Leitsatz (amtlich)
Ist eine in einem anderen EWG-Mitgliedstaat zurückgelegte "Mini-Versicherungszeit" gemäß Art 48 Abs 2 EWGV 1408/71 leistungsrechtlich nur vom deutschen Rentenversicherungsträger zu berücksichtigen, so hat sie für die Anrechnung einer deutschen Ausfallzeit (§ 36 AVG = § 1259 RVO) außerdem die Funktion eines "Überbrückungstatbestands", der den "Anschluß" an eine deutsche versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "wahrt".
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1982-12-20; EWGV 1408/71 Art. 48 Abs. 2; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1982-12-20
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die rentensteigernde Anrechnung einer Zeit der Arbeitslosigkeit.
Die 1923 geborene Klägerin war während ihres Versicherungslebens im Anschluß an eine aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland bis Mai 1949 zurückgelegte Beitragszeit bis 24. August 1950 krank, schwanger und zuletzt arbeitslos. Vom 6. September 1950 bis 25. Februar 1951 arbeitete die Klägerin in England als Hausgehilfin und Schwesternhelferin, wobei sie - 6 Monate - im dortigen System der sozialen Sicherheit versichert war. Am 26. Februar 1951 meldete sich die Klägerin bei einem Arbeitsamt in Berlin arbeitslos; sie erhielt von ihm vom 26. Februar bis 6. April 1954 Arbeitslosenunterstützung. Ab 7. April 1954 war sie wieder versicherungspflichtig beschäftigt.
Im September 1982 beantragte die Klägerin vorzeitiges Altersruhegeld. Auf Anfrage der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) teilte die zuständige englische Sozialbehörde unter Bezug auf Art 48 der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherung auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWG-VO Nr 1408/71), mit, daß die Klägerin im Vereinigten Königreich keine Sozialleistungen zu beanspruchen habe, weil sie dort weniger als 52 Wochen versichert gewesen sei.
Mit dem streitigen Bescheid vom 25. März 1983 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. März 1983 vorzeitiges Altersruhegeld, wobei der Versicherungsfall als am 28. Februar 1983 eingetreten angenommen ist. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie gemäß Art 48 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 als zuständiger Träger eines anderen EWG-Mitgliedsstaats die von der Klägerin in England zurückgelegte Versicherungszeit mit 6 Monaten bei den Versicherungsjahren zusätzlich zu den 472 deutschen Monaten, wodurch sich die Rente von monatlich 1.339,-- DM auf monatlich 1.356,-- DM erhöhte. Dagegen berücksichtigte die Beklagte nicht die Arbeitslosigkeit im Anschluß an die in England verrichtete Tätigkeit ab 26. Februar 1951.
Die hiergegen erhobene Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat im angefochtenen Urteil vom 28. Oktober 1986 die abweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, diese Zeitspanne der Rentenberechnung als Ausfallzeit zugrunde zu legen. Zur Begründung führt das Urteil aus, die streitige Arbeitslosigkeit ab 26. Februar 1951 habe keine deutsche versicherungspflichtige Beschäftigung iS von § 36 Abs 1 Nr 3 AVG unterbrochen. Jedoch sei der "Anschluß" an die letzte, bis zum 24. August 1950 reichende deutsche Arbeitslosigkeit durch einen "unschädlichen Überbrückungstatbestand" gewahrt. Die Klägerin habe zur Beendigung dieser Arbeitslosigkeit in England einen "mißglückten Arbeitsversuch" unternommen. Es wäre unbillig, wenn einem Versicherten aus dem Versuch, die Arbeitslosigkeit zu beenden, rentenrechtliche Nachteile erwachsen würden.
Das LSG hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen, und die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Schließe sich eine Arbeitslosigkeit an eine im Ausland versicherungspflichtige Beschäftigung an, so sei diese, nicht aber die vom Gesetz vorausgesetzte deutsche versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen worden. Dies folge auch aus der Erwägung, daß bei der Unterbrechung einer ausländischen Beschäftigungszeit durch eine inländische Arbeitslosigkeit nicht davon ausgegangen werden könne, daß die Arbeitslosigkeit den Versicherten an der Entrichtung deutscher Versicherungsbeiträge gehindert habe. Der Umstand aber, daß der Versicherte ohne den Ausfallzeittatbestand die im Ausland verrichtete versicherungspflichtige Beschäftigung fortgesetzt hätte, vermöge die Berücksichtigung der im Inland eingetretenen Arbeitslosigkeit nicht zu rechtfertigen. Solle ein mißglücktes Selbsthilfeunternehmen als Überbrückungstatbestand den unmittelbaren Anschluß der späteren Arbeitslosigkeit zu der vor dem Selbsthilfeversuch liegenden versicherungspflichtigen Beschäftigung wieder herstellen, so müsse sich dieser Versuch auch als Teil der nachfolgenden Arbeitslosigkeit darstellen. Insofern komme es auf den inneren Zusammenhang mit der sich anschließenden Arbeitslosigkeit an, die wiederum als Ausfallzeit im Hinblick nur auf die Unmöglichkeit, deutsche Beitragszeiten zu erwerben, rentenrechtliche Berücksichtigung finde. Dieser innere Zusammenhang sei nicht mehr gewahrt, wenn das Selbsthilfeunternehmen in einer nach ausländischen Rechtsvorschriften versicherungspflichtigen Beschäftigung bestehe; denn durch die Aufnahme einer Beschäftigung im Ausland werde der erforderliche Zusammenhang zur vorangegangenen versicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des AVG abgebrochen, so daß die dem mißglückten Selbsthilfeversuch nachfolgende Arbeitslosigkeit nicht mehr auf der versicherungspflichtigen Beschäftigung vor dem Selbsthilfeversuch beruhe. Schließlich sei der Selbsthilfeversuch im Ausland, nicht im Inland fehlgeschlagen. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung lasse erkennen, daß sie die im Zusammenhang mit der Anerkennung einer Ausfallzeit iS von § 36 Abs 1 Nr 3 AVG bedeutsamen Tatsachen auf Inlandssachverhalte beschränkt sehen will. Das EWG-Recht überlasse es dem innerstaatlichen Sozialrecht, unter welchen Voraussetzungen Ausfallzeit- oder Ersatzzeittatbestände rentenrechtlich berücksichtigt werden können.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juli 1985 zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AVG in der zur Zeit des Versicherungsfalls geltenden Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S 1857) sind - auf die Versicherungsjahre anrechenbare - Ausfallzeiten iS des § 35 AVG ua Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine mindestens einen Kalendermonat andauernde Arbeitslosigkeit unterbrochen worden ist, wenn der bei einem deutschen Arbeitsamt als Arbeitsuchender gemeldete Arbeitslose ua versicherungsmäßiges Arbeitslosengeld (Arbeitslosenunterstützung) bezogen hat (Buchst a aaO). Zu Recht hat das LSG angenommen, daß die mehr als einen Monat andauernde Arbeitslosigkeit der Klägerin ab 26. Januar 1951, während der sie bei einem Berliner Arbeitsamt gemeldet war und Arbeitslosenunterstützung bezogen hat, "eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen" hatte.
Bei Zeiten, für die nach dem Recht der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung - hier in bezug auf eine Beschäftigung oder Tätigkeit, die von Arbeitslosigkeit unterbrochen wird - Versicherungspflicht vorausgesetzt wird, kann es sich grundsätzlich nur um eine vom Recht der Bundesrepublik Deutschland angeordnete - regelmäßig mit Beitragspflicht verbundene - Versicherungspflicht handeln (allg Meinung, vgl zB BSG SozR Nr 48 zu § 1259 RVO; SozR 5770 Art 2 § 9a Nr 14 S 49). Anderes kann nur gelten, wenn sich dies aus den Vorschriften des überstaatlichen Rechts - zwischenstaatliches Recht kommt nach den vom LSG festgestellten Fallumständen offensichtlich nicht in Betracht - ergibt. Die EWG-VO Nr 1408/71 und die sie ergänzenden überstaatlichen Normen enthalten jedoch keine Bestimmung, die für die Anrechnung einer deutschen Ausfallzeit eine ausländische versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit einer solchen deutschen Zeit gleichstellte. Die Klägerin kann daher die Arbeitslosigkeit ab 26. Februar 1951 nur dann als Ausfallzeit rentensteigernd angerechnet erhalten, wenn sie die von ihr zuletzt in Deutschland bis Mai 1949 zurückgelegte versicherungspflichtige Beschäftigung "unterbrochen" hat. Das ist der Fall.
Dem LSG ist freilich darin zuzustimmen, daß eine Arbeitslosigkeit nicht immer lückenlos an das Ende einer deutschen versicherungspflichtigen Beschäftigung anschließen muß. Der zeitliche Zusammenhang ist vielmehr ua auch dann noch gewahrt, wenn zwischen dem Ende der deutschen versicherungspflichtigen Beschäftigung - hier im Mai 1949 - und dem Beginn der Arbeitslosigkeit - hier am 26. Februar 1951 - ein oder mehrere aufeinanderfolgende Zeitabschnitte liegen, die ihrerseits - wie vorliegend Krankheit, Schwangerschaft und Arbeitslosigkeit der Klägerin (§ 36 Abs 1 Nr 1, 2 und 3 AVG) vom Mai 1949 bis 24. August 1950 - Ausfallzeit-Tatbestände sind (BSGE 29, 120, 122 f = SozR Nr 22 zu § 1259 RVO; BSGE 34, 93, 94 = SozR Nr 44 zu § 1259 RVO; BSG SozR Nr 50 zu § 1259 RVO; BSG SozR 2200 § 1259 Nr 54; vgl ferner den Großen Senat des BSG in BSGE 37, 10, 17 = SozR Nr 62 zu § 1259 RVO). Richtig ist ferner, daß eine gesicherte, ständig aufrechterhaltene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestimmte andere Zeiten, die zwar nicht selbst Ausfallzeit-Tatbestände sind, die aber zwischen dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und dem Beginn der Ausfallzeit eine ersichtlich überbrückende Funktion einnehmen, mit der Rechtsqualität von "Überbrückungstatbeständen" ausgestattet hat. Markante Beispiele sind hierfür der sog gescheiterte Selbsthilfeversuch durch Aufnahme einer - nicht versicherungspflichtigen - selbständigen Tätigkeit oder der gewerkschaftlich geführte Streik (vgl zu alledem die Rechtsprechungsübersicht in BSG SozR 2200 § 1259 Nr 94 S 252 und 253). Im einzelnen hat der von der Rechtsprechung anerkannte "Überbrückungstatbestand" rentenrechtlich die Wirkung, eine dem Rentenanspruch schädliche Unterbrechung der ihm vorausliegenden versicherungspflichtigen Beschäftigung (und anschließender anderer Ausfalltatbestände) hintanzuhalten und so "den Anschluß" an den nachfolgenden Ausfallzeit-Tatbestand "zu wahren".
Der Beklagten ist jedoch einzuräumen, daß ein fraglicher Überbrückungstatbestand grundsätzlich nur dann anschlußwahrend wirkt, wenn auch er im Inland verwirklicht ist. Andernfalls würde der - als solcher nicht leistungssteigernde - Überbrückungstatbestand bei Anwendung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Buchst a AVG stärker bewertet als die durch den Ausfalltatbestand unterbrochene versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, die, wie ausgeführt, nach deutschem Recht verbracht sein muß. Indessen gebieten die sozialrechtlichen Koordinationsnormen des EWG-Rechts für Fälle der vorliegenden Art eine andere Betrachtung: Art 48 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 erklärt die hier zu prüfende, vom 6. September 1950 bis 25. Februar 1951 in England zurückgelegte und im dortigen Rentensystem versicherte Zeit wegen ihres geringen zeitlichen Umfangs ("weniger als ein Jahr") für nach dem Recht des Vereinigten Königreichs leistungsrechtlich irrelevant. Gleichwohl geht diese Zeit der Klägerin rentenrechtlich nicht verloren. Nach Abs 2 aaO hatte vielmehr die Beklagte aus dieser englischen "Mini-Zeit" als zuständiger Träger eines anderen Mitgliedsstaats Leistungen zu gewähren, indem sie sie gemäß Art 46 Abs 2 Buchst a) aaO bei der Berechnung des deutschen vorzeitigen Altersruhegelds wie eine Zeit zu berücksichtigen hatte, die in der Bundesrepublik nach den für die Beklagte im Zeitpunkt der Feststellung des Altersruhegelds geltenden deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden ist. Damit hat der übernationale Normgeber die hier streitige ausländische Zeit für den deutschen Rentenversicherungsträger mit einer innerstaatlich wirkenden leistungsrechtlichen Relevanz ausgestattet, die ersichtlich weiter reicht, als die allein "anschlußwahrende" Funktion, die nach der BSG-Rechtsprechung einem in der Bundesrepublik zurückgelegten "Überbrückungstatbestand" für die Anrechnung einer Ausfallzeit zugemessen wird. Demgemäß hat die Beklagte der Klägerin das ihr bewilligte Altersruhegeld unter Berücksichtigung der englischen Zeit entsprechend erhöht.
Bei dieser erheblichen, innerstaatlich wirkenden leistungsrechtlichen Qualifikation der in England im dortigen Sicherungssystem zurückgelegten Zeit kann ihr für die Anrechnungsfähigkeit einer deutschen Ausfallzeit keine geringere Relevanz als einem deutschen Überbrückungstatbestand beigemessen werden. Es läßt sich nicht vertreten, daß die Beklagte die ausländische Mini-Zeit nach EWG-Recht zwar voll bei der Höhe des deutschen Altersruhegelds zu berücksichtigen hat, nicht dagegen bei der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 36 Abs 1 Nr 3 Buchst a) AVG. Sie wahrt daher im konkreten Fall den Anschluß zwischen dem Ende der letzten versicherungspflichtigen deutschen Beschäftigung der Klägerin (bzw der hieran anschließenden Ausfallzeit-Tatbestände) und dem Beginn der hier streitigen Arbeitslosigkeit mit Unterstützungsbezug ab 26. Februar 1951. Diese Anschlußwahrung wirkt jedenfalls solange, als die englische Mini-Zeit nicht doch noch - etwa nach Zurücklegung weiterer englischer Zeiten - im Leistungssystem des Vereinigten Königreichs bedeutsam wird und deshalb eine Leistungspflicht des deutschen Trägers aus dieser Zeit nach Art 48 Abs 2 EWG-VO Nr 1408/71 entfällt. Hiernach trifft die angefochtene Entscheidung zu, so daß die Revision der Beklagten hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen