Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Anspruch, der sich früher gegen einen inzwischen stillgelegten oder nicht mehr vorhandenen Versicherungsträger richtete
Leitsatz (redaktionell)
1. Bestand ein Anspruch gegen die Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung wenn auch als Rechtsnachfolgerin des Hessischen Gemeindeunfallversicherungsverbands, der in dem heutigen Hessischen GUV seinen Rechtsnachfolger hat, so fällt dieser Anspruch unter das FAG SV, weil die Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung zu den "nicht mehr bestehenden" oder "stillgelegten" Versicherungsträgern der gesetzlichen Unfallversicherung gehört.
2. Die Vorschrift des FAG SV § 17 Abs 6 kann nicht auf Bescheide und Urteile angewandt werden, die nur für den Versicherungsträger verbindlich waren, auf dessen Stillegung oder Wegfall die Anwendung des FAG SV beruht. Der neue Versicherungsträger ist daher berechtigt, solche Ansprüche zum Gegenstand eines neuen unabhängigen Feststellungsverfahrens zu machen.
Normenkette
SVFAG § 17 Abs. 6 Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin machte im Juli 1940 bei dem damaligen Hessischen Gemeindeunfallversicherungsverband (GUVV) Entschädigungsansprüche wegen einer Berufskrankheit geltend. Sie führte eine Herzbeutelentzündung auf eine infektiöse Erkrankung zurück, die sie sich durch Ansteckung im Stadtkrankenhaus O zugezogen habe. Dort war sie vom 1. April bis 30. Juni 1940 als Helferin des Deutschen Roten Kreuzes beschäftigt gewesen.
Der GUVV lehnte durch Bescheid vom 24. April 1941 den Anspruch auf Entschädigung mit der Begründung ab, die Klägerin sei lediglich auf der Chirurgischen Kinderstation beschäftigt gewesen, auf der Kinder mit ansteckenden Krankheiten während ihrer Tätigkeit nicht behandelt worden seien.
Auf die Berufung der Klägerin hob das Hessische Oberversicherungsamt (OVA) in D durch Urteil vom 20. März 1942 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte den GUVV dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung. Den Rekurs des GUVV hiergegen wies das Reichsversicherungsamt (RVA) durch Entscheidung des Senatsvorsitzenden vom 26. März 1943 (nach § 2 Abs. 1 der Verordnung - VO - vom 28.10.1939 - RGBl I, 2110) zurück. In dieser Entscheidung ist ua ausgeführt: Der Hessische GUVV sei zur Leistung verpflichtet, vorbehaltlich eines sich aus dem Sechsten Änderungsgesetz mit dessen Inkrafttreten etwa ergebenden Übergangs der Verpflichtung auf das Reich (Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung - RAfU -). Die RAfU war in dem Verfahren vor dem RVA beigeladen.
Auf Grund dieser Entscheidung des RVA stellte der Hessische GUVV durch Bescheid vom 21. Juni 1943 für die Zeit vom 30. Juni 1940 bis 31. Dezember 1941 eine vorläufige Rente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente fest. Im Bescheid ist ausgeführt, daß die Entschädigungspflicht vom 1. Januar 1942 an auf die RAfU übergehe. Diese teilte der Klägerin durch Schreiben vom 3. Juli 1943 in Ergänzung des Bescheides des Hessischen GUVV mit, daß die Rente von ihr nur bis zum 31. Mai 1943 zu zahlen sei.
Am 22. Oktober 1953 stellte die Klägerin beim Hessischen GUVV in D den Antrag, ihr die Rente wieder zu gewähren, und begründete dieses damit, daß ihr Leiden sich seit dem Wegfall der Rente im Jahre 1943 wesentlich verschlimmert habe. Die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung (BAfU), an die der Hessische GUVV den Antrag abgegeben hatte, lehnte durch Bescheid vom 26. August 1955 den Entschädigungsanspruch aus Anlaß der Erkrankung, welche die Klägerin sich während ihrer Tätigkeit im Stadtkrankenhaus O zugezogen haben will, mit der Begründung ab, daß die Erkrankung nicht auf eine berufliche Infektion zurückzuführen sei.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Darmstadt hat durch Urteil vom 19. Juni 1956 die Beklagte verurteilt, für die jetzt bestehenden Folgen der rechtskräftig anerkannten Berufskrankheit vom Oktober 1953 an eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. zu gewähren. Die Berufung hat das SG wegen der grundsätzlichen Frage zugelassen, ob nach dem Fremdrentengesetz (FremdRG) vom 7. August 1953 (BGBl I 1953, 848; 1956, 17) ein neuer Rechtszug eröffnet sei.
Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Die Zuständigkeit der Beklagten ergebe sich aus § 7 Abs. 1 Nr. 1 FremdRG. Durch das FremdRG sei jedoch kein neuer Rechtszug eröffnet worden, da die Beklagte nach § 17 Abs. 1 und 6 FremdRG an die Bescheide vom 21. Juni 1943 und 3. Juli 1943 gebunden sei. Obwohl berechtigte Zweifel an der Richtigkeit dieser rechtskräftig gewordenen Bescheide bestünden, sei die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides nur berechtigt, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegeben sei, das sei jedoch nicht der Fall. Die Beklagte hätte deshalb entsprechend dem Antrag der Klägerin verurteilt werden müssen, vom Antragsmonat an eine Rente nach einer MdE um 30 v. H. zu gewähren.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Diese Berufung hat das LSG durch Urteil vom 15. Oktober 1957 als unbegründet zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Berufung sei nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, so daß es einer besonderen Zulassung nicht bedurft habe. Durch § 2 Abs. 2 der Verordnung zur Überführung der Ausführungsbehörde für Unfallversicherung in der britischen Zone vom 14. März 1951 (BGBl I, 190) sei der Beklagten ohne jede Einschränkung die Abwicklung der Aufgaben der ehemaligen RAfU in Berlin übertragen worden. Deren Zuständigkeit habe sich aus § 624 Abs. 1 c der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit § 16 des Gesetzes über das Deutsche Rote Kreuz vom 9. Dezember 1937 (RGBl I, 1330) idF des Sechsten Änderungsgesetzes und des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 3. September 1942 (AN S. 496) ergeben. Die Abwicklung der Aufgaben eines nicht mehr bestehenden Versicherungsträgers könne nur darin bestehen, die rechtskräftig festgestellten Renten weiter zu gewähren. Dabei könne es dahingestellt bleiben, ob die Beklagte Gesamtrechtsnachfolgerin der RAfU geworden sei, weil sich zum mindestens aus der Abwicklungsaufgabe eine Funktionsnachfolge ergebe. Aus einer solchen folge, daß die mit der Abwicklung des untergegangenen Versicherungsträgers beauftragte Stelle an dessen früheren Bescheid und die gegen und für ihn ergangenen Urteile gebunden sein müsse. Durch das FremdRG sei die VO vom 14. März 1951 nicht aufgehoben worden. Wenn der Gesetzgeber eine solche Absicht gehabt hätte, hätte er in § 20 Abs. 2 FremdRG auch diese VO erwähnen müssen. Die Beklagte bleibe deshalb an frühere rechtskräftige Bescheide der in der VO vom 14. März 1951 erwähnten Versicherungsträger ebenso wie an frühere rechtskräftige Urteile gebunden. Auch eine Anwendung des FremdRG führe zu keinem anderen Ergebnis; denn eine Bindung der Beklagten an die Urteile des Hessischen OVA und des RVA ergebe sich aus § 17 Abs. 6 FremdRG. Der Hessische GUVV habe im heutigen Bundesgebiet, nämlich im Bereich des ehemaligen Volksstaates Hessen, bestanden. Daß er auf Grund der Hessischen VO vom 7. Mai 1949 (GVBl S. 41) inzwischen mit den GUVV W und K in den heutigen Hessischen GUVV mit dem Sitz in F übergegangen sei, ändere hieran nichts, weil es sich um eine echte Gesamtrechtsnachfolge handele. Somit sei bereits vor dem 1. April 1952 eine Rente durch einen Versicherungsträger im heutigen Bundesgebiet rechtskräftig festgestellt gewesen. Die Auffassung der Beklagten, daß sich § 17 Abs. 6 FremdRG nur auf solche Feststellungen beziehe, die nach der Konstituierung der Bundesrepublik im Jahre 1949 getroffen worden seien, lasse sich aus dem Gesetz nicht herleiten.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entschiedenen Rechtsfragen hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat den Empfang dieses Urteils unter dem 15. November 1957 bestätigt und am 30. November 1957 Revision eingelegt. Am 2. Januar 1958 hat sie die Revision begründet. Sie beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 26. August 1955 abzuweisen.
Hilfsweise beantragt sie,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II
Die in der gesetzlichen Form und Frist eingelegte und begründete Revision ist durch Zulassung statthaft und somit zulässig. Sie ist auch begründet.
Das LSG hat die Beklagte in erster Linie für leistungspflichtig gehalten, weil es der Auffassung ist, daß die BAfU durch die VO über ihre Errichtung vom 14. März 1951 jedenfalls auf Grund einer Funktionsnachfolge alle Verpflichtungen der RAfU zu erfüllen habe und hierbei an die für die RAfU bindend gewordenen Bescheide sowie an rechtskräftige Urteile gebunden sei.
Diese Auffassung hält der erkennende Senat für unzutreffend. Der Anspruch, den die Klägerin für die Zeit vom Oktober 1953 an geltend gemacht hat, fällt unter das FremdRG, weil die ursprünglich verpflichtete RAfU zu den "nicht mehr bestehenden" oder "stillgelegten" Versicherungsträgern der gesetzlichen Unfallversicherung gehört (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 FremdRG). Das FremdRG regelt aber das materielle Recht der Fremd- und Auslandsrenten erschöpfend, und für eine Haftung unter dem Gesichtspunkt der "Funktionsnachfolge" (vgl. zB BGHZ 8, 169; 13, 265, 303; VerwRspr. Bd. 9 S. 660; BAG in JZ 1958 S. 631, 632; BSG 4, 91, 96; Steinbömer, Die Funktionsnachfolge, Abhandlungen zum Arbeits- und Wirtschaftsrecht Bd. 3, Heidelberg 1957) ist jedenfalls kein Raum, wenn Voraussetzungen und Umfang der Verpflichtungen des Funktionsnachfolgers gesetzlich geregelt sind (vgl. BGHZ 16, 184, 188).
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin allerdings auch auf Grund des FremdRG geprüft, dabei jedoch § 17 Abs. 6 dieses Gesetzes unzutreffend angewendet. Diese Vorschrift, die das Recht des nach dem FremdRG verpflichteten Versicherungsträgers einschränkt, die Leistungen ohne Bindung an das Ergebnis früherer Feststellungsverfahren neu festzustellen (vgl. hierzu BSG 10, 223, 272), kann nicht auf Bescheide und Urteile angewendet werden, die nur für den Versicherungsträger verbindlich waren, auf dessen Stillegung oder Wegfall die Anwendung des FremdRG beruht. Das ist aber hier der Fall; denn die Zuständigkeit des ehemaligen Hessischen GUVV in D war durch § 624 a RVO idF des Art. 1 Nr. 6 des Sechsten Änderungsgesetzes (vom 9.3.1942 - RGBl I, 107) i. V. m. dem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 3. September 1942 (AN S. 496) rückwirkend durch die Zuständigkeit der RAfU abgelöst worden, so daß es ohne Bedeutung ist, daß der ehemalige Hessische GUVV in D weder "stillgelegt" noch "nicht mehr vorhanden" ist, sondern in dem heutigen Hessischen GUVV in Frankfurt einen unmittelbaren Rechtsnachfolger hat.
Die Beklagte war somit berechtigt, die Ansprüche der Klägerin zum Gegenstand eines von dem Ergebnis früherer Feststellungsverfahren unabhängigen neuen Feststellungsverfahrens zu machen. Das LSG hätte den ablehnenden Bescheid vom 26. August 1955 ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung der früheren Urteile und Bescheide nachprüfen müssen. Im übrigen hat das LSG auch nicht berücksichtigt, daß das OVA D in dem vom RVA durch die Entscheidung vom 26. März 1943 bestätigten Urteil vom 20. März 1942 den Hessischen GUVV in D nur dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung verurteilt hatte und daß in dem die Höhe der Entschädigungsleistung feststellenden Bescheid des GUVV vom 21. Juni 1943 ausdrücklich festgestellt worden ist, eine MdE um 30 v. H. habe nur bis zum Tage der Begutachtung, d. h. bis zum 1. Juni 1943, bestanden.
Da es an den für eine Nachprüfung des Bescheides vom 26. August 1955 erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlt, war eine Entscheidung durch den erkennenden Senat nicht möglich. Das angefochtene Urteil mußte deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG auch zu prüfen haben, welche rechtlichen Folgerungen sich daraus ergeben, daß seit dem Inkrafttreten des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (BGBl I, 93 - FANG -) der Anspruch der Klägerin nicht mehr unter das neue "Fremdrentengesetz" (Art. 1 FANG) fällt, weil die Klägerin ihren Anspruch auf eine Infektion bei einer Beschäftigung innerhalb des jetzigen Geltungsbereichs des FANG stützt (vgl. Art. 1 § 5 FANG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen