Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Dezember 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um Entschädigungsleistungen wegen einer Berufskrankheit (BK).
Der im Jahre 1932 geborene Kläger war von 1973 bis 1982 in einer Baustoffirma als Schreiner und Monteur und anschließend bis 1986 im Verkaufslager tätig. Nachdem bei ihm im Juni 1986 eine Kehlkopftumorerkrankung festgestellt wurde, war er bis zu seinem Ausscheiden aus der Firma Ende Mai 1988 arbeitsunfähig krank.
Im Januar 1990 zeigte der Kläger bei der Beklagten seine Kehlkopfkrebserkrankung, die er auf seine frühere Tätigkeit zurückführte, an und begehrte, seine Erkrankung als BK anzuerkennen; er habe in dieser Zeit ohne Schutz- und Absaugvorrichtungen innerhalb des Betriebs und auf Montage Asbestzementplatten bearbeiten müssen. Die Beklagte lehnte eine Anerkennung als BK ab (Bescheid vom 24. April 1991 i.d.F. des Widerspruchsbescheids vom 26. August 1991), da nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ein Ursachenzusammenhang zwischen Kehlkopfkrebs und beruflicher Asbeststaubbelastung nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers als BK zu entschädigen (Urteil vom 30. Juni 1994). Angesichts der vom Technischen Aufsichtsdienst (TAD) errechneten Asbeststaubbelastung von insgesamt 426 Faserjahren seien die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfüllt. Der Asbeststaubbelastung komme neben dem in seinem Umfang umstrittenen Rauchen des Klägers zumindest eine wesentliche mitursächliche Bedeutung zu. Es bestünden auch „neue Erkenntnisse” i.S. des § 551 Abs. 2 RVO. Das Fachgespräch unter den Unfallversicherungsträgern am 26. April 1993 zum Thema „Larynx (Kehlkopf) – Karcinom durch Asbest” habe beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVGBG) zu einer Klärung im Sinne der Empfehlung vom 11. November 1993 (HVGBG RdSchr VB 102/93) geführt, die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO beim Vorliegen der Brückensymptome, die für die BK Nr. 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) – u.a. die Einwirkung von 25 Faserjahren – genannt seien, anzuerkennen.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte nach weiterer medizinischer Aufklärung durch das Landessozialgericht (LSG) erklärt, zwar sei vom medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus die Erkrankung des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Asbestexposition zurückzuführen; jedoch stünden einer Anerkennung des Leidens wie eine BK versicherungsrechtliche Gesichtspunkte entgegen, da im Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung die mittlerweile gewonnenen Erkenntnisse noch nicht vorgelegen hätten.
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 13. Dezember 1995). Dem Kläger stehe ein Entschädigungsanspruch wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO zu. Die besonders hohe berufliche Asbeststaubbelastung sei wesentlich mitursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung im Jahre 1986. Die nach § 551 Abs. 2 RVO im allgemeinen zu fordernde gruppenspezifische Risikoerhöhung sei im Fall der Kehlkopfkrebserkrankten durch die „generelle Geeignetheit” als gesichert anzusehen. Die medizinischen Erkenntnisse seien auch „neu” im Sinne dieser Vorschrift, da sie sich erst nach Inkrafttreten der 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 zur BK-Reife verdichtet hätten. Sie hätten nach zunehmender Vertiefung der Erkenntnisse nach der Wiedervereinigung schließlich die BK-Reife auf Grund der Fachgespräche in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit in Hennef am 26. April 1993 und dem daraufhin ergangenen Rundschreiben des HVGBG vom 11. November 1993 erreicht. Die „neuen” Erkenntnisse müßten auch nicht bereits im Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bestanden haben. Der umfangreichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Umfang der Rückwirkungsvorschriften des Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO zur BKVO in bezug auf § 551 Abs. 2 RVO hätte es nicht bedurft, wenn es gefordert hätte, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung hätten vorliegen müssen. § 551 RVO sei solange originäre Anspruchsgrundlage auch für „Altfälle” – ggf unter Beachtung der §§ 44ff. des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) und der Verjährungsvorschriften –, bis der Verordnungsgeber die neuen Erkenntnisse durch Aufnahme der Erkrankung in die BK-Liste umgesetzt habe.
Die in Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO für die Asbesterkrankungen getroffene Rückwirkungsregelung zum 1. April 1988 schließe die im Jahre 1986 aufgetretene Erkrankung des Klägers nicht von einer Entschädigung wie eine BK aus, da diese weder unmittelbar noch analog anzuwenden sei. § 551 Abs. 2 RVO weise keine „planwidrige Unvollständigkeit” im Sinne einer verdeckten Gesetzeslücke auf. Es sei auch nicht Aufgabe der Rechtsprechung, sich im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO durch Fixierung von Rückwirkungszeitpunkten Kompetenzen anzueignen, die bei Aufnahme einer BK in die Liste allein der Rechtssetzungsautonomie des Verordnungsgebers unterlägen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 551 Abs. 2 RVO). Sie meint, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers sei aus versicherungsrechtlichen Gründen nicht wie eine BK zu entschädigen.
Zum einen müßten die neuen Erkenntnisse bereits im Zeitpunkt der Erkrankung bestanden haben, was hier nicht der Fall sei. Außerdem spräche gegen eine Entschädigung von Erkrankungen, die in der Vergangenheit aufgetreten seien, noch bevor gefestigte wissenschaftliche Erkenntnisse über die berufliche Verursachung vorgelegen hätten, verwaltungspraktische Gründe wie schwierige bzw. unmögliche Sachverhaltsaufklärung von lange zurückliegenden Expositionen, Beweisschwierigkeiten und – am Rande – eine nicht übersehbare Kostenfolge für die Unfallversicherungsträger.
Zum anderen sei nicht immer ohne weiteres ein Entschädigungsfall des § 551 Abs. 2 RVO gegeben, wenn „neue Erkenntnisse” über den Ursachenzusammenhang vorhanden seien und ein Versicherter an einer entsprechenden Erkrankung leide. Die Berufsgenossenschaft (BG) müsse im Einzelfall die gleichen Überlegungen anstellen wie der Verordnungsgeber anläßlich der Frage, ob eine BK in die Liste aufzunehmen sei. Soweit absehbar sei, daß die Anerkennungs- und Entschädigungsvoraussetzungen einer zukünftig neu in die Liste aufzunehmenden BK Rückwirkungsklauseln und Ausschlußfristen enthalten würden, dürfe eine Verwaltungsentscheidung diese Fristen nicht unberücksichtigt lassen. Da der Verordnungsgeber in den beiden letzten ÄndVOen jeweils eine Rückwirkungsvorschrift vorgesehen habe, die dem Tage des Inkrafttretens der vorausgegangenen ÄndVO entspreche, sei davon auszugehen, daß bei der nächsten ÄndVO mit der Aufnahme der Kehlkopfkrebserkrankung durch Asbest als BK jedenfalls kein vor dem 1. April 1988 liegender Stichtag festgesetzt würde. Zumindest solange, bis eine Rückwirkungsregelung des Verordnungsgebers – wenn auch im Entwurfsstadium – bekannt werde, sei ein Abstellen auf die Rückwirkungsklausel der letzten ÄndVO naheliegend und sachgerecht. Eine andere Auffassung führte zu dem unbilligen Ergebnis, daß ein Versicherter im Fall eines Lungenkarcinoms in Übereinstimmung mit den vom BSG festgelegten Grundsätzen keinen Entschädigungsanspruch hätte, weil die Neufassung der BK Nr. 4104 nur Versicherungsfälle ab dem 1. April 1988 erfasse. Für das vorliegende Kehlkopfkarcinom würde demgegenüber Entschädigung aufgrund einer Konvention erbracht, die die parallelen Tatbestandsmerkmale der BK Nr. 4104 aufgreife. Eine Ungleichbehandlung dieser Sachverhalte erscheine willkürlich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Dezember 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen beim BSG vertretungsberechtigten Bevollmächtigten vertreten.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II.
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf Entschädigung seiner Kehlkopfkrebserkrankung wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO.
Da Krebserkrankungen des Kehlkopfes in der Anlage 1 zur BKVO (Liste der BKen) i.d.F. der 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I 2343) nicht aufgeführt sind, kommt eine Entschädigung des Klägers nur nach § 551 Abs. 2 RVO in Betracht; die Anspruchsvoraussetzungen hat das LSG zutreffend und mit überzeugender Begründung als erfüllt angesehen.
Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Damit soll allerdings nicht erreicht werden, daß jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK entschädigt wird (BSGE 59, 295, 297; BSG SozR 2200 § 551 Nr. 18). Sinn des § 551 Abs. 2 RVO ist es vielmehr, solche durch die versicherte Tätigkeit verursachten Krankheiten wie eine BK zu entschädigen, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (BSGE 59, 295, 297; BSG Urteil vom 24. Januar 1990 – 2 RU 20/89 – USK 90140).
Entsprechend den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG ist die berufliche Asbestfaserbelastung des Klägers in einer Gesamtdosis von 426 Faserjahren bei seiner Tätigkeit als Schreiner/Monteur im Einzelfall rechtlich ursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung im Jahre 1986, und zwar auch angesichts des Umstands, daß der Kläger als Raucher und Konsument von Alkohol Konkurrenzursachen aufweist.
Eine für eine Entschädigung auch nach § 551 Abs. 2 RVO erforderliche gruppenspezifische Risikoerhöhung kann im Fall des Kehlkopfkrebses nicht mit der im allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung derartiger Krankheitsbilder zum Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen (s BSGE 59, 295, 298f., BSG Urteil vom 12. Juni 1990 – 2 RU 21/89 – USK 90164 – jeweils m.w.N.) belegt werden, da nach den Feststellungen des LSG infolge der Seltenheit dieses Tumorleidens medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können. In einem solchen Ausnahmefall kann, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, in Übereinstimmung mit dem Votum des HVGBG im Rundschreiben vom 11. November 1993 (RdSchr VB 102/93), das sich u.a. auf das Fachgespräch zwischen den beteiligten Unfallversicherungsträgern und Wissenschaftlern am 26. April 1993 (s Tagungsbericht über das Fachgespräch „Larynxkarcinom durch Asbest”?, BK-Report 2/94, herausgegeben vom HVGBG) stützt, die „generelle Geeignetheit” der Einwirkungen von Asbest für die Entstehung von Kehlkopfkrebs als gesichert angesehen werden, und zwar aus Einzelfallstudien, Erkenntnissen und Anerkennungen in der ehemaligen DDR, deren BK Nr. 93 asbestbedingte Tumorleiden allgemein und darunter das Kehlkopfkarcinom durch Asbest als BK entschädigte, sowie aus bisher nach § 551 Abs. 2 RVO ausgesprochene Anerkennungen entsprechender Erkrankungen des Kehlkopfes in der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Stand vom 31. Dezember 1992 waren es insgesamt 6 Anerkennungen bei 18 Ablehnungen und 15 offenen Fällen (s Blome, Bericht über die Dokumentation der Fälle des § 551 Abs. 2 RVO – Larynxkarcinom durch Asbest? –, in BK-Report a.a.O. S. 24).
Diese medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zum generellen Ursachenzusammenhang zwischen Asbestfaserstaubeinwirkung und Kehlkopfkrebs sind „neu” i.S. des § 551 Abs. 2 RVO. Obwohl der Ursachenzusammenhang zwischen Asbestfaserstaubeinwirkungen und Tumor des Kehlkopfes in der medizinischen Wissenschaft immer wieder diskutiert wurde (s Blome a.a.O. S. 22), haben sich die Erkenntnisse zu dieser Frage, wie das LSG rechtlich zutreffend ausgeführt hat, erst nach dem Inkrafttreten der 2. ÄndVO zur BKVO vom 18. Dezember 1992 zum 1. Januar 1993 zur BK-Reife verdichtet (s BSGE 59, 295, 297), so daß der Verordnungsgeber diese Erkenntnisse bei der Neufassung der 2. ÄndVO im Dezember 1992 noch nicht berücksichtigen konnte.
Nach den bindenden Feststellungen des LSG haben sich diese Erkenntnisse zunehmend nach der Wiedervereinigung vertieft, nachdem der HVGBG eine weitere Stellungnahme bei dem Vorsitzenden der ehemaligen Obergutachtenkommission der DDR zu der Frage eingeholt hatte, welche medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse in der DDR zur dortigen BK Nr. 93 bestanden (s BK-Report 2/94 a.a.O. Einleitung S. 10 sowie Bericht Dr. Konetzke S. 47ff.). Sie haben schließlich nach dem Fachgespräch in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit und Verwaltung in Hennef am 26. April 1993 die BK-Reife gewonnen. Bei diesem Fachgespräch haben die mit der Problematik befaßten Wissenschaftler den neusten Wissensstand zur Frage des Ursachenzusammenhangs festgestellt und den HVGBG damit veranlaßt, den gewerblichen Unfallversicherungsträgern die Anerkennung entsprechender Fälle nach § 551 Abs. 2 RVO unter bestimmten näher bezeichneten Voraussetzungen zu empfehlen. Dementsprechend hat der HVGBG in seinem Rundschreiben vom 11. November 1993 (RdSchr a.a.O.) die Anerkennung für die Fälle empfohlen, in denen neben einer isolierten Kehlkopferkrankung eines der „Brückensymptome” nach der BK Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKVO besteht, u.a. die Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren. Unter Zugrundelegung dieser Feststellungen ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß diese nunmehr in der medizinischen Wissenschaft anerkannten Erkenntnisse „neu” i.S. des § 551 Abs. 2 RVO sind.
Entgegen der Auffassung der Revision müssen für den Entschädigungsanspruch des Klägers diese neuen Erkenntnisse nicht bereits zum Zeitpunkt der Erkrankung bestanden haben. Es reicht vielmehr aus, wenn die neuen Erkenntnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über den Anspruch vorhanden sind (s Koch in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherungsrecht, 1996, § 37 RdNr 24 m.w.N.). Insoweit ist ein zurückliegender Sachverhalt nach jetzt vorliegenden Erkenntnissen zu bewerten (s BSG Urteil vom 25. November 1992 – 2 RU 40/91 – HV-INFO 1993, 305).
Nach § 551 Abs. 2 RVO soll eine Erkrankung wie eine BK entschädigt werden, wenn nach Erlaß der letzten ÄndVO zur BKVO neue medizinische Erkenntnisse gewonnen bzw. sich zur BK-Reife verdichtet haben, die eine Anerkennung des Leidens als BK generell und gerade auch im betroffenen Einzelfall rechtfertigen. Weder dem Wortlaut des § 551 Abs. 2 RVO oder einer anderen Bestimmung noch dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist zu entnehmen, daß nur die Einzelfälle entschädigt werden dürfen, bei denen die Erkrankung erst nach Festigung neuer medizinischer Erkenntnisse aufgetreten ist. Im Regelfall muß zunächst zumindest eine Vielzahl von Erkrankungsfällen auftreten, um zu der von der Rechtsprechung im allgemeinen geforderten langfristigen zeitlichen Überwachung und zu Forschungsergebnissen zu gelangen, die eine statistisch relevante Vielzahl entsprechender Erkrankungen umfassen (s BSG Urteil vom 12. Juni 1990 – 2 RU 21/89 – USK 90164 m.w.N.). Das in § 551 Abs. 2 RVO versicherte Risiko realisiert sich erst zu dem Zeitpunkt, in dem entsprechende „neue Erkenntnisse” gesichert vorliegen. Würde man, wie die Revision meint, auf den Erkenntnisstand der Erkrankung – im Fall des Klägers damit auf das Jahr 1986 – abstellen, so bedeutete dies in vielen Fällen, daß eine Entschädigung gerade der Erkrankungen, die Anlaß zur Entwicklung des neuen Erkenntnisstands gegeben haben, nicht möglich wäre. Dies hätte ein der Funktion des § 551 Abs. 2 RVO als „Öffnungsklausel” widersprechendes Ergebnis zur Folge (Koch in Schulin a.a.O. § 37 RdNr 24 unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung des Rechts in der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch – S. inzwischen Gesetz vom 7. August 1996 – Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – BGBl. I 1254). Der Rechtsprechung des BSG zum Umfang der Rückwirkungsvorschriften in Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO zur BKVO vom 18. Dezember 1992 in bezug auf § 551 Abs. 2 RVO hätte es – wie auch das LSG zutreffend ausgeführt hat – nicht bedurft, wenn darin die Rechtsauffassung vertreten worden wäre, die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse hätten zumindest im Zeitpunkt der Erkrankung vorliegen müssen. Diese Rechtsstreitigkeiten waren in tatsächlicher Hinsicht sämtlich dadurch gekennzeichnet, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zu den BKen Nrn 2108 und 2109 (BSG Urteile vom 25. August 1994 – 2 RU 42/93 – BSGE 75, 51ff. sowie Urteil vom 19. Januar 1995 – 2 RU 14/94 – HV-INFO 1995, 1331) und zur BK Nr. 4104 (BSG Urteile vom 19. Januar 1995 – 2 RU 13/94 – HV-INFO 1995, 972 sowie 2 RU 20/94 – HV-INFO 1995, 1141) erst nach Inkrafttreten der 1. ÄndVO vom 22. März 1988 (BGBl. I 400) zum 1. April 1988 gesichert vorlagen, während die Versicherten bereits vorher erkrankt und – soweit die Entschädigung von Wirbelsäulenerkrankungen umstritten waren – aus dem Berufsleben ausgeschieden waren.
Die Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO, eine Erkrankung wie eine BK zu entschädigen, ist solange eine originäre Anspruchsgrundlage und ermöglicht solange eine Entschädigung auch für die Vergangenheit – erforderlichenfalls unter Beachtung der Verjährungsvorschriften –, wie der Verordnungsgeber die neuen Erkenntnisse nicht durch Aufnahme der Erkrankung in die BK-Liste umgesetzt hat. Erst mit diesem Akt des Verordnungsgebers, unter Umständen verbunden mit einer Rückwirkungsregelung, sind die Unfallversicherungsträger an einer Entschädigung von Altfällen außerhalb des vorgeschriebenen Rückwirkungszeitraums auch im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO gehindert (s BSGE 75, 51, 55).
Der Anspruch des Klägers ist auch nicht – wie die Revision meint – durch eine begrenzte Rückwirkung auf Kehlkopfkrebserkrankungen mit Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 und damit auf den Stichtag der Rückwirkung in der 2. ÄndVO zur BKVO ausgeschlossen. Die in Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO getroffene Rückwirkungsregelung zum 1. April 1988 schließt die beim Kläger im Jahre 1986 aufgetretene Erkrankung nicht von einer Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine BK aus. Die Rückwirkungsregelung ist – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – weder unmittelbar noch analog anzuwenden. Ist vielmehr gemäß § 551 Abs. 2 RVO festgestellt worden, daß nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind, so darf der Träger der Unfallversicherung weder Versicherungsfälle, die vor einem von ihm festgelegten Stichtag liegen, beim Vorliegen aller Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO von der Entschädigung wie eine Berufskrankheit ausschließen, noch über den Entschädigungsanspruch nur im Rahmen einer vom Verordnungsgeber in ähnlichen Fällen bei der Aufnahme einer Krankheit als BK in die Liste der Anlage 1 der BKVO festgesetzten, zwangsläufig aber nicht den zu entschädigenden Fall betreffenden und somit nur fiktiven Rückwirkungsklausel befinden. Dies gilt, solange es der Verordnungsgeber an einer entsprechenden Entscheidung entweder durch Aufnahme der Krankeit in die Liste der BKen mit einer Rückwirkungsklausel oder durch erkennbare Ablehnung, die Krankheit in die BKVO aufzunehmen (s BSGE 44, 90, 94), fehlen läßt. In beiden Fällen käme nach diesem Zeitpunkt eine Entschädigung wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO nicht mehr in Betracht.
Die von der Revision geforderte analoge Anwendung der Rückwirkungsvorschrift in Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO auf den Fall des Klägers im Gegenzug zur Anerkennung seiner Kehlkopfkrebserkrankung unter Berücksichtigung der in der 2. ÄndVO für asbestbedingte Lungenerkrankungen in Nr. 4104 Variante 3 der Anlage 1 zur BKVO normierten Voraussetzungen scheidet zum einen aus, weil die Regelung in § 551 Abs. 2 RVO keine „planwidrige Unvollständigkeit” des Gesetzes im Sinne einer verdeckten Gesetzeslücke aufweist (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl, S. 373). Zum anderen ist die Verwaltung nicht berechtigt, im Rahmen des § 551 Abs. 2 Rückwirkungszeitpunkte festzulegen und damit Befugnisse auszuüben, die bei Aufnahme einer BK in die Liste zur BKVO allein der Rechtsetzungsautonomie des Verordnungsgebers unterliegen und die nach der Rechtsprechung des Senats ab diesem Zeitpunkt auch die – noch nicht bindend festgestellten – Fälle des Versicherungsschutzes nach § 551 Abs. 2 RVO erfassen (s insbesondere BSG Urteile vom 19. Januar 1995 – 2 RU 13/94 – a.a.O. und 2 RU 20/94 – a.a.O. sowie BSG Beschluß vom 11. Mai 1995 – 2 BU 63/95 – HV-INFO 1996, 1102; vgl. auch BVerfG NJW 1996, 3146). Die Festlegung eines Stichtages im Rahmen einer begrenzten Rückwirkung ist als Akt der Rechtssetzung jedenfalls grundsätzlich dem Gesetzgeber oder dem von ihm auch insoweit ermächtigten Verordnungsgeber vorbehalten. Die Verwaltung hat bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO die Krankheit wie eine BK zu entschädigen. Es handelt sich ebenso wie bei anderen Entschädigungsleistungen um eine Gesetzesanwendung. Das Gesetz sieht keinen Stichtag vor. Vielmehr ist § 551 Abs. 2 RVO nach Art 4 § 2 Abs. 1 Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I 241) sogar auf Versicherungsfälle vor Inkrafttreten des UVNG anwendbar. Dem widerspricht – entgegen der Auffassung der Revision – nicht, daß die Beklagte bei Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO auch die Voraussetzungen des Absatzes 1 dieser Vorschrift zu beachten hat. Auch diese Beachtung geschieht im Rahmen der Entscheidung über den Leistungsanspruch im Einzelfall und enthält keinen Akt der Rechtssetzung. Die Krankheit wird nur wie eine BK entschädigt; sie wird nicht als BK mit unmittelbarer Wirkung für andere Leistungsfälle als BK in die Liste der Anlage 1 zur BKVO aufgenommen.
Zeichnen sich bei neuen Erkenntnissen i.S. des § 551 Abs. 2 RVO für länger zurückliegende Versicherungsfälle kaum oder nur mit unvertretbarem Verwaltungsaufwand lösbare Schwierigkeiten bei der Feststellung der erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen oder nicht tragbare finanzielle Belastungen ab, so ist es Aufgabe des Verordnungsgebers, die Krankheit als BK in die Liste der Anlage 1 zur BKVO mit einer nach der – allerdings mit Verfassungsbeschwerden angegriffenen – Rechtsprechung des Senats zulässigen sachlich begründeten Begrenzung auf Versicherungsfälle nach einem bestimmten Stichtag aufzunehmen.
Entgegen der Auffassung der Revision liegt auch kein Verstoß gegen Art 3 Abs. 1 GG darin, daß einem an asbestbedingten Lungenkrebs leidenden Versicherten, dessen Erkrankung vor dem 1. April 1988 eingetreten ist, aufgrund der – vom Senat grundsätzlich für zulässig erachteten, aber durch Verfassungsbeschwerden in der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts gestellten – Rückwirkungsklausel des Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO zur BKVO kein Entschädigungsanspruch – auch nicht nach § 551 Abs. 2 RVO (s BSG Urteile vom 19. Januar 1995 – 2 RU 13/94 – a.a.O. und 2 RU 20/94 – a.a.O.) zusteht, während für den im Jahre 1986 an einem asbestbedingten Kehlkopfkrebs erkrankten Kläger infolge Nichtanwendbarkeit einer Rückwirkungsklausel ein Entschädigungsanspruch nach § 551 Abs. 2 RVO besteht. Zwar sind auch die Unfallversicherungsträger als Träger öffentlicher Gewalt Verpflichtungsadressaten des Art 3 Abs. 1 GG (s Gubelt in von Münch/Kunig, Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl, 1992, Art 3 RdNr 8); jedoch verbietet Art 3 Abs. 1 GG „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln” (s u.a. BVerfGE 78, 104, 121 m.w.N.). Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt erst dann vor wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die Ungleichbehandlung oder die Gleichbehandlung nicht finden läßt (BVerfGE 74, 182, 200 m.w.N.). Für die ungleiche Behandlung der von der Revision dargelegten beiden Vergleichsfälle ergibt sich ein sachlicher Grund vor allem aus dem – zumindest bis jetzt bestehenden – unterschiedlichen Regelungsgegenstand, indem der Verordnungsgeber den asbestbedingten Lungenkrebs durch die 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 in die BK-Liste als entschädigungspflichtige BK aufgenommen hat, den asbestbedingten Kehlkopfkrebs mangels bisher ausreichender medizinischer Erkenntnisse hingegen nicht.
Inwieweit der Gleichheitssatz durch die derzeit gebotene Anerkennung eines Kehlkopfkrebsleidens wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO verletzt ist, falls zu einem späteren Zeitpunkt die gleichen Leiden anderer Versicherter nach Aufnahme in die BK-Liste wegen einer möglicherweise vom Verordnungsgeber angeordneten begrenzten Rückwirkung als entschädigungspflichtig abzulehnen sein sollten, kann für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits offenbleiben. Ebenso kann dahinstehen, ob und inwieweit nach Vorliegen eines Entwurfs einer neuen ÄndVO die Unfallversicherungsträger möglicherweise darin vorgesehenen Klauseln und Fristen bei der Entscheidung über einen Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO „im Vorgriff” zu berücksichtigen hätten (s dazu Eilebrecht, BG 1993, 1987, 1992). Der Entwurf einer solchen ÄndVO liegt bisher nicht vor.
Die Revision war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 250 |
Breith. 1997, 527 |
SozSi 1997, 318 |