Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 08.02.1994)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob dem Kläger ab 1. Januar 1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zusteht, ohne daß er freiwillige Beiträge zur Erfüllung der Anwartschaft zahlen müßte.

Der am 17. März 1931 im früheren Jugoslawien geborene Kläger lebt jetzt in Kroatien. Im früheren Jugoslawien legte er bis zum 31. März 1980 17 Jahre und 21 Tage Pflichtbeitragszeiten zurück. In Österreich arbeitete er von Oktober 1966 bis Juni 1967 (acht Monate); in der Bundesrepublik Deutschland war er vom 17. Februar 1969 bis 28. Juli 1970 mit Unterbrechungen insgesamt zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt. In seiner Heimat bezieht er seit 1. April 1980 Invalidenrente der I. Kategorie. Eine selbständige Erwerbstätigkeit übt er nicht aus.

Nachdem ein am 17. Juli 1979 gestellter Antrag auf Gewährung von Rente wegen EU bzw Berufsunfähigkeit (BU) erfolglos geblieben war, beantragte der Kläger am 14. August 1984 bei der Beklagten erneut Rente wegen EU/BU. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 20. Mai 1985 mit der Begründung ab, seit dem Zeitpunkt des Rentenantrags vom 14. August 1984 liege zwar beim Kläger EU vor. Für diesen Versicherungsfall seien aber die rentenversicherungsrechtlichen Voraussetzungen weder nach § 1247 Abs 2a Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 1246 Abs 2a RVO noch nach Art 2 § 6 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz erfüllt. Insbesondere sei auch das erste Halbjahr 1984 nicht mit freiwilligen Beiträgen oder Aufschubtatbeständen belegt.

Mit einem am 27. Juni 1985 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben erkundigte sich der Kläger, ob er die Beiträge für das erste Halbjahr 1984 noch nachzahlen könne. Die Beklagte teilte dem Kläger hierauf durch Schreiben vom 19. August 1985 mit, daß keine Möglichkeit mehr bestehe, durch Entrichtung von freiwilligen Beiträgen eine Rente wegen EU zu erhalten.

Das auf den Bescheid vom 20. Mai 1985 folgende Gerichtsverfahren blieb für den Kläger erfolglos, weil die medizinische Sachaufklärung ergeben hatte, daß der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Kläger seit dem Zeitpunkt des Rentenantrages vom 14. August 1984 noch vollschichtig arbeiten konnte (Urteil des Landssozialgerichts ≪LSG≫ vom 9. Februar 1988). In der Zeit vom 14. August 1984 bis 9. Februar 1988 wurde der Kläger über die Möglichkeiten, die Anwartschaft auf eine Rente wegen EU/BU zu erhalten, nicht aufgeklärt; insbesondere wurde auch das Schreiben der Beklagten vom 19. August 1985 nicht richtiggestellt.

Am 4. Januar 1990 beantragte der Kläger über den Versicherungsträger in Zagreb zum drittenmal bei der Beklagten Rente wegen EU oder hilfsweise wegen BU. Nachgereicht wurde ein medizinisches Gutachten, in dem es hieß, der Kläger sei seit dem Zeitpunkt seines Rentenantrages vom 4. Januar 1990 nur noch fähig, täglich zwei Stunden bis unterhalbschichtig leichte Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen zu verrichten. Durch Bescheid vom 8. Januar 1991 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil auch bei dem vorgenannten Versicherungsfall die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen EU/BU fehlten.

Im anschließenden Klageverfahren erkannte die Beklagte mit Schreiben vom 16. März 1992 an, daß der Kläger wegen der nicht erfolgten Aufklärung über die Möglichkeiten, die Anwartschaft auf eine Rente wegen EU/BU zu erhalten, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch des Inhalts habe, freiwillige Beiträge vom 1. Januar 1984 bis 31. Dezember 1989 nachzuentrichten (Gesamthöhe mindestens 7.692,00 DM). Sie erklärte sich bereit, nach Zahlung dieser freiwilligen Beiträge ab 1. Februar 1990 Rente wegen EU zu gewähren. Durch Schreiben vom 6. April 1992 teilte der Kläger dem Sozialgericht (SG) mit, daß er die Nachzahlung nicht leisten könne.

Durch Urteil vom 24. Juni 1992 hat das SG die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1992 Rente wegen EU zu zahlen; im übrigen – dh bezüglich des Zeitraums 1. Februar 1990 bis 31. Dezember 1991 – ist die Klage abgewiesen worden. Zur Begründung hat das SG im wesentlichen ausgeführt, daß ein Rentenanspruch ab 1. Februar 1990 daran scheitere, daß der Kläger sinngemäß erklärt habe, von dem bestehenden Nachentrichtungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen bzw zu können. Der Kläger habe aber ab 1. Januar 1992 auch ohne vorherige Nachentrichtung Anspruch auf Zahlung von Rente wegen EU gemäß § 44 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung -(SGB VI). Nach den Übergangsvorschriften der §§ 240 Abs 2 Satz 2, 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI bedürfe es einer tatsächlichen Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nicht mehr. Es reiche vielmehr aus, daß ein Nachentrichtungsrecht bestehe. Ein solches sei im vorliegenden Fall aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches vorhanden.

Mit ihrer Berufung hat sich die Beklagte gegen die vom SG vorgenommene Auslegung des § 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI gewandt und für das dort maßgebliche Nachentrichtungsrecht eine Nachentrichtung aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs als nicht ausreichend angesehen. Das LSG hat sich im Urteil vom 8. Februar 1994 der Auffassung des SG angeschlossen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI und ist weiterhin der Ansicht, daß ein im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bestehendes Nachentrichtungsrecht zur Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht ausreiche.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Juni 1992 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Dem Kläger steht Rente wegen EU aus der deutschen Rentenversicherung ab 1. Januar 1992 zu, ohne daß er freiwillige Beiträge zur Erfüllung der Anwartschaft zahlen müßte. Da der Kläger die einen Rentenanspruch für die Zeit vom 1. Februar 1990 bis 31. Dezember 1991 ablehnenden Entscheidungen der Vorinstanzen nicht angegriffen hat, ist im Revisionsverfahren allein Streitgegenstand, ob dem Kläger Versichertenrente ab 1. Januar 1992 zusteht.

Für Renten, die ab 1. Januar 1992 beginnen, sind nach § 300 Abs 1 SGB VI die Vorschriften des SGB VI anzuwenden, und zwar auch dann, wenn der Leistungsantrag vor diesem Termin gestellt worden ist (GK-SGB VI – Lueg, Stand: Oktober 1993, § 300 RdNr 17 zu b). Nur wenn der Kläger sein Begehren, bereits ab 1. Februar 1990 Rente zu erhalten, aufrechterhalten hätte, wären gemäß § 300 Abs 2 SGB VI die Vorschriften der RVO anzuwenden gewesen. Da er gegen das Urteil des SG keine Berufung eingelegt hat, ist die Abweisung seiner Klage für die Jahre 1990 und 1991 rechtskräftig geworden und damit im Ergebnis der Gegenstand des Rechtsstreits auf einen Rentenanspruch ab 1992 beschränkt worden.

Nach § 44 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen EU, wenn sie

  1. erwerbsunfähig sind,
  2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben und
  3. vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Diese Voraussetzungen liegen vor:

Der Kläger, der erst am 17. März 1996 sein 65. Lebensjahr vollenden wird, ist jedenfalls seit 1. Januar 1992 erwerbsunfähig (§ 44 Abs 1 Nr 1 SGB VI). Gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI sind erwerbsunfähig ua diejenigen Versicherten, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Der Kläger kann aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen seit dem 4. Januar 1990 nur noch täglich zwei Stunden bis unterhalbschichtig leichte Arbeiten mit einer Vielzahl qualitativer Einschränkungen verrichten. Dies ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit aus den Ausführungen im Berufungsurteil. Das LSG hat sich ua auch dazu vollinhaltlich den Gründen des erstinstanzlichen Urteils angeschlossen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (§ 153 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Ferner hat das LSG „zur Ergänzung des gesamten Sachverhalts” auf die Akten der Beklagten und beigezogene Gerichtsakten, vor allem auf darin enthaltene medizinische Unterlagen und Gutachten, Bezug genommen. Diese Feststellungen, welche die Beklagte nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffen hat, sind für den Senat gemäß § 163 SGG bindend.

Der Kläger erfüllt auch die allgemeine Wartezeit iS des § 44 Abs 1 Nr 3 SGB VI. Diese beträgt nach § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI fünf Jahre, wobei nur Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet werden (§ 51 Abs 1 SGB VI). Zwar hat das LSG dieses Tatbestandsmerkmal nicht ausdrücklich geprüft; seine erwähnte Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG-Urteils ersetzt die entsprechende Überlegung nicht, da auch das SG auf die Anspruchsvoraussetzung der Wartezeit nicht gesondert eingegangen ist. Aus den berufungsgerichtlichen Feststellungen ergibt sich aber, daß der Kläger mehr als 60 Kalendermonate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Neben den in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Zeiten (zwölf Monate) sind auch die Beitragszeiten im früheren Jugoslawien (17 Jahre und 21 Tage) zu berücksichtigen (Art 25, 27 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 ≪BGBl II 1969, 1438≫ idF des Änderungsabkommens vom 30. September 1974 ≪BGBl II 1975, 390≫, das im Verhältnis zu Kroatien – wo der Kläger wohnt -solange anzuwenden ist, bis beide Seiten etwas Abweichendes vereinbaren ≪Bekanntmachung vom 26. Oktober 1992, BGBl II 1146≫). Daraus folgt, daß die erforderlichen 60 Kalendermonate mit Beitragszeiten belegt sind. Bestätigt wird dies durch den Versicherungsverlauf des Klägers, der sich aus den von der Beklagten im Gerichtsverfahren vorgelegten Verwaltungsakten ergibt. Da das LSG auf deren Inhalt Bezug genommen hat, liegt eine ausreichende Feststellung für eine revisionsgerichtliche Entscheidung vor.

Schließlich ist auch das Belegungserfordernis iS des § 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI erfüllt. Die danach notwendigen drei Jahre Pflichtbeitragszeiten in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU am 4. Januar 1990 vermag der Kläger allerdings nicht vorzuweisen. In dem vorgenannten Zeitraum hat er nur (ab 1. April 1980) eine jugoslawische Invalidenrente bezogen. Ob diese geeignet wäre, den Fünfjahreszeitraum gemäß § 44 Abs 4 SGB VI iVm § 43 Abs 3 SGB VI zu verlängern, kann offenbleiben, weil jedenfalls die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift des § 241 Abs 2 SGB VI gegeben sind. Danach sind Pflichtbeitragszeiten vor Eintritt der EU für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der EU mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist oder wenn die EU vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist (§ 241 Abs 2 Satz 1 SGB VI). Für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig ist, ist eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten nicht erforderlich (§ 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI).

Da der Kläger seine Pflichtbeitragszeiten bis 31. März 1980 zurückgelegt hat, hatte er bereits vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt. Zwar ist die EU bei ihm nicht vor dem 1. Januar 1984 eingetreten; auch hat er nicht jeden Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der EU (also bis Dezember 1989) mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Das LSG hat aber zutreffend entschieden, daß eine derartige Belegung hier nicht erforderlich ist, weil für die betreffenden Kalendermonate noch eine (freiwillige) Beitragszahlung zulässig ist (§ 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI).

Dem Kläger steht – wovon auch die Beteiligten ausgehen – ein Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen für die Jahre 1984 bis 1989 aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu. Entgegen der Ansicht der Beklagten reicht eine auf solcher Grundlage beruhende Befugnis zur Nachentrichtung im Rahmen des § 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI aus, um eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten als nicht erforderlich anzusehen. Der Wortlaut der Bestimmung stellt allein auf die Zulässigkeit der Beitragszahlung ab. Für die von der Beklagten vertretene davon abweichende, den Normgehalt inhaltlich einschränkende Auslegung des § 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI bestehen keine hinreichenden Gründe. Diese lassen sich weder aus der Entstehungsgeschichte der Übergangsvorschrift, den Gesetzesmaterialien, dem erkennbaren Sinn und Zweck des § 241 Abs 2 Satz 2 SGB VI, dem Wesen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs noch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (Verstoß gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes) herleiten. Der Senat hält insoweit an seiner bereits im Urteil vom 24. März 1994 (5 RJ 20/93 – SozR 3-2600 § 241 Nr 1) vertretenen Auffassung fest und schließt sich der ergänzenden näheren Begründung im Urteil des 13. Senats vom 16. Juni 1994 (13 RJ 67/93 – SozR 3-2600 § 240 Nr 2) an.

Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174042

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