Entscheidungsstichwort (Thema)
Abschluß der Hochschulausbildung zum Orchestermusiker
Leitsatz (amtlich)
Zu der Frage, wann bei einem künftigen Orchestermusiker eine Hochschulausbildung iS des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (Fassung: 16.10.1972) "abgeschlossen" ist, wenn zur Zeit des Studiums an einer Musikhochschule dort eine Abschlußprüfung weder vorgeschrieben noch üblich war.
Orientierungssatz
Eine Hochschulausbildung zum Orchestermusiker ist durch ein erfolgreiches Probespiel vor einem Kulturorchester, dh durch eine Vorstellung des künstlerischen Vermögens vor einem besonders kompetenten Fachpublikum abgeschlossen, sofern zur Zeit des Studiums eine Abschlußprüfung weder vorgeschrieben noch üblich war.
Normenkette
AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.12.1986; Aktenzeichen L 6 An 2734/84) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 23.10.1984; Aktenzeichen S 5 An 2354/83) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung von Ausfallzeiten.
Der 1936 geborene Kläger studierte vom 1. April 1955 bis zum 30. September 1959 an der damaligen N. Musik-Akademie D. im Hauptfach Viola. Die dort nach einem Studium von mindestens sechs Semestern mögliche Konzertprüfung legte er nicht ab. Vom 1. April 1960 bis zum 31. März 1963 war er an der Staatlichen Hochschule für Musik F. für den Studiengang Orchestermusik (Meisterklasse) immatrikuliert, für den keine Studien- und Prüfungsordnung erlassen war. Die Zulassung zur möglichen Orchestermusiker-Abschlußprüfung beantragte er nicht. Die Hochschule hielt diese Prüfung als Nachweis für den erfolgreichen Abschluß des Studiums weder für notwendig noch für üblich, wirkte nicht auf eine Teilnahme an dieser Prüfung hin und erachtete das Studium vor allem dann als erfolgreich durchgeführt, wenn ein Probespiel vor einem deutschen Kulturorchester mit Erfolg absolviert wurde. Auf diesem Wege wurde der Kläger in ein deutsches Kulturorchester übernommen.
Den Antrag des Klägers auf Vormerkung der Studienzeiten als Ausfallzeiten lehnte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ab (Bescheid vom 25. April 1983; Widerspruchsbescheid vom 6. September 1983), weil der Kläger sein Hochschulstudium nicht iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) abgeschlossen habe.
Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Beklagte unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, die Studienzeit bis zur Dauer von fünf Jahren als Ausfallzeit vorzumerken (Urteil des SG vom 23. Oktober 1984). Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben (Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg -LSG- vom 9. Dezember 1986). Das LSG hat ausgeführt, jedenfalls in der Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Kunsthochschule im Lande Baden-Württemberg vom 22. November 1977 (GBl 1977 S 592) sei der erfolgreiche Abschluß eines Hochschulstudiums als Orchestermusiker regelmäßig und üblicherweise durch ein gelungenes Probespiel vor einem deutschen Kulturorchester nachgewiesen worden. Darauf hätten die Studenten sich einstellen dürfen. Da auch die Hochschule die mögliche Abschlußprüfung nicht als regelmäßigen Studienabschluß angesehen habe, habe der Kläger sein Studium mit dem erfolgreichen Probespiel abgeschlossen.
Mit der - vom LSG zugelassen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG. Ob eine Hochschulausbildung iS dieser Vorschrift "abgeschlossen" sei, beurteile sich allein danach, ob ein förmlicher Ausbildungsabschluß vorgesehen und gegebenenfalls erlangt worden sei, nicht aber danach, ob sich die Ausbildung als notwendig oder vorteilhaft für eine spätere Berufsaufnahme oder Berufsausübung erweise. An der Staatlichen Hochschule für Musik in F. seien Abschlußprüfungen für Orchestermusiker vorgesehen gewesen und auch tatsächlich abgelegt worden. Ferner vermittelten die künstlerischen Studiengänge neben theoretischem Wissen im hohen Maße handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten, die ebenso wie bei den geisteswissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen einer Erfolgskontrolle durch Prüfungen zugänglich seien. Dies werde dadurch bestätigt, daß an Kunsthochschulen bzw Musikhochschulen für die unterschiedlichsten Ausbildungsgänge Abschlußprüfungen nicht nur vorgesehen, sondern in der Mehrzahl der Studienfächer sogar vorgeschrieben seien (Hinweis auf § 30 Abs 1 Satz 1 des Künstlerhochschulgesetzes vom 22. November 1977, GBl für Baden-Württemberg 1977 S 592).
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Mannheim vom 23. Oktober 1984 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Der Kläger erstrebt mit der zulässigerweise erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl Bundessozialgericht -BSG- SozR 5280 § 17 Nr 4 mwN) die Verurteilung der Beklagten zur Vormerkung seiner Studienzeiten vom 1. April 1955 bis zur Höchstdauer von fünf Jahren. Materiellrechtliche Grundlage hierfür ist § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b Regelung 3 AVG idF des Art 1 § 2 Nr 13 des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965). Danach sind Ausfallzeiten ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen Hochschulausbildung bis zur Höchstdauer von fünf Jahren.
Unstreitig und vom LSG aufgrund der bindend festgestellten Tatsachen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) zutreffend erkannt hat der Kläger in der fraglichen Zeit, die nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegt, als immatrikulierter Student an staatlich anerkannten Hochschulen (zu diesen Erfordernissen BSGE 61, 35 = SozR 2200 Nr 96; SozR Nr 61 zu § 1259 RVO jeweils mwN) eine Hochschulausbildung erhalten. Revisionsgerichtlich zu prüfen ist daher allein noch, ob er sie auch, wie das Gesetz es voraussetzt, abgeschlossen hat. Dies haben die Vorinstanzen zu Recht angenommen.
Unter welchen Voraussetzungen eine Hochschulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG als "abgeschlossen" zu erachten ist, kann dem Wortlaut des Gesetzes allein nicht entnommen, sondern muß nach dem Normzweck beurteilt werden (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nr 41). Die Anerkennung von Ausbildungsausfallzeiten zielt darauf ab, den Versicherten, die sich über ein bestimmtes Lebensalter hinaus einer für den späteren Beruf notwendigen weiteren Ausbildung unterziehen, die Pflichtbeitragszeiten und damit den Erwerb von Rentenanwartschaften verhindert, bei der Rentenfeststellung einen angemessenen Ausgleich zu verschaffen. Diese Regelung stellt in Rechnung, daß der Versicherte mit abgeschlossener Berufsausbildung später in der Regel eine seinem Ausbildungsstand entsprechende berufliche Stellung erlangen und höhere Beiträge zur Rentenversicherung entrichten wird (BSGE 61, 35 = SozR 2200 § 1259 Nr 96;BSGE 56, 36 = SozR 2200 § 1259 Nr 80; SozR aaO Nr 41 und 38; vgl ferner von Maydell DRV 1986, 169, 273 mit Hinweis auf den volkswirtschaftlichen Wert einer qualifizierten Ausbildung). Daher ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG eine Hochschulausbildung nur dann iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG "abgeschlossen", wenn das Studium erfolgreich beendet, dh das Ausbildungsziel erreicht wurde (BSGE 59, 27 = SozR 2200 § 1259 Nr 92; SozR aaO Nr 86; BSGE 48, 219 = SozR aaO Nr 42; SozR aaO Nr 14; SozR aaO Nr 4; SozR Nr 61 zu § 1259 RVO; BSGE 20, 35 = SozR Nr 9 zu § 1259 RVO). Das Studium wird "in der Regel" (so §15 Abs 1 Satz 1 des Hochschulrahmengesetzes -HRG-, in Kraft getreten am 30. Januar 1976, jetzt idF der Bekanntmachung vom 9. April 1987 - BGBl I S 1170) durch eine Hochschulprüfung, eine staatliche oder eine kirchliche Prüfung abgeschlossen, deren Bestehen den Studienerfolg zuverlässig bekundet (BSGE 20, 35 = SozR Nr 9 zu § 1259 RVO). Folgerichtig hat das BSG für diesen Regelfall ein "abgeschlossenes" Studium nur anerkannt, wenn eine der für den jeweiligen Studiengang vorgeschriebenen, dh nach den Studien- und Prüfungsordnungen zwingend vorgesehenen Abschlußprüfungen (zB Diplom- oder Staatsprüfung, Promotion) bestanden worden ist (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 86; BSGE 48, 219 = SozR 2200 § 1259 Nr 42 S 110 mwN). Für den Abschluß derartiger Studiengänge mit obligatorischem Prüfungsabschluß reicht demgemäß das bloße Durchlaufen der vorgeschriebenen Studienzeit ebensowenig aus wie es unerheblich ist, ob die ohne Prüfung beendete Hochschulausbildung für die spätere berufliche Tätigkeit auch nur vorteilhaft war (vgl auch BSG Urteil vom 18. März 1982 - 11 RA 32/81 - mit ablehnender Besprechung von Tannen in DRV 1982, 353 ff). Außerdem bestehen Studiengänge, in denen der Erfolg durch ein Abschlußzeugnis bescheinigt wird, das auf den während des Studiums erbrachten Leistungen, nicht auf einer Abschlußprüfung beruht. Auch in diesem Fall ist das Studium "abgeschlossen" iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG (BSG SozR Nr 61 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nr 4).
Eine Hochschulausbildung kann aber auch ohne Prüfung erfolgreich "abgeschlossen" sein dann, wenn in der fraglichen Studienzeit in dem anerkannten Studiengang eine Abschlußprüfung (zB Promotion) weder vorgeschrieben noch möglich war. Gleichzubehandeln ist ein Studium, in dem ein Prüfungsabschluß zwar möglich war, jedoch üblicherweise nicht abgelegt wurde (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 14 mwN), sofern jedenfalls die Mindeststudienzeit zurückgelegt war (BSGE 48, 219 = SozR 2200 § 1259 Nr 42 vgl für den Fall einer Lehre ohne vorgeschriebene Abschlußprüfung: Kaltenbach/Maier Anm BV 3.5 zu § 36 AVG in: Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Kommentar, Stand September 1986; Bley/Lilge, Anm 16 zu § 36 AVG in: RVO-Gesamtkommentar, Stand Oktober 1986; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Stand Juli 1987, Anm 19 zu § 1259 RVO/§ 36 AVG; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, Stand August 1987, Anm 7 zu § 1259 RVO; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Stand Februar 1987, Anm 10 zu § 1259 RVO/§ 36 AVG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1987, Band III S 700 m I jeweils mwN). Denn der Gesetzgeber hat - zulässigerweise pauschalierend und typisierend (Bundesverfassungsgericht SozR 2200 § 1259 Nr 46) - jedes erfolgreich absolvierte Hochschulstudium bis zur Höchstdauer von fünf Jahren der üblichen Ausbildungszeit (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 38) als Ausfallzeittatbestand anerkannt. Alle "abgeschlossenen" Hochschulstudiengänge sind deshalb gleich zu behandeln (vgl Schulin SGb 1988, 26, 27). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest.
Nach den vorgenannten Kriterien hat der Kläger sein Hochschulstudium als Orchestermusiker "abgeschlossen". Wie das LSG von der Revision unangefochten und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, war weder an der N. Musik-Akademie D. noch an der Staatlichen Hochschule für Musik in F. die Orchestermusiker-Abschlußprüfung zwingend vorgeschrieben, sondern nach einer - vom Kläger durchlaufenen - Mindeststudienzeit von sechs Semestern nur möglich. Sie wurde aber üblicherweise nicht abgelegt, zumal die Hochschule nicht auf eine Teilnahme an der Prüfung hinwirkte und das Ausbildungsziel in erster Linie dann als erreicht erachtete, wenn ein Probespiel vor einem deutschen Kulturorchester erfolgreich absolviert worden war. Die hochschulinterne Orchestermusiker-Abschlußprüfung war somit zwar ein möglicher, jedoch nicht der regelmäßige Beleg für den Studienerfolg. Ohne Belang ist, daß für die Zeit nach der landesgesetzlichen Ausführung des HRG (für Baden-Württemberg ua durch das Künstlerhochschulgesetz vom 22. November 1977, GBl für Baden-Württemberg 1977, S 592) in § 1 der Prüfungsordnung der Staatlichen Hochschule für Musik F. aus dem Jahr 1985 für den Diplom-Studiengang Orchestermusik eine Diplomprüfung zum Nachweis der künstlerischen Fähigkeiten, die für den Beruf eines Orchestermusikers erforderlich sind, vorgeschrieben worden ist. Denn während der Studienzeit des Klägers galt diese Hochschulsatzung noch nicht. Es bestand auch - wie ausgeführt - keine ihr entsprechende Übung. Die damalige Gepflogenheit, bei einem angehenden Orchestermusiker den erfolgreichen Studienabschluß, der "den Weg in das Berufsleben eröffnete" (vgl BSGE 61, 35 = SozR 2200 § 1259 Nr 96), durch ein Probespiel vor einem deutschen Kulturorchester nachzuweisen, war - was keiner Darlegung bedarf - bei der Eigenart des künstlerischen Berufs für diesen Zweck geeignet. Für ihn diente die Vermittlung theoretischen Wissens und "handwerklich"-künstlerischer Fertigkeiten der Entwicklung und Formung der durch die unerläßliche Begabung vorgegebenen musischen Fähigkeiten.
Der Revision ist hiernach einzuräumen, daß Wissen und Fertigkeiten eines Orchestermusikers auch durch Prüfungen kontrolliert werden können, wie dies nach neuem Hochschulrecht auch tatsächlich regelmäßig in einer Diplomprüfung geschieht. Jedoch ist nicht zu verkennen, daß in der hier streitigen Zeit der berufsqualifizierende Erfolg des Studiums üblicherweise und - wie das LSG festgestellt hat - auch nach Auffassung der Hochschule selbst grundsätzlich nicht durch eine hochschulinterne Kontrolle des Wissens und der Fertigkeiten, sondern durch ein Probespiel vor einem Kulturorchester, dh durch eine Vorstellung des künstlerischen Vermögens vor einem besonders kompetenten Fachpublikum, zuverlässig nachgewiesen wurde. Diesen Nachweis hat der Kläger erbracht und somit sein Studium erfolgreich abgeschlossen.
Die Revision der Beklagten konnte demnach keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; die Beklagte ist auch im Revisionsverfahren unterlegen und hat daher dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Fundstellen