Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederaufleben von Witwenrente ohne vorherigen Witwenrentenbezug
Orientierungssatz
Für ein Wiederaufleben der Witwenrente ist es nicht erforderlich, daß die Berechtigte vor ihrer Wiederverheiratung Witwenrente tatsächlich bezogen hat; entscheidend ist vielmehr, ob die Witwe im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung einen Anspruch auf Witwenrente gehabt hätte.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 19.01.1959) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 11.04.1958) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesozialgerichts Hamburg vom 19. Januar 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagt hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die 1914 geborene Klägerin war in erster Ehe vom Jahre 1934 an mit dem Versicherten W. verheiratet, der 1942 als Soldat fiel; aus dieser Ehe war ein am 8. Dezember 1935 geborener Sohn M. hervorgegangen.
Am 1. Oktober 1955 verheiratete sich die Klägerin erneut; diese zweite Ehe wurde am 23. Februar 1957 rechtskräftig geschieden.
Durch Bescheid vom 29. Juni 1957 lehnte die Beklagte den am 14. März 1957 gestellten Antrag der Klägerin auf Wiedergewährung der Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann ab, da für die Zeit vor der Wiederverheiratung keine Witwenrente bewilligt gewesen sei und deshalb auch ein solcher Anspruch nicht wieder aufleben könne.
Durch Urteil vom 11. April 1958 sprach dagegen das mit der Klage angegangene Sozialgericht (SG) Hamburg der Klägerin die Witwenrente vom 1. März 1957 an zu. Die von der Beklagten dagegen eingelegte Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Hamburg hatte keinen Erfolg.
Das LSG begründet sein die Berufung zurückweisendes Urteil im wesentlichen folgendermaßen:
Die Klägerin habe, da ihr erster Ehemann versichert gewesen sei und sie am 1. August 1955 noch ein waisenrentenberechtigtes Kind erzogen habe, vom 1. August bis zum 30. Oktober 1955 Anspruch auf Witwenrente gehabt. Eine Rente sei damals mangels Antragstellung nicht gezahlt worden. Der Antrag habe jedoch keine materiell-rechtliche Bedeutung; der Leistungsanspruch entstehe vielmehr unabhängig und losgelöst vom Antrag beim Vorliegen der materiell-rechtlichen Rentenvoraussetzungen; dies gelte selbst für die Fälle, in denen dem Antrag möglicherweise eine zeitbestimmende Funktion zugesprochen werden könne (zB bei vorgezogenem Altersruhegeld). In allen Fällen werde die Rente nicht gewährt, weil ein Antrag gestellt sei, sondern weil im Zeitpunkt der Antragstellung die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Dies gelte gleicherweise für § 1290 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF.
Der Zahlungsbeginn sei auch kein "notwendiges Essentiale des auf Rentenzahlung gerichteten Anspruchs". Die Beginnvorschriften dienten vielmehr nur dazu, den laufenden Verfall bereits entstandener Ansprüche zu legalisieren. Der Antrag habe damit gesetzlich eine gleiche Bedeutung wie die Mahnung (§ 1613 i.V.m. § 284 BGB) bei familienrechtlichen Unterhaltsansprüchen.
Aus der Entwicklung der Vorschriften auf dem Gebiet der Invalidenversicherung ergebe sich eindeutig, daß der Antrag stets nur in Bezug auf den Zeitpunkt des Verfalls an sich bestehender Ansprüche (im Sinne einer Verjährungsfrist), nicht aber in bezug auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung rückwirkende Kraft gehabt habe (§ 41 Abs. 3, Gesetz vom 13.7.1899 idF vom 19.7.1899, RGBl S. 463; § 1253 RVO ältester Fassung, § 1286 RVO). Ebenso sei auch § 4 des Dritten Änderungsgesetzes zum Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) zu verstehen.
Wenn das Bundessozialgericht (BSG) für das Versorgungsrecht gegenteilig entschieden habe (BSG 2, 289), so könne die Richtigkeit dieser Auffassung hier dahingestellt bleiben. Für das Arbeiterrentenrecht sei die Auffassung von der materiell-rechtlichen Natur des Antrags jedenfalls unrichtig (Maus, ZfS 1957, 236, 263; Kiefer, SGb 1958, 10 u. 39). Aus §§ 1290, 1291 RVO nF lasse sich daher nicht schließen, daß vor der Antragstellung noch kein Anspruch entstanden sei. Es könne der Beklagten jedoch auch darin nicht zugestimmt werden, daß vor der Antragstellung kein anderes Recht als das zur Antragstellung vorhanden sei; eine derartig rein verwaltungsrechtliche Betrachtung sei für den Bereich der RVO nicht statthaft.
Inhalt des Handelns des Versicherungsträgers sei "nicht die hoheitsrechtliche Macht, ein Schuldverhältnis zu begründen, sondern die Verpflichtung, einen auf gesetzlicher Grundlage beruhenden Anspruch zu erfüllen". Der Rentenbescheid habe nur feststellenden Charakter (vgl. BSG 5, 66). Auch wenn er zusätzlich ein abstraktes Schuldverhältnis begründen möge, liege darin nur "ein Vorgang erfüllungshalber'", der mit der Entstehung des ursprünglichen Schuldverhältnisses nichts zu tun habe. Die Antragstellung als Willenserklärung des Berechtigten löse nur den bis zu diesem Zeitpunkt gehemmten Zwang des Versicherungsträgers zu Erfüllungshandlungen aus.
Der Antrag sei keine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung; auch aus der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) könne - entgegen der meist vertretenen Auffassung - ein derartiger Grundsatz nicht abgeleitet werden.
Gegen dieses am 26. Februar 1959 zugestellte Urteil vom 19. Januar 1959 hat die Beklagte am 14. März 1959 unter Antragstellung die zugelassene Revision eingelegt und diese am 21. April 1959 begründet.
Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1291 RVO. Der Witwenrentenanspruch sei öffentlich-rechtlicher Natur; auf ihn könnten keine bürgerlich-rechtlichen Grundsätze angewandt werden.
Erste Voraussetzung sei, daß der Klägerin vor ihrer Wiederverheiratung ein Witwenrentenanspruch zugestanden habe; dies sei nicht der Fall, da der Antrag materiell-rechtliche Voraussetzung des Anspruchs sei (RVA AN 93, 142, AN 9 274; EuM 40, 342; BSG 3, 24). Vorher bestehe nur eine Art Anwartschaft auf die Leistung. Dies ergebe sich auch aus den Vorschriften über die Fortsetzung des Verfahrens beim Tode eines Versicherten (§ 1291 RVO aF, § 1288 RVO nF). Von der materiell-rechtlichen Bedeutung des Antrags gingen auch Rechtsprechung und Schrifttum im Versorgungsrecht aus; es sei nicht einzusehen, warum ein Rentenanspruch nach der RVO einer anderen Beurteilung unterliegen solle.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Hamburg vom 19. Januar 1959 und des SG Hamburg vom 11. April 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt demgegenüber die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision. Sie beruft sich zur Begründung auf das angefochtene Urteil, das sie für zutreffend hält.
Zu dem Beschluß des Großen Senats vom 9. Juni 1961, GS 2/59, auf den die Beteiligten hingewiesen wurden, hat die Beklagte noch ausgeführt, ihrer Auffassung nach setze der Große Senat voraus, daß die Witwenrente im Zeitpunkt der Wiederverheiratung bezogen worden sei; dies ergebe sich aus den Gründen jenes Beschlusses, insbesondere aus der dort vorgenommenen Erörterung des Grundes und Zweckes der Bestimmungen.
Demgegenüber vertritt die Klägerin den Standpunkt, jener Beschluß spreche nicht gegen ihre Auffassung, da in dem dort behandelten Fall die Witwe zur Zeit ihrer Wiederverheiratung keinen Witwenrentenanspruch gehabt habe, während er ihr hier vom 1. August bis 31. Oktober 1955 zugestanden habe.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden. Sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft.
Die Revision ist nicht begründet.
Da die übrigen für das Wiederaufleben der Witwenrente der Klägerin erforderlichen Voraussetzungen (nach Art. 2 § 26 Abs. 1 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz -ArVNG- iVm § 1291 Abs. 2 RVO) vorliegen, insbesondere die zweite Ehe erst nach Inkrafttreten des ArVNG ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Klägerin geschieden ist, hängt die Entscheidung nur von der Frage ab, ob ein Anspruch auf Witwenrente, der des "Wiederauflebens" fähig ist, auch dann vorliegt, wenn eine Witwenrente vor der Wiederverheiratung trotz Vorliegens ihrer sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen nur deshalb nicht gezahlt worden ist, weil kein Rentenantrag gestellt war.
Wie der erkennende Senat am 15. Februar 1962 bereits in anderer Sache (4 RJ 58/59) entschieden hat, löst bei einer Witwenrente alten Rechts der Rentenantrag die Rentenzahlung als solche normalerweise erst aus, er gehört jedoch nicht zu den Voraussetzungen des Eintritts des Versicherungsfalls und hat keine Bedeutung für das Entstehen des Rentenanspruchs als solchen. Auch wenn keine tatsächliche Zahlung der Rente erfolgt ist, muß § 1291 Abs. 2 RVO immer dann angewandt werden, wenn vor der zweiten Eheschließung bereits ein Rentenanspruch gegeben war.
Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Beschluß des Großen Senats vom 9. Juni 1960 - GS 2/59 -, der entscheidend ebenfalls darauf abstellt, ob die Witwe "im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung einen Anspruch auf Witwenrente gehabt hätte". Wenn der Große Senat darauf hinweist, daß nur ein Anspruch, der einmal bestanden habe, wiederaufleben könne und daß insbesondere aus der Aufeinanderfolge der Absätze 1 und 2 des § 1291 RVO zu schließen sei, daß Wegfall und Wiederaufleben einer Rente miteinander korrespondierten, ein Rentenanspruch demnach nur nach vorherigem Wegfall wieder aufleben könne, so ist diese Argumentation trotz ihres scheinbaren Gleichklangs doch nicht im Sinne des angefochtenen Urteils zu verstehen. Dem Großen Senats ist es in seinem Beschluß einzig darum zu tun, den Gedanken an eine Anwendung der Wiederauflebensvorschriften für den Fall abzulehnen, daß vor der zweiten Eheschließung überhaupt noch kein Rentenanspruch gegeben war, ein solcher vielmehr erst später für eine nicht erneut verheiratete gedachte Witwe entstanden wäre. Wenn der Beschluß deshalb auch die im vorliegenden Fall zu entscheidende Frage nicht zu erörtern hatte, so zeigt doch gerade die Betonung des dem Gesetzeswortlaut entnommenen Begriffs "Rentenanspruch" gegenüber den in der Begründung des LSG verwandten, dem Gesetzestext nicht entsprechenden Begriffen "Zahlungsanspruch" bzw. "Rente" deutlich den sachlichen Unterschied. Der Beschluß des Großen Senats steht demnach der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen, sondern stützt sie sogar noch.
Darüber hinaus spricht auch die Verwendung des ungewöhnlichen Wortes "Wiederaufleben" anstelle des sonst gebrauchten "Wiedergewährens" für eine vom Gesetzgeber bewußt auf den Anspruch als solchen und nicht auf die tatsächliche Leistung abgestellte Vorschrift. Schließlich ist auch nicht erkennbar, daß der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift eine Absicht verbunden haben sollte, die in ihrem Wortlaut nicht oder nicht voll zum Ausdruck gekommen sei.
Der Sohn der Klägerin aus erster Ehe war am 1. Juni 1949 nach Feststellungen des LSG noch waisenrentenberechtigt. Die Klägerin hatte daher für die Zeit vom 1. August bis 30. Oktober 1955 einen Witwenrentenanspruch gehabt, da die fraglichen Vorschriften (Drittes Gesetz zur Änderung des SVAG vom 3.10.1945 iVm dem Änderungsgesetz zu diesem Gesetz vom 21.1.1956) es für die Zeit vom 1. August 1955 ab darauf abstellen, ob eine Witwe, deren Ehemann vor dem 1. Juni 1949 verstorben war, im Zeitpunkt des Inkrafttretens des SVAG mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzogen hatte.
Im Ergebnis erweist sich daher das Urteil des LSG als zutreffend, ohne daß es eines Eingehens auf dessen sonstige Begründung im einzelnen bedurfte.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen