Leitsatz (amtlich)
1. Zur Abgrenzung des Begriffes "Behinderung" iS des SchwbG § 1.
2. Zur Bemessung der Gesamt-MdE bei mehreren Behinderungen (SchwbG § 3 Abs 3).
Leitsatz (redaktionell)
1. Mathematische Formeln sind kein rechtlich zulässiges oder gar gebotenes Beurteilungsmittel zur Feststellung der Gesamt-MdE.
2. Wenn die "Gesamtheit" der Auswirkungen aller einzelnen Behinderungen einheitlich zu bewerten ist (SchwbG § 3 Abs 3 S 1) muß bei dieser "Gesamtbeurteilung" (S 2) bemessen werden, wie im Einzelfall die durch alle Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkend, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit iS des BVG § 30 Abs 1 beeinträchtigen.
3. Alle Behinderungen sind nach den in BVG § 30 Abs 1 festgelegten, der Vereinheitlichung dienenden Beurteilungsmaßstäben zu bewerten, auf die in SchwbG § 3 Abs 1 S 2 und Abs 3 S 2 verwiesen wird. Sowohl die nach BVG § 30 Abs 1 S 1 und 2 für das Kriegsopferrecht geltenden Richtlinien als - ergänzend - die auf Grund des letzten Satzes für erhebliche Körperschäden festgesetzten Mindest-Vomhundertsätze (vgl BSG 1968-11-26 9 RV 262/66 = BSGE 29, 41, 42 = SozR Nr 35 zu § 30 BVG) sind grundsätzlich auch im Schwerbehindertenrecht maßgebend. Insbesondere ist auch im Bereich des SchwbG von dem nach BVG § 30 Abs 1 S 1 und 2 geltenden Beurteilungsmaßstab der "Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben" auszugehen.
4. Bei der Beurteilung neurologischer Störungen darf die MdE-Bewertung nach SchwbG § 3 Abs 1 nicht auf die hirnorganischen Folgen einer Schädelverletzung beschränkt werden mit der Begründung, eine abnorme Ausgestaltung der Schädigungssymptomatik mit Ausbildung einer abnormen Erlebnisreaktion beruhe auf der besonderen Persönlichkeitsstruktur des Antragstellers (kausale statt finale Betrachtungsweise). Sollte der Antragsteller unfähig sein, aus eigener Kraft solche Abweichungen vom Regelzustand zu überwinden und wirken sich außerdem diese Störungen ausgeprägt leistungsmindernd im Erwerbsleben und sonst im Zusammenleben aus, so ist dies in die MdE-Schätzung einzubeziehen.
5. Anders verhält es sich freilich mit ungünstigen Persönlichkeitsmerkmalen, wie sie in der ganzen Bandbreite menschlicher Besonderheiten vorkommen können, die eine Person als schwierig, lästig, kontaktschwach, unintelligent oder sonstwie lebensuntüchtig erscheinen lassen. Leitlinien ergeben sich aus der sozial-rechtlichen Rechtsprechung zur Bewertung von Neurosen und Trunksucht (vgl BSG 1959-07-28 11/8 RV 425/57 = BSGE 10, 209, 213, BSG 1964-06-25 4 RJ 425/63 = BSGE 21, 163, BSG 1964-07-01 11/1 RA 158/61 = BSGE 21, 189, BSG 1968-06-18 3 RK 63/66 = BSGE 28, 114, BSG 1970-08-28 3 RK 74/67 = BSGE 31, 279, BSG 1975-02-13 3 RK 68/73 = BSGE 39, 167).
Normenkette
SchwbG § 1 Fassung: 1974-04-29, § 3 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1974-04-29, Abs. 3 S. 2 Fassung: 1974-04-29; BVG § 30 Abs. 1 Sätze 1-2; SchwbG § 3 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1974-04-29
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 1977 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin beantragte 1974 die Anerkennung als Schwerbehinderte. Entsprechend einem nervenärztlichen Gutachten, in dem ein hals-nasen-ohren-fachärztliches Gutachten verwertet wurde, anerkannte das Versorgungsamt als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) Schädelhirnverletzung, Übergewicht, Bluthochdruck, Krampfadern am rechten Unterschenkel sowie Verlust des Riechvermögens und setzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf insgesamt 50 vH fest (Bescheid vom 11. August 1975). Auf den Widerspruch der Klägerin stellte das Versorgungsamt, einer versorgungsärztlichen Stellungnahme folgend, zusätzlich Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule ohne höheren MdE-Grad fest (Teilabhilfebescheid vom 31. Oktober 1975). Der Widerspruch blieb im übrigen erfolglos (Bescheid vom 8. Januar 1976). Nach einer innerfachärztlichen Begutachtung für das Sozialgericht (SG) wurde in einem neurologischen Gutachten von Dr. ... die Gesamt-MdE mit 50 vH bewertet. Dr. ... veranschlagte die MdE durch den hirnorganischen Befund (einschließlich Schmerzen, seelischen Begleiterscheinungen und Riechstörung) infolge eines Schädeltraumas auf 40 vH; eine "abnorme Ausgestaltung der Schädigungssymptomatik" mit "Ausbildung einer abnormen Erlebniereaktion" beruhe auf der "besonderen Persönlichkeitsstruktur" der Klägerin, sei also verletzungsunabhängig und daher nicht als Hirnschädigungsfolge anzuerkennen. Das SG verurteilte den Beklagten, die Gesamt-MdE auf 60 vH festzusetzen (Urteil vom 26. April 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Oktober 1977): Die gemeinsame MdE für alle Behinderungen, die infolge des Teilanerkenntnisses (§ 101 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) nicht mehr streitig seien, müsse nach der Gesamtheit ihrer Auswirkungen gemäß § 3 Abs 1 und 3 SchwbG und der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgesetzt werden; nach Sinn und Zweck des § 3 Abs 3 SchwbG sei der Leidenzustand insgesamt zu würdigen. Demnach sei die Gesamt-MdE der Klägerin aufgrund der übereinstimmenden Schätzungen der gehörten Ärzte mit 50 vH zu bewerten. Die MdE-Grade, die durch die einzelnen Behinderungen bedingt werden, dürften nicht einfach zusammengerechnet werden. Die vom SG und auch sonst häufig in der Kriegsopferversorgung (KOV) und in der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) angewendete Subtraktionsmethode gelte nicht generell gewohnheitsrechtlich und sei nicht auf das Schwerbehindertenrecht zu übertragen. Sie führe auch je nach der Art der verschiedenen zusammentreffenden Behinderungen zu unterschiedlich günstigen Ergebnissen im Vergleich mit einer Gesamtbeurteilung. Aber selbst die Anwendung der Subtraktionsmethode rechtfertige keine MdE von 60 vH. Der Gesamtbetrag von 56,26 vH, den das SG aus den Einzelbeträgen von 40, 10, 10 und 10 vH errechnet habe, dürfe nicht entsprechend § 31 Abs 2 BVG auf 60 vH aufgerundet werden; denn der Gesetzgeber habe dies Vorschrift nicht für entsprechend anwendbar erklärt.
Die Klägerin rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des 3 Abs 1 SchwbG sowie den § 50 Abs 1 und des § 31 Abs 2 BVG. Gegen die Ablehnung der reinen Additionsmethode sei nichts einzuwenden. Die bloß annähernd zu schätzende Beurteilung der MdE sollte aber auf eine mathematische Formel gestützt werden, die einer Vielzahl gleicher Fälle gerecht werde. Dadurch müsse und könne vermieden werden, daß unter Verletzung des Gleichheitssatzes verschiedene medizinische Sachverständige, Verwaltungsbeamte und Richter in gleichen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten. Allerdings dürften nicht in den einzelnen Bundesländern verschiedene mathematische Formeln verwendet werden, wie dies in der Praxis geschehe. Welche Berechnungsart einheitlich gültig sei, sollte das Revisionsgericht festlegen. Als ein solches Hilfsmittel eigne sich gerade die vom SG angewendete Subtraktionsmethode. Mit ihrer Hilfe könnten Mittelwerte errechnet werden. Abweichungen, die durch Besonderheiten bestimmter Funktionsausfälle bedingt seien, ließen sich dabei berücksichtigen; dies müsse aber im einzelnen begründet werden. Entgegen der Ansicht des LSG sei § 31 Abs 2 BVG im Wege der richterlichen Lückenfüllung bei der Bewertung der Gesamt-MdE anzuwenden; denn die steuerlichen Pauschbeträge, die nach § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) den Körperbehinderten zuzubilligen seien, richteten sich, anders als im Recht der KOV, nicht nach Vomhundertsätzen, die durch 10 teilbar seien, sondern nach den dazwischenliegenden Werten um 5 vH.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Ablehnung einer mathematischen Methode ebenso wie einer Aufrundung des MdE-Grades entsprechend § 31 Abs 2 BVG für zutreffend. Die Festlegung von Zwischenwerten gemäß § 33b BStG im im Steuerrecht spreche gerade gegen einer solche Aufrundung im Wege der Analogie.
II
Die Revision hat insoweit Erfolg, als das ungefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist, weil die Bewertung der Einzel-MdE auf dem neurologischen Gebiet mit 40vH nicht frei von rechtlichen Bedenken ist.
Nach § 3 Abs 1 und 3 SchwbG (idF des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtengesetzes vom 24. April 1974 - BGBl I 981 und der Bekanntmachung der Neufassung als "Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft" - SchwbG - vom 29. April 1974 - BGBl I 1005 - Berlinklausel in Art III § 10 - und des 8. Anpassungsgesetzes - KOV vom 14. Juni 1976 - BGBl I 1481 -) sind die Auswirkungen der verbindlich festgestellten Behinderungen auf die Erwerbsfähigkeit "in ihrer Gesamtheit" entsprechend § 30 Abs 1 BVG (idG seit dem 3. AnpG-KOV vom 16. Dezember 1971 - BGBl I 1985 -) zu bemessen. Das Berufungsgericht hat die Bewertung der Gesamt-MdE mit 50 vH uneingeschränkt auf die zusammenfassende Beurteilung durch den Neurologen Dr. N... gestützt. Der wesentliche, diesem Gutachten bezüglich neurologischer Störungen zugrundeliegende Rechtsmaßstab, den das Gericht damit übernommen hat, wird den liier maßgebenden Vorschriften nicht gerecht. Damit hat das LSG § 3 Abs 1 und 3 SchbG unrichtig angewandt (§ 162 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Dieser Rechtsfehler ist auch ohne darauf gerichtete Rüge bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu beachten (§ 202 SGG iVm § 559 Abs 2 Satz 1 Zivilprozeßordnung -ZPO-; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 1977, § 162 Rz 8).
Der neurologische Sachverständige ist bei der Beurteilung auf seinem Fachgebiet erkennbar von einer rein kausalen Betrachtung ausgegangen und hat die MdE-Bewertung allein auf die hirnorganischen Folgen einer Schädelverletzung beschränkt.
Das ist im Recht der Kriegsopferversorgung (KOV), einen gesetzlichen Schädigungstatbestand vorausgesetzt, gebräuchlich, wenngleich auch dort seelische Reaktionen auf ein Trauma nicht ohne weiteres unberücksichtigt bleiben dürfen (vgl schon BSGE 8, 209, 213). Dagegen ist die MdE im Bereich des SchwbG "entsprechend § 30 Abs 1 BVG" nach dem Ausmaß aller körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen unabhängig von ihren Ursachen zu bemessen; die Schwerbehinderteneigenschaft hat - bei einem Grad von wenigstens 50 vH - eine finale Funktion, sie soll die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft fördern sowie erleichtern (Überschrift des Gesetzes, §§ 1, 3 Abs 5 Satz 2, §§ 4 ff, 11 ff, 41 ff SchwbG; zu §§ 39 BSHG: BVerfGE 45, 376, 391 = SozR 2200 § 539 Nr. 35). Dies wird in Dr. … Beurteilung, der sich das LSG kritiklos angeschlossen hat, verkannt. Der Sachverständige hat eine abnorme Ausgestaltung der Schädigungssymptomatik und eine abnorme Erlebnisreaktion im wesentlichen nicht auf das Schädeltrauma, sondern auf die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin zurückgeführt und bei der Bewertung der MdE außer Betracht gelassen. Im Schwerbehindertenrecht kommt es aber gar nicht darauf an, ob solche Störungen, "Hirnschädigungsfolgen" sind, sondern allein darauf, ob sie Krankheitswert haben; ist das der Fall, dann sind sie als Behinderungen im Sinne des SchwbG zu berücksichtigen. Sollte also die Klägerin unfähig sein, aus eigener Kraft solche Abweichungen vom Regelzustand zu überwinden, und wirken sich außerdem diese Störungen ausgeprägt leistungsmindernd im Erwerbsleben und sonst im Zusammenleben aus (§ 3 Eingliederungshilfe - Verordnung idF vom 1. Februar 1973 - BGBl I 434 -); Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil, § 10, Rz 3; BSG vom 31.1.1979 - 11 RA 19/78 mN), so wäre dies in die MdE-Schätzung nach § 3 Abs 1 SchwbG einzubeziehen. Anders verhält es sich freilich mit ungünstigen Persönlichkeitsmerkmalen, wie sie in der ganzen Bandbreite menschlicher Besonderheiten vorkommen können, die eine Person als schwierig, lästig, kontaktschwach, unintelligent oder sonstwie lebensuntüchtig erscheinen lassen (vgl ähnlich die Abgrenzung von "sozialen Schwierigkeiten": § 1 Verordnung zur Durchführung des § 72 Bundessozialhilfegesetz vom 9. Juni 1976 - BGBl I 1469), Leitlinien für die Beurteilung ergeben sich aus aus der sozialrechtlichen Rechtsprechung zur Bewertung von Neurosen und Trunksucht (BSGE 10, 209, 213; 21, 163 und 189; 28, 114; 31, 279; 39, 167, 168, 170 f).
Das LSG hat den gesamten Umfang derartiger Behinderungen im neuen Verfahren, tunlichst durch ein psychiatrischpsychologisches Gutachten (vgl Schimanski, Zeitschrift für Sozialreform 1978, 601), aufzuklären. Bei der sodann erforderlichen Festsetzung der Gesamt-MdE hat das Berufungsgericht - ebenso wie schon im angefochtenen Urteil - eine "Gesamtwürdigung" vorzunehmen, wie dies bereits für das Schwerbeschädigtenrecht, den sachlich beschränkten Vorläufer des SchwbG, das Bundesverwaltungsgericht für geboten erachtet hat, falls mehrere Beschädigungen zusammentreffen (BVerwGE 44, 284, 285). Eine solche funktionale Betrachtungsweise ist nunmehr durch die ausdrückliche Regelung des § 3 Abs 3 SchwbG zwingend vorgeschrieben (vgl auch dazu "Anhaltspunkte für die einheitliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1977, 11, 36).
Wenn die "Gesamtheit" der Auswirkungen aller einzelnen Behinderungen einheitlich zu bewerten ist (Satz 1), muß bei dieser "Gesamtbeurteilung" (Satz 2) bemessen werden, wie im Einzelfall die durch alle Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkend, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 30 Abs 1 BVG beeinträchtigen (Gröninger, Schwerbehindertengesetz, 1978, § 3, Anm 6; Jung/Cramer, Schwerbehindertengesetz, 1974, § 3, Rz 9; Neubert/Becke, Schwerbehindertengesetz, 1974, § 3, Anm 1; Wilrodt/Gotzen/Neumann, Schwerbehindertengesetz, 4. Aufl 1976, § 3, Rz 28 und 29).
Im übrigen sind, abgesehen von den eingangs dargelegten Unterschieden alle Behinderungen nach den in § 30 Abs 1 BVG festgelegten, der Vereinheitlichung dienenden Beurteilungsmaßstäben zu bewerten, auf die in § 3 Abs 1 Satz 2 und Abs 3 Satz 2 SchwbG verwiesen wird. Sowohl die nach § 30 Abs 1 Satz 1 und 2 BVG für das Kriegsopferrecht geltenden Richtlinien als - ergänzend - die aufgrund des letzten Satzes für erhebliche Körperschäden festgesetzten Mindest-Vomhundertsätze (vgl BSGE 29, 41, 42 = SozR Nr 35 zu § 30 BVG) sind grundsätzlich auch im Schwerbehindertenrecht maßgebend, obwohl das BVG und das SchwbG unterschiedlichen Zwecken dienen und obwohl die MdE in den beiden Rechtsgebieten verschiedene Funktionen hat (BT - Druck 7/656, Begründung, B, zu Art I Nr 2, S 23 f; Rauschelbach, VdK-Mitteilungen 1976, 512; Medizinischer Sachverständiger 1978, 25; Henke, Versorgungsbeamter 1977, 53; kritisch: Bauer, KOV 1975, 177; Schunck, Versorgungsbeamter 1977, 29).
Insbesondere ist auch im Bereich das SchwbG von dem nach § 30 Aus 1 Satz 1 und 2 BVG geltenden Beurteilungsmaßstab der "Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben" auszugehen. Die "Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft" bezieht sich in erster Linie auf das Erwerbsleben and "damit" auf die Einordnung in die Gesellschaft (BT-Drucks aaO, Begr. zu Art I Nr 1). Wenn darüber hinaus auch auf Verrichtungen des täglichen Lebens, die für jedermann anfallen, Rücksicht genommen wird, so wird doch ebenfalls die MdE gemäß § 30 Abs 1 BVG nicht allein nach Behinderungen bei Erwerbstätigkeiten bemessen (Satz 1 Halbs 2; BSG SozR 3100 § 30 Nr 13). Schließlich stellen es die Vergünstigungen nach anderen Vorschriften als denen des SchbG, die Schwerbehinderten gewährt werden (§ 3 Abs 4, Abs 5 Satz 2, § 45), überwiegend auf Behinderungen im Berufsleben ab; im einzelnen handelt es sich um Vorteile im Einkommen- und Lohnsteuerrecht, im Wohn- und Kindergeldrecht, in der Kraftfahrversicherung, im Straßenverkehrsrecht, im Fernsprech- und Rundfunkrecht sowie bei der Beförderung im öffentlichen Personenverkehr (vgl Anhaltspunkte für die Begutachtung Behinderter, S 5 ff; Krüger, KOV-Mitteilungen Berlin, 1977, 53, 57; BT-Drucks 8/2453). Soweit dabei auch Behinderungen außerhalb des Erwerbslebens berücksichtigt werden, schließt dies eine Bemessung der vorausgesetzten MdE nach § 30 Abs 1 BVG deshalb nicht aus, weil ebenso die Schwerbeschädigten, deren MdE, zugleich mit Wirkung nach dem SchwbG (§ 3 Abs 2 und 3 S 2), unmittelbar nach jener Vorschrift oder nach ähnlichen Bestimmungen festgesetzt worden ist (§ 81 Soldatenversorgungsgesetz, § 4 Häftlingshilfegesetz, § 47 Zivildienstgesetz, § 51 Bundesseuchengesetz, § 1 Opferentschädigungsgesetz, § 28 Bundesentschädigungsgesetz, § 581 Reichsversicherungsordnung, Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden), jene Vergünstigungen erhalten.
Das Anliegen der Revision, die um einer einheitlichen Verwaltungs- und Gerichtspraxis willen die die Anwendung eines mathematischen Bewertungsmaßstabes für geboten hält, erscheint dem Senat durchaus verständlich; jedoch zeigt sich bei näherer Prüfung, daß mathematische Formeln untaugliche Instrumente darstellen. Insbesondere ist die sogenannte Subtraktionsmethode, deren sich das SG mit dem Ergebnis bedient hat, daß die Gesamt-MdE rechnerisch mit 56,26 vH zu bewerten wäre, kein rechtlich zulässiges oder gar gebotenes Beurteilungsmittel. Gleiches gilt darüber hinaus für alle anderen mathematischen Formeln.
Eine solche Berechnungsmethode muß nicht etwa deshalb aus Rechtsgründen im Schwerbehindertenrecht angewendet werden, weil sie im Recht der KOV vorherrschend wäre und weil die MdE für das Schwerbehindertenrecht nach § 3 Abs 1 Satz 2 und Abs 3 Setz 2 SchwbG "entsprechend" § 30 Abs 1 BVG festzusetzen ist. Nach Nr 3 der Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG ist beim Zusammentreffen verschiedener Schäden "eine die Gesamtauswirkung der Gesundheitsstörungen zusammenfassende Minderung der Erwerbsfähigkeit (Gesamt-MdE) festzusetzen" (vgl auch v. Keitz, Das Gutachten im Versorgungswesen, 1967, S 128 f). Das entspricht gerade der Vorschrift des § 3 Abs 3 SchwbG. Auch in den "Anhaltspunkten für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen", Ausgabe 1973, die für den Bereich der KOV gelten, ist keine mathematische Methode für die Ermittlung einer Gesamt-MdE einheitlich vorgesehen. Zwar enthalten diese Anhaltspunkte (Nr. 14 Abs 6, S 23) lediglich das Verbot, die einzelnen MdE-Werte zu addieren, und noch nicht die ausdrückliche Erklärung, auch andere Rechenmethoden seien für die Bildung einer Gesamt-MdE ungeeignet (so erst Nr 3 Abs 8, S. 11 der Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter von 1977). Da aber dieser Zusatz offenbar nur der Klarstellung gedient hat, kann aus dem Textunterschied sicherlich nicht hergeleitet werden, bei der Bemessung der Gesamt-MdE für eine Beschädigtenrente sei die Anwendung mathematischer Formeln rechtens. Wenn auch manche Versorgungsämter hiervon abweichend praktizieren mögen, so besteht doch weder eine ständige Übung dieser Art in Verwaltung und Rechtsprechung (vgl zur Einzel-MdE: BSGE 40, 120, 123 = SozR 3100 § 30 Nr 8) noch ein entsprechender Rechtssatz des Richterrechts, den das Revisionsgericht entwickelt hätte und laufend beachtete, noch gar ein entsprechendes Gewohnheitsrecht. Entgegen der Ansicht von Gesetz (KOV 1973, 97, 98) hat der erkennende Senat in der tragenden Begründung seines im SozR Nr 12 zu 31 BVG veröffentlichten Urteils, das die Bestimmung eines außergewöhnlichen gesundheitlichen Betroffenseins als Voraussetzung einer Schwerstbeschädigtenzulage nach § 31 Abs 5 BVG betraf, nicht entschieden. die durch mehrere Schädigungsfolgen bedingte MdE sei nach der Lohmüllerschen Formel zu errechnen; er ist bloß von dem Ergebnis einer solchen Bemessung gemäß § 30 Abs 1 BVG ausgegangen (ebenso im Fall einer rechtskräftigen Gesamt-MdE in SozR 3100 § 30 Nr 9). Die Revision weist selbst darauf hin, daß die Gesamt-MdE in der Praxis gerade nicht nach einem einheitlichen rechnerischen Beurteilungsmaßstab festgelegt wurde.
Auch in anderen Rechtsgebieten, in denen im Einzelfall uU mit verbindlicher Wirkung für das Schwerbehindertenrecht eine MdE festgestellt wird, wird die Gesamt-MdE nicht nach einer mathematischen Formel, die für alle Kombinationsmöglichkeiten gültig wäre, beurteilt. Für das Wiedergutmachungsrecht nach dem Bundesentschädigungsgesetz hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung eine derartige rechnerische Bewertungsweise abgelehnt und allein eine "Gesamtschau" der "Gesamteinwirkung" aller einzelnen Schäden auf die Erwerbsfähigkeit vorgeschrieben (RzW 1969, 261; ebenso RzW 1966, 267; 1968, 359; 1973, 171; zustimmend Grünbaum, RzW 1973, 371, 372). Gleiches gilt im Ergebnis in der UV. Das Bundessozialgericht hat insbesondere bei der Berücksichtigung eines Vorschadens, also in einem anderen rechtlichen Zusammenhang, eine streng mathematische Berechnung der MdE abgelehnt und nur für bedingt brauchbar erklärt (BSGE 9, 104, 107 ff, 110; 21, 63, 65 ff, Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II, S. 568b - 568e).
Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ist; eine einheitliche mathematische Formel zum Errechnen der Gesamt-MdE, die für alle Möglichkeiten des Zusammentreffens mehrerer Behinderungen geeignet wäre, nicht vorstellbar. Eine solche Rechenmethode vermochte überhaupt keineswegs ein günstigeres Gesamtergebnis zu rechtfertigen, als bei natürlicher medizinischer und arbeitswissenschaftlicher Beurteilung möglich ist. Schon der Streit um die Brauchbarkeit und Richtigkeit der einen oder der anderen Formel, zB der Subtraktions- oder der Prozentual- oder der Bruchteilsmethode (Gramann, Medizinischer Sachverständiger 1965, 256, 258; Müller, Versorgungsbeamter, 1973, 42; Goetz, KOV 1966, 101; 1973, 97; Weber, KOV-Mitteilungen Berlin 1976, 3; Fundstellen zur Bemessung bei einem Vorschaden bei Lauterbach, Unfallversicherung, § 581, Anm 5, g), läßt erkennen, daß sich mit keiner mathematischen Berechnungsweise die Gesamt-MdE zureichend und gar zutreffender als durch eine übliche Beurteilung bestimmen läßt ("Anhaltspunkte", 1977, S. 11 zu Nr 3, Abs. 8; ebenso im Ergebnis für die Strafzumessung; Bruns, NJW 1979, 289). Unzulänglichkeiten der einen oder der anderen Formel leiten die grundsätzlichen Befürworter wie die Gegner einer solchen Bewertungsmethode stets für einzelne Fallgruppen gleicher Sachlage von einem anderen Beurteilungsmaßstab her. Das ist jeweils eine natürliche, wirklichkeitsorientierte, funktionale Betrachtungsweise, die auf medizinischen Erkenntnissen beruht. Dies ist der einzige rechtmäßige Beurteilungsmaßstab. Das Ergebnis kann allerdings, wie bereits für die Einzel-MdE aufgezeigt worden ist (BSGE 40, 123 f; BSG SozR 3100 § 62 Nr 14), als eine endgültige Setzung in gewissem Umfang von wirklichen Verhältnissen abweichen. Dabei handelt es sich um eine Wertung, die nicht zureichend durch eine Berechnung ersetzt werden kann. Wer daneben oder an deren Stelle eine mehr oder weniger unzureichende Formelhaftigkeit als selbständigen Gradmesser für anwendbar hält, verkennt die Leistungsfähigkeit mathematischer Berechnungsmethoden schlechthin. Solche Formeln tragen keinen anderen Richtigkeitsmaßstab als mathematischen Gesetzmäßigkeiten in sich. Sie könne nicht aus sich heraus - ohne Vorgaben aus anderen Erkenntnisquellen - irgendeine Einsicht in tatsächliche Vorgänge und Zustände der Leistungsbezogenen Beurteilungsmaßstab bilden. Nur wenn und soweit klare Vorstellungen über das Zusammenwirken verschiedenen Behinderungen und über ihre gemeinsame Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit und Integrität des Körpers nach medizinischen and arbeitsphysiologischen Erkenntnissen gebildet worden sind und darüber hinaus Einigkeit über die Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte der Beurteilung der MdE bestehen, könnten die derart festgelegten funktionellen Beziehungen zwischen verschiedenen Größen in eine Formel übersetzt werden, um jeweils das Ergebnis zu errechnen. Das bestätigt die fachliche Äußerung des Biomathematikers Prof. Dr. H.. Allgemeingültige Erkenntnisse der bezeichneten Art hat aber die Medizin in Zusammenarbeit mit den Arbeitswissenschaften noch nicht in der Weise entwickelt, daß sie durch eine entsprechende mathematische Formel, die allen Fällen gerecht würde, ausgedrückt werden könnten.
Im Interesse der Gleichbehandlung mag der Revision eine schablonenhafte Bewertungsweise vorschweben, die nach dem Vorbild der Punkt-bewertung für die Schwerstbeschädigtenzulagen (Durchführungsverordnung zu § 31 Abs. 5 BVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. April 1970 - BGBl I 410 -) verhältnismäßig abstrakt den MdE-Grad festlegen ließe, oder auch ein Katalog von Gesamt-MdE-Graden für eine Vielzahl häufig vorkommender Kombinationen. Diese Voraussetzungen sind aber bisher nicht gegeben, und für den Fall der Klägerin zeigt die Revision auch nicht die Möglichkeit einer solchen abstrakteren Beurteilung auf, die zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis führen könnte. Gegenwärtig kann eine Vereinheitlichung nicht anders als durch Vergleiche mit anderen Fällen, ausgelichtet an den Mindest-Vomhundertsätzen (VV Nr 4 zu § 30 BVG) und im allgemeinen von der schwersten Behinderung ausgehend, angestrebt werden. Der Einzelfallgerechtigkeit dient zudem eine möglichst genaue, die Kontrollierbarkeit erleichternde, nachvollziehbare und die Entscheidung verständlich machende Beschreibung der Funktionsausfälle, insbesondere des Zusammenwirkens der verschiedenen Behinderungen. Da das LSG bei einer neuen Gesamt-Bewertung der MdE für alle Behinderungen voraussichtlich einen glatten Zehnerbetrag des Vomhundertsatzes festsetzen wird, hat der Senat noch nicht darüber zu entscheiden, ob ein Zwischenwert um fünf oder mehr Prozent (zB 55 bis 59 %) entsprechend § 31 Abs. 2 BVG auf den nächsthöheren Zehnerwert aufzurunden ist.
Das Berufungsgericht hat in der abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen
BSGE, 82 |
Breith. 1980, 137 |