Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 09.03.1988; Aktenzeichen L 7 Ka 573/87)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. März 1988 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer gegen den Kläger verhängten Disziplinarmaßnahme.

Der Kläger ist als praktischer Arzt zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Der Disziplinarausschuß der Beklagten hat – auf den Antrag des Vorstandes der Beklagten gemäß Schreiben vom 4. Januar 1984 – gegen den Kläger eine Geldbuße von 5.000,– DM wegen Verletzung kassenärztlicher Pflichten verhängt (Bescheid vom 22. August 1984 – Beschluß vom 27. Juni 1984 –). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage des Arztes abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil und den angefochtenen Bescheid mit der Begründung aufgehoben, daß bei der Einleitung des Disziplinarverfahrens (Schreiben vom 4. Januar 1984, beim Disziplinarausschuß eingegangen am 5. Januar 1984) die zweijährige Ausschlußfrist der Satzung der Beklagten „seit dem Bekanntwerden der Verfehlung” bereits abgelaufen gewesen sei, nachdem die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Hersfeld-Rotenburg bei der Beklagten (Bezirksstelle Kassel) am 29. Oktober 1981 die Überprüfung der Verordnungsweise des Klägers beantragt habe. Die Auffassung der Beklagten, daß die Frist erst mit der am 17. Januar 1984 erfolgten, bestandskräftig gewordenen Feststellung eines Schadens (in Höhe von 74.180,34 DM) zu laufen begonnen habe, sei rechtsirrig und laufe dem Wortlaut des § 21 Abs 2 der genannten Satzung zuwider. Die „Verjährung” sei auch nicht dadurch unterbrochen worden, daß die Bezirksstelle Kassel der Beklagten mit Schreiben vom 15. Oktober 1982 dem Kläger einen strengen Verweis wegen seines kassenärztlichen Fehlverhaltens ausgesprochen habe; hierzu sei diese Stelle nicht befugt gewesen. (Tatsächlich hatte sich die Bezirksstelle in dieser Weise geäußert, nachdem ein Antrag des Landesverbandes der Ortskrankenkassen -LdO- in Hessen vom 8. April 1982, dem Kläger die Zulassung zu entziehen, vom Zulassungsausschuß durch Beschluß vom 3. August 1982 abgelehnt worden war.)

Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) hat gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt. Hierzu wird vorgetragen: Da nach der – mit anderen regionalen Satzungsbestimmungen übereinstimmenden und daher revisiblen – Vorschrift des § 21 Abs 2 ihrer Satzung bei „Verfehlungen, die eine nach allgemeinem Strafrecht strafbare Handlung darstellen oder mit einer solchen in Verbindung stehen, … die Verfehlung nicht eher als die Strafverfolgung” verjährt, die strafrechtliche Verfolgungsverjährung aber mindestens drei Jahre betrage, könne die disziplinarrechtliche Verjährung selbst dann nicht im Januar 1984 bereits eingetreten gewesen sein, wenn mit dem Eingang des Schreibens der AOK vom 29. Oktober 1981 die kassenarztrechtliche Verfehlung als „bekanntgeworden” angesehen werde. Die Kenntnis eines disziplinarrechtlich relevanten Tatbestandes sei nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen wie der Begriff der Kenntnis im Sinne des § 45 Abs 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Das bedeute, daß der zuständigen KÄV zumindest alle die Tatsachen bekannt sein müßten, die sie instandsetze zu entscheiden, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden solle oder nicht. Erst nach dem Ende der Aufklärung des Sachverhalts durch den allein hierfür (nach § 368n Abs 5 Reichsversicherungsordnung -RVO-) zuständigen Prüfungsausschuß sei der Disziplinarausschuß in der Lage, diesen Sachverhalt unter disziplinarrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Würde man diese Rechtsauffassung nicht teilen, so könne der Sachverhalt als hinreichend gesichert frühestens zum Zeitpunkt der Entscheidung über die beantragte Zulassungsentziehung angesehen werden. Selbst wenn dem LSG aber hinsichtlich des Fristablaufs zuzustimmen wäre, hätte es den Bescheid des Disziplinarausschusses nicht gänzlich aufheben dürfen, sondern die Beklagte verurteilen müssen, über die nicht verfristeten Vorwürfe erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. März 1988 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 14. Januar 1987 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. März 1988 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

1. Durch den von der KÄV – Bezirksstelle Kassel – gegen den Kläger ausgesprochenen „strengen Verweis” vom 15. Oktober 1982 ist entgegen der Ansicht des Klägers hinsichtlich des gerügten Verhaltens keine Disziplinarbefugnis „verbraucht” worden. Das ergibt sich ganz eindeutig daraus, daß nach dem unstreitigen Inhalt dieses Schreibens mit dem Vorgang gerade keine förmliche Disziplinarmaßnahme verbunden sein sollte, es sich also, wie schon im erstinstanzlichen Urteil zutreffend ausgeführt wurde, um einen außerdisziplinarischen Hinweis handelte, als dessen Rechtsgrundlage offenbar die generelle Verpflichtung der KÄV zur Überwachung der kassenärztlichen Tätigkeit gemäß § 368n Abs 4 Satz 1 RVO angesehen wurde. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob bei der nach der Satzung der Beklagten für Disziplinarmaßnahmen bestehenden ausschließlichen Zuständigkeit des Disziplinarausschusses (vgl § 368m Abs 4 Nr 2 RVO, § 81 Abs 5 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – ≪SGB V≫ über den notwendigen Inhalt der Satzungen) eine von der KÄV selbst getroffene Disziplinarmaßnahme nicht als offenkundig nichtiger Verwaltungsakt (§ 40 Abs 1 SGB X, § 44 Abs 1 Verwaltungsverfahrensgesetz ≪VwVfG≫) hätte angesehen werden müssen, der wegen seiner Unwirksamkeit (§ 39 Abs 3 SGB X, § 43 Abs 3 VwVfG) keine Disziplinarbefugnisse „verbrauchen” konnte. Der Disziplinarausschuß der Beklagten war daher an der Verhängung der streitigen Geldbuße nicht gehindert.

2. § 21 Abs 2 der Satzung der Beklagten lautet:

Die Einleitung eines Verfahrens ist ausgeschlossen, wenn seit dem Bekanntwerden der Verfehlung zwei Jahre vergangen sind; fünf Jahre nach der Verfehlung ist die Einleitung eines Verfahrens nicht mehr zulässig. Bei Verfehlungen, die eine nach allgemeinem Strafrecht strafbare Handlung darstellen oder mit einer solchen in Verbindung stehen, verjährt die Verfehlung nicht eher als die Strafverfolgung. Diese Verjährungsfristen werden durch die Einleitung des Verfahrens unterbrochen.

Nach § 162 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann die Revision nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Die Revisibilität einer Vorschrift ist auch dann gegeben, wenn inhaltlich gleiche Vorschriften in verschiedenen Gerichtsbezirken gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig ist (Meyer-Ladewig, Komm SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 5 zu § 162 mwH). Diese Voraussetzungen sind von der Revisionsklägerin hinreichend dargelegt worden, und sie liegen auch tatsächlich vor. Unstreitig geht die Übereinstimmung auf eine Muster-Satzungsbestimmung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zurück, die von mehreren KÄVen außerhalb des Gerichtsbezirks des Hessischen LSG übernommen worden sind. Das reicht zur Revisibilität der hier umstrittenen Satzungsvorschrift aus.

3. § 21 Abs 2 erster Halbsatz der Satzung der Beklagten setzt für die Einleitung des Verfahrens eine zweijährige Ausschlußfrist, beginnend mit dem Bekanntwerden der Verfehlung; unstreitig wird das Verfahren vom Vorstand der Beklagten eingeleitet.

Bei einer solchen – aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes naheliegenden – Befristung, die also eine zeitliche Höchstdauer zwischen der fristabschließenden Verfahrenseinleitung und dem Fristbeginn regeln soll, geht es um die Festlegung eines angemessenen zeitlichen Verhältnisses zwischen der Kenntnisnahme der Behörde von einem (im disziplinarrechtlichen Sinne relevanten) Verhalten des Kassenarztes und dem Zeitpunkt des behördlichen Eingriffsverbotes (womit hier also anders als im weiteren Text der genannten Satzungsbestimmung nicht in Frage steht, ob und wann nach dem Zeitpunkt der Handlungen selbst eine Verfahrenseinleitung ausgeschlossen sein soll, ganz abgesehen davon, daß damit gesetzliche Verjährungsfragen aufgeworfen wären). Bei der normativen Entscheidung darüber, auf welche Art der Kenntnisnahme es dabei ankommen soll, hat die Beklagte (als Normgeber) nicht darauf abgestellt, zu welchem Zeitpunkt der Vorstand über Informationen verfügt, die den Anfangsverdacht eines verfahrensrelevanten Verhaltens rechtfertigen. Nicht auf diesen naturgemäß frühestmöglichen Zeitpunkt hebt die Vorschrift des ersten Halbsatzes ab, sondern auf den Zeitpunkt, in dem die Verfehlung bekannt wird. Das bedeutet aber, daß die Behörde sich zunächst einmal eine Überzeugung vom Vorliegen einer „Verfehlung” verschaffen muß, die – in einem Fall früher, im anderen Fall später – die jeweiligen Einzelumstände ergeben mögen. Das LSG hat demgegenüber den Zeitpunkt des „Bekanntwerdens der Verfehlung” rechtssatzmäßig gleichgesetzt mit dem Vorliegen bzw dem Eingang von Informationen, die lediglich einen Anfangsverdacht rechtfertigen. Es ist zwar denkbar, daß mit einer solchen Information auch schon ein zur Einleitung des Verfahrens hinreichender Tatverdacht vorliegt, etwa wenn sich die Verfehlung schon durch Urkundenvergleich ergibt. Hierauf hat das LSG aber nicht abgestellt. Denn es ist nirgends darauf eingegangen, inwieweit allein schon durch den Inhalt des Antragsschreibens der AOK vom 29. Oktober 1981 ein solcher Tatverdacht sich hätte ergeben müssen.

Damit hat das LSG schon gegen den äußeren Wortlaut der Satzungsvorschrift den Beginn der Ausschlußfrist bereits mit dem Vorliegen allenfalls eines Anfangsverdachtes, wenn nicht gar dem bloß formalen Zugang einer einen Verdacht aussprechenden Information angesehen. Gegen die Ansicht des LSG spricht aber nicht nur der Wortlaut der Vorschrift, sondern auch ihr Sinn und Zweck. Denn mit einer solchen Ausschlußfrist, die auch im Rahmen gesetzesrangiger Vorschriften vorkommt (vgl etwa § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X: „Die Behörde muß dies innerhalb 1 Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.”), soll lediglich verhindert werden, daß die Behörde nach Abschluß einer normalen Ermittlungstätigkeit eine hieraus resultierende nachteilige Entscheidung ungebührlich verzögert. Dementsprechend hat der Senat in seinem Urteil vom 26. Oktober 1989, 6 RKa 4/89, SozR 1500 § 128 Nr 40, zu § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X zum Ausdruck gebracht, daß die dort gesetzte Jahresfrist erst zu laufen begonnen habe, „als der Beklagten alle die von ihr in den Bescheiden genannten Beweisunterlagen vorgelegen haben” (vgl auch BSG, Urteil vom 9. Juni 1988, 4 RA 9/88, BSGE 63, 224, 228 f = SozR 1300 § 48 Nr 47). Demgegenüber würde ein Fristbeginn, welcher auf die früheste Kenntnisnahme einzelner Verdachtsmomente abstellt, eher den Zweck eines zeitlich von der Ermittlungsarbeit der Behörde unabhängigen Ausschlusses verfolgen, wie dies gerade für eigentliche Verjährungsvorschriften typisch ist. Die Regelung des ersten Halbsatzes des § 21 Abs 2 der Satzung der Beklagten hat zwar – ebenso wie die genannte Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X – zur Folge, daß der Fristbeginn nicht in einem formalisierenden Sinne, sondern nur einzelfallspezifisch festgestellt werden kann. Dieser Gesichtspunkt kann die Gerichte aber nicht legitimieren,

sich über die tatsächlich getroffene Regelung deshalb hinwegzusetzen, weil die alternative Regelung einer solchen Formalisierung eher zugänglich wäre.

Die zweijährige Ausschlußfrist des § 21 Abs 2 der Satzung der Beklagten begann daher erst zu dem Zeitpunkt, an dem die Tathandlung des Klägers, die im Januar 1984 zur Einleitung des Disziplinarverfahrens und im Juni 1984 zu der streitigen Geldbuße führte, vom Vorstand als mit einer Disziplinarmaßnahme sanktionierungsfähige Verfehlung beurteilt werden konnte. Zu welchem Zeitpunkt dies der Fall war, ist eine Tatfrage, die vom LSG zu klären ist. Es ist zwar nicht auszuschließen, daß dieser Zeitpunkt hier erst dann eingetreten war, als der Prüfungsausschuß der Beklagten – am 17. Januar 1984 – den durch den Kläger verursachten Schaden feststellte. Daß aber die Frist erst zu diesem Zeitpunkt beginnen konnte, ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht richtig. Deren Satzungsbestimmung schreibt nicht vor, daß die Ausschlußfrist frühestens dann zu laufen beginne, wenn alle diejenigen Stellen, die mit dem Tatgeschehen zu einer anderweitigen, disziplinarrechtlich relevanten Entscheidung aufgerufen sind, ihre Entscheidungen getroffen haben. Insofern wird das LSG eine einzelfallspezifische Beurteilung vorzunehmen haben. Die Einleitung des Verfahrens war dann unberechtigt, wenn der Vorstand der Beklagten schon vor dem 6. Januar 1982 (- zwei Jahre vor der Verfahrenseinleitung; vgl § 26 Abs 1 SGB X, § 187 Abs 1, § 188 Abs 2 BGB –) von der Verfehlung in dem genannten Sinne hätte Kenntnis nehmen können.

4. Der zweite Halbsatz des ersten Satzes der obengenannten Satzungsbestimmung lautet: „Fünf Jahre nach der Verfehlung ist die Einleitung eines Verfahrens nicht mehr zulässig.” Auf die Bestimmung des Satzes 2, wonach bei Verfehlungen, die strafbare Handlungen darstellen oder mit solchen in Verbindung stehen, die Verfehlung nicht eher als die Strafverfolgung verjähren soll, kann sich die Beklagte nicht berufen. Das LSG hat einen solchen Zusammenhang nicht festgestellt, und die Beklagte hat dies auch nicht gerügt. Das gleiche gilt hinsichtlich des Vorbringens des Klägers, die Staatsanwaltschaft habe das Verfahren gegen ihn nach § 170 Strafprozeßordnung eingestellt; der Kläger hat insoweit keine Gegenrüge erhoben. Daher war hier auch nicht darüber zu entscheiden, ob durch eine solche Einstellung (wegen nicht genügenden Anlasses zur Erhebung der öffentlichen Klage) der in der genannten Satzungsbestimmung gemeinte Zusammenhang mit einer strafbaren Handlung entfällt oder nicht.

5. Auf die Revision der Beklagten war daher das Urteil des LSG aufzuheben; die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, der die rechtliche Auffassung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen ist, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174365

NJW 1992, 782

AusR 1991, 11

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