Es müsse ausreichen, dass er mit Beginn des übernächsten Monats nach Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung den Zivildienst angetreten habe. Dabei könne es ihm nicht zum Nachteil gereichen, dass der Zivildienst statt am 1.9. am 3.9.2001 begonnen habe. Dies sei lediglich darauf zurückzuführen, dass es sich bei dem 1. und 2.9.2001 um ein Wochenende gehandelt habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Ob dem Kläger ein Anspruch auf die Gewährung von Alg dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 SGG) zusteht, kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen des LSG (§ 163 SGG) zur Erfüllung der Anwartschaftszeit nicht abschließend beurteilt werden.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 18.9.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.1.2003 (§ 95 SGG). Gegen diesen Bescheid wehrt sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG).
Nach § 117 Abs 1 SGB III (in der Normfassung des Art 1 des Gesetzes vom 24.3.1997 - BGBl I 594) haben Arbeitnehmer einen Anspruch auf Alg, wenn sie arbeitslos sind, sich beim Arbeitsamt (jetzt Agentur für Arbeit) arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger nach Absolvierung des Zivildienstes arbeitslos iS des § 117 Abs 1 Nr 1 iVm § 118 SGB III und hat sich am 3.7.2002 persönlich arbeitslos gemeldet (§ 117 Abs 1 Nr 2 iVm § 122 SGB III). Ob er die erforderliche Anwartschaftszeit (§ 117 Abs 1 Nr 3 iVm § 123 SGB III) erfüllt, kann hingegen nicht beurteilt werden.
Nach § 123 Satz 1 SGB III (in der Normfassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der Bundeswehr ≪Bundeswehrneuausrichtungsgesetz≫ vom 20.12.2001 - BGBl I 4013) hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate, als Wehrdienst- oder Zivildienstleistender mindestens zehn oder als Saisonarbeiter mindestens sechs Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. Ob für den Kläger die ab 1.1.2002 erfolgte Verkürzung von zehn auf sechs Monate für Wehr- und Zivildienstleistende gilt (vgl dazu § 434e SGB III), kann dahinstehen; denn der Kläger weist zehn Monate (= 300 Tage; vgl § 339 Satz 2 SGB III) Zivildienst innerhalb der Rahmenfrist auf. Diese beträgt gemäß § 124 Abs 1 SGB III (in der Normfassung des Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ≪Job-AQTIV-Gesetz≫ vom 10.12.2001 - BGBl I 3443) drei Jahre und begann mit dem Tag vor Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg. Tatsächliche Feststellungen zur Beurteilung der Versicherungspflicht der Tätigkeiten des Jahres 2000 fehlen ebenso wie für die des Jahres 2001; ohnedies reichen die vorhandenen Monate insoweit allein nicht für die Erfüllung der Anwartschaftszeit aus. Vielmehr kommt es entscheidend auf eine Versicherungspflicht während des Zivildienstes an.
Maßgebend hierfür ist § 26 Abs 1 Nr 2 SGB III aF (Normfassung des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - ≪SGB IX≫ vom 19.6.2001 - BGBl I 1046). § 26 SGB III in der ab dem 1.1.2002 geltenden Fassung des Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes ist aufgrund der Übergangsvorschrift des § 434e SGB III nicht rückwirkend für die Bewertung des vom Kläger geleisteten Zivildienstes als Versicherungszeit maßgebend, weil der Zivildienst vor dem 1.1.2002 begonnen hat. Nach § 26 Abs 1 Nr 2 SGB III aF sind Personen - soweit einschlägig - versicherungspflichtig, die aufgrund gesetzlicher Pflicht länger als drei Tage Wehr- oder Zivildienst leisten und während dieser Zeit nicht als Beschäftigte versicherungspflichtig sind, wenn sie unmittelbar vor Dienstantritt versicherungspflichtig waren.
Vorliegend bedarf es keiner Entscheidung darüber, wie der Begriff der Unmittelbarkeit im Anschluss an ein Versicherungspflichtverhältnis auszulegen ist (vgl: Schlegel in Eicher/Schlegel, SGB III, § 26 RdNr 4, Stand November 2008; Timme in Hauck/Noftz, SGB III, K § 26 RdNr 18, Stand Januar 2009; Wagner in Gemeinschaftskommentar SGB III, § 26 RdNr 18, Stand Februar 2009; Wissing in Praxiskommentar SGB III ≪PK-SGB III≫, 2. Aufl 2004, § 26 RdNr 19; Brand in Niesel, SGB III, 3. Aufl 2005, § 26 RdNr 13; Fuchs in Gagel, SGB II/SGB III, § 26 SGB III RdNr 28, Stand Dezember 2009; Sächsisches LSG, Urteil vom 23.1.2003 - L 3 AL 169/02; LSG für das Saarland, Urteil vom 18.5.2000 - L 6 AL 38/99; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.2.1986 - L 9 Ar 124/85; offen gelassen in BSG SozR 4-4300 § 26 Nr 4 RdNr 18 und SozR 3-6050 Art 71 Nr 11 S 62), insbesondere ob Nahtlosigkeit zu fordern ist oder unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls wertend entschieden werden muss und dabei bzw generell ein Zeitraum von vier Wochen bzw einem Monat zu akzeptieren ist. Denn das LSG hat in seinem Urteil die Umstände der Beschäftigung des Klägers nach seinem Abitur bis Ende August 2001 weder tatsächlich ermittelt noch einer rechtlichen Würdigung unterzogen, sondern lediglich die Rechtsbehauptung aufgestellt, der Kläger sei (nur) im Juli 2001 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Wieso das so sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass der Kläger aushilfsweise tätig war und sich damit die Frage nach einer Versicherungsfreiheit nach § 27 Abs 2 SGB III iVm § 8 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung stellt. Bei der dabei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlichen prognostischen Beurteilung (vgl BSG SozR 2100 § 8 Nr 4 S 4; SozR 3-2400 § 8 Nr 3) ist jedoch für die Frage der Versicherungspflicht einheitlich auf den gesamten Zeitraum abzustellen. Dann aber stellt sich die Frage der Unmittelbarkeit entweder nicht, weil der Kläger nach dem Abitur überhaupt nicht versicherungspflichtig beschäftigt war, oder eine Versicherungspflicht lag bis Ende August 2001 vor, sodass auch Unmittelbarkeit zu bejahen wäre, weil zwischen dem Ende der Beschäftigung und der Aufnahme des Zivildienstes nur das Wochenende lag. Dass für den Kläger ggf (nur) für Juli 2001 Beiträge gezahlt worden waren, ist unbeachtlich (vgl nur Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, § 336 RdNr 1 ff mwN, Stand März 2005); die Arbeitslosenversicherung kennt keine Formalversicherung.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen