Leitsatz (amtlich)
1. Eine Erwerbstätigkeit kann in gewisser Regelmäßigkeit iS des RVO § 1247 auch dann ausgeübt werden, wenn der Versicherte noch in der Lage ist, täglich einige Stunden mit kürzeren durch Einnahme von Speisen und kleine Ruhepausen bedingten Unterbrechungen leichte Arbeiten im Sitzen zu verrichten.
2. Der Versicherte kann auf Tätigkeiten, die er auf Grund seines Gesundheitszustandes noch auszuüben vermag und mit denen ihm die Erzielung mehr als geringfügiger Einkünfte möglich ist, nicht verwiesen werden, wenn es derartige Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht oder nicht in nennenswertem Umfang gibt.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. April 1961 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1904 geborene Kläger übte von 1920 bis 1936 den von ihm erlernten Beruf eines Eisendrehers aus. Auf Grund eines Magen- und Gallenblasenleidens, das 1936 zu einer Operation führte, bezog der Kläger von 1936 bis 1947 die Invalidenrente; während dieser Zeit arbeitete er in verschiedenen ungelernten Tätigkeiten. Von 1947 bis zum Februar 1958 war er Postfacharbeiter.
Im Februar 1958 beantragte der Kläger, der im Dezember 1957 erneut eine Magenoperation mit fast völligem Verlust des Magens durchgemacht hatte, erneut die Rente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag unter Berufung auf eingeholte ärztliche Gutachten ab.
Das Sozialgericht (SG) sprach dem Kläger, nachdem es weitere Gutachten eingeholt hatte, entsprechend einem Anerkenntnis der Beklagten vom 1. Februar 1958 an die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu, wies ihn jedoch mit seinem weitergehenden Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab, da er noch erwerbsfähig im Sinne des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei.
Das Landessozialgericht (LSG) bestätigte durch Urteil vom 14. April 1961 die Entscheidung des SG.
Es führte aus, bei der Beurteilung der Frage der Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs. 2 RVO komme es nicht etwa auf die wirklich noch ausgeübte Tätigkeit an, sondern nur auf die Fähigkeit, noch eine Erwerbstätigkeit ausüben und dadurch Einkünfte erzielen zu können. Im Gegensatz zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit bedürfe es weder der Heranziehung einer Vergleichsperson, noch sei der Kreis der zumutbaren Tätigkeiten eingeschränkt. Nur wenn die Verweisung im Hinblick auf die bisherige Lebensstellung des Versicherten eine offensichtliche Härte bedeute, sei sie ausgeschlossen. Entscheidend sei mithin nur die vom Arzt festzustellende Leistungsfähigkeit und die damit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erzielende Verdienstmöglichkeit. Dabei spiele die Frage der Vermittlungsfähigkeit keine Rolle.
Da der Kläger nach den getroffenen Feststellungen jedenfalls noch mit einer gewissen Regelmäßigkeit arbeiten könne, entfalle die erste Alternative des § 1247 Abs. 2 RVO, die eine nur noch unregelmäßig mögliche Erwerbstätigkeit voraussetze.
Aber auch die zweite Alternative aaO komme nicht in Frage, da der Kläger aus einer mit gewisser Regelmäßigkeit auszuübenden Tätigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen könne. Es sei nicht zu beanstanden, daß sich das SG den eindeutigen ärztlichen Gutachten, nach denen der Kläger noch regelmäßig 4 1/2 bis 5 Stunden eine leichte sitzende Tätigkeit ausüben könne, angeschlossen habe. Der Kläger müsse sich daher auf die Tätigkeiten eines Karteiführers oder Hilfskontrolleurs, die er schon früher einmal ausgeübt habe, oder die Tätigkeit eines Heimarbeiters verweisen lassen. Die Regelmäßigkeit dieser Tätigkeiten bleibe auch erhalten, wenn man mit dem Gutachter Dr. W... davon ausgehe, daß der Kläger in verhältnismäßig kurzen Abständen kleine Mahlzeiten zu sich nehmen und danach jeweils etwas ausruhen müsse; auch Dr. W... habe immerhin noch eine Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. angenommen. Der Kläger könne mit derartigen Tätigkeiten auch mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen. Geringfügig seien nur solche Einkünfte, die für den Versicherten bei Bestreiten seines Lebensunterhalts nicht ins Gewicht fielen. Ob und wann dies der Fall sei, lasse sich nur nach den Verhältnissen des Einzelfalles beurteilen. Bei dem Kläger sei es gleichgültig, ob man die Einkünfte, die er mit den ihm noch zuzumutenden Tätigkeiten erzielen könne, mit seinem früheren Entgelt oder mit dem Unterschiedsbetrag zwischen der Höhe der ihm wegen Berufsunfähigkeit und wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Renten vergleiche oder an anderen möglicherweise in Frage kommenden Maßstäben messe. Stets ergebe sich, daß das Entgelt nicht als geringfügig anzusehen sei.
Gegen das am 18. Mai 1961 zugestellte Urteil legte der Kläger am 24. Mai 1961 unter Antragstellung die vom LSG zugelassene Revision ein und begründete sie am 7. Juni 1961.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 1247 RVO. Auch wenn er nach den ärztlichen Feststellungen an sich noch 4 bis 5 Stunden täglich leichte Arbeiten - vorwiegend im Sitzen - verrichten könne, so sei andererseits doch auch festgestellt, daß er häufig Kleine Mahlzeiten zu sich nehmen und sich nach dem Essen hinlegen solle bzw. daß er zur Vermeidung von Darmstörungen alle zwei Stunden etwas Warmes Essen müsse. Unter diesen Umständen sei die Feststellung des Berufungsgerichts, ihm seien noch Tätigkeiten eines Karteiführers oder Hilfskontrolleurs zuzumuten, theoretischer Natur, denn Betriebe, in denen Belegschaftsmitglieder Gelegenheit hätten, alle zwei Stunden eine kleine warme Mahlzeit einzunehmen und sich anschließend hinzulegen, gebe es nicht. Hiernach bleibe allein die Tätigkeit als Heimarbeiter übrig; insoweit hätte das LSG jedoch prüfen müssen, ob solche Stellen in ausreichendem Maße überhaupt vorhanden seien. Wenn dies nicht der Fall sei, müsse Heimarbeit außer Betracht bleiben. In dieser Beziehung lasse das LSG jede Feststellung vermissen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG Freiburg vom 8. April 1960 und des Bescheids der Beklagten vom 22. Juli 1958 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Februar 1958 an zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Ansicht könne der Kläger, wenn er alle zwei Stunden etwas Warmes Essen müssen, mit Hilfe von Thermosbehältern auch bei der Arbeit etwas Warmes zu sich nehmen. Zum anderen könne er bei Ausübung von Heimarbeit die Arbeitszeit seinem Gesundheitszustand selbst anpassen.
Da ein Versicherter, selbst wenn er mit seinen Einkünften fast auf die Hälfte seines normalen Verdienstes absinke, deshalb noch nicht einmal berufsunfähig sei, schlössen bereits Einkünfte, die erheblich unter jener Hälfte lägen, die Annahme von Erwerbsunfähigkeit aus. Erst dann, wenn die erzielbaren Einkünfte auf etwa 25 v.H. der normalen Einkünfte abgesunken seien, könne Geringfügigkeit angenommen werden. Diese Grenze werde jedoch überschritten durch die typischen Invalidenarbeiten, die es auch heute, und zwar durch die Anspannung des Arbeitsmarkts, sicher noch in größerem Umfang als früher gebe; diese Arbeiten könne der Kläger noch verrichten.
Auf die Vermittlungsfähigkeit des Klägers komme es, wie das LSG richtig erkannt habe, nicht an; sogenannte Invalidentätigkeiten gehörten überhaupt nicht zu den Arbeiten, die vom Arbeitsamt vermittelt würden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das LSG sie zugelassen hat.
Die Revision ist auch sachlich begründet.
Die Entscheidung hängt, da die Wartezeit erfüllt ist, nur davon ab, ob das LSG § 1247 Abs. 2 RVO richtig angewandt hat. Nach dieser Vorschrift liegt Erwerbsunfähigkeit einmal vor, wenn der Versicherte infolge von Krankheit, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben kann, wobei es auf die Höhe der dadurch erzielten Einkünfte nicht ankommt, zum anderen, wenn er zwar eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben, aus ihr jedoch nur ein geringfügiges Einkommen erzielen kann.
Die erste Alternative entfällt im vorliegenden Fall. Der Kläger kann noch mit gewisser Regelmäßigkeit arbeiten; der Umstand, daß er die 4 1/2 bis 5-stündige leichte Arbeit im Sitzen nach den Feststellungen des LSG zwar noch verrichten kann, sie aber häufiger zur Aufnahme von Nahrung mit anschließender kurzer Ruhepause unterbrechen muß, hindert die Annahme einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht. Im Gegensatz zur nicht regelmäßigen Tätigkeit stehen gelegentliche Tätigkeiten, insbesondere Aushilfstätigkeiten; da der Kläger jedoch jeden Tag, wenn auch mit Unterbrechungen, eine gewisse Zeit arbeiten kann, handelt es sich bei ihm nicht um eine nur unregelmäßige Tätigkeit.
Dagegen ist zweifelhaft..., ob auch die zweite Alternative ausscheidet. Nach dem medizinischen Befund hindert das Gebrechen, an dem der Kläger leidet, diesen zwar nicht daran, täglich 4 1/2 bis 5 Stunden zu arbeiten, also eine Tätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Es kommt jedoch für die Annahme der Erwerbsfähigkeit nicht nur auf die rein medizinische Möglichkeit an, noch eine Tätigkeit zu verrichten, sondern auch darauf, ob für die in Frage kommenden Tätigkeiten überhaupt noch ein Arbeitsfeld vorhanden ist. § 1247 Abs. 2 RVO ist zwar insoweit nicht eindeutig. Der Wortlaut, daß erwerbsunfähig ist, wer infolge von Gebrechen nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann, läßt an sich sowohl die Deutung zu, daß nur der Versicherte erwerbsunfähig ist, der wegen seines Gebrechens schon medizinisch nicht mehr in der Lage ist, zu arbeiten und daher auch keine Einkünfte mehr erzielen kann, als auch die Auslegung, daß Erwerbsunfähigkeit schon dann anzunehmen ist, wenn der Versicherte wegen seines Gebrechens zwar noch in gewissem Umfang arbeiten könnte, aber aus dem gleichen Grund keine Stelle mehr finden kann. Sinn und Zweck der Erwerbsunfähigkeitsrente spricht für die zweite Auslegung. Dieselben Überlegungen, die bei der Beurteilung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit (bzw. Frühinvalidität) seit jeher dazu geführt haben, eine Verweisung auf eine Tätigkeit nicht für zulässig zu halten, für die ein dem allgemeinen Wettbewerb zugängliches Arbeitsfeld nicht besteht (RVA schon AN 1907, 465; Jantz-Zweng, § 1246 Anm. 2 b), müssen auch hier durchgreifen. Beide Rentenarten sollen den Ausfall des dem Versicherten durch Erwerbstätigkeit nicht mehr erreichbaren höheren Einkommens ausgleichen. Die Erwerbsunfähigkeitsrente ist nur deshalb höher als die Rente wegen Berufsunfähigkeit, weil der Erwerbsunfähige in der Regel im wesentlichen von dem Renteneinkommen leben muß, während der Berufsunfähige seine restliche Arbeitskraft noch zur Erzielung von zusätzlichen, nicht unerheblicher. Einkünften ausnützen kann. Derjenige Versicherte, der zwar noch regelmäßig arbeiten könnte, für den es aber aus Gründen, die mit seinem Gesundheitszustand zusammenhängen, praktisch keine Stelle mehr gibt, ist demnach ebenso auf die erhöhte Rente angewiesen wie ein Versicherter, der überhaupt nicht mehr arbeiten kann (vgl. Entscheidung des erkennenden Senats, BSG 13, 255, 258). Der Kläger ist daher dann erwerbsunfähig, wenn ihm wegen seines Magenleidens und der damit verbundenen Arbeitserschwernis die Tätigkeiten, auf die er an sich noch verwiesen werden könnte, nicht offenstehen, weil es sie in irgendwie nennenswertem Umfang nicht gibt, nicht dagegen, wenn er trotz des Vorhandenseins derartiger Stellen keine offene Stelle findet.
Das Gesetz schränkt bei der Erwerbsunfähigkeit - im Gegensatz zur Berufsunfähigkeit - das für eine Verweisung in Frage kommende Arbeitsfeld nicht ein; der Versicherte kann daher grundsätzlich auf alle Tätigkeiten verwiesen werden, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen, sofern diese Verweisung nicht im Hinblick auf die erworbene Lebensstellung eine offensichtliche Härte bedeutet (vgl. Jantz-Zweng, § 1247 Anm. 2 a; Gesamtkommentar zur RVO, § 1247 Anm. 2). Der Kläger, der den Beruf eines Eisendrehers erlernt hat und zuletzt als angelernter Postfacharbeiter tätig war, kann daher im Rahmen des § 1247 RVO auf alle körperlichen und geistigen Arbeiten, zu denen er in der Lage ist, verwiesen werden ohne Rücksicht darauf, ob es sich dabei um Hilfsarbeitertätigkeiten handelt.
Das LSG hat angenommen, daß der Kläger, auch unter Berücksichtigung des Umstands, daß er in verhältnismäßig kurzen Abständen kleine Mahlzeiten zu sich nehmen und sich anschließend ausruhen müsse, noch die Tätigkeiten eines Karteiführers und eines Hilfskontrolleurs, die er früher schon ausgeführt hat, oder die Tätigkeit eines Heimarbeiters verrichten könne. Es hat jedoch nicht geprüft, ob derartige Stellen als Halbtagsstellen überhaupt in so ausreichender Zahl vorhanden sind, daß sie für den freien Wettbewerb in Frage kommen. Der Hinweis, daß der Kläger derartige Arbeiten in den Kriegsjahren schon verrichtet hat, führt nicht weiter; denn damals arbeitete der Kläger noch ganztägig. Ob diese Stellen jedoch als Halbtagsstellen allgemein erreichbar sind, erscheint zweifelhaft. Halbtagsstellen sind viel seltener und erheblich schwerer zu erlangen als eine ganztägige Beschäftigung. Von halbtagsbeschäftigten Personen wird zudem in der Regel verlangt werden, daß sie durchgehend arbeiten, da ihre Arbeitszeit ohnehin kurz ist. Es erscheint somit fraglich, ob für den Kläger Halbtagsstellen in Betrieben in ausreichender Zahl vorhanden sind. Eher erscheint es möglich, daß der Kläger halbtägig als Heimarbeiter tätig sein kann, weil die Einteilung seiner Arbeitszeit dann in sein Belieben gestellt ist. Es fehlt jedoch auch insoweit an jeder Feststellung, ob derartige Arbeitsplätze in hinreichender Zahl vorhanden sind.
Das LSG hätte daher durch weitere Ermittlungen aufklären müssen, ob und inwieweit für den Kläger an seinem Wohnort oder gegebenenfalls auch außerhalb Arbeitsmöglichkeiten bestehen. Dabei darf es sich nicht darauf beschränken, klarzustellen, ob dem Arbeitsamt derartige Stellen bekannt sind, da die hier in Frage kommenden Tätigkeiten zum großen Teil nicht mehr zu dem Kreis der überhaupt der Vermittlung durch das Arbeitsamt unterliegenden Arbeiten gehören wird. Das LSG muß vielmehr, falls es zu einem solchen Ergebnis kommt, deutlich aussprechen, daß und warum es von dem Bestehen der Arbeitsmöglichkeiten, auf die es den Kläger noch glaubt verweisen zu können, überzeugt ist.
Da eine Entscheidung infolge der nicht ausreichenden Feststellungen durch das Bundessozialgericht nicht möglich war, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen