Leitsatz (redaktionell)
Das Verfahren des LSG leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn an der der Urteilsverkündung vorausgehenden Beratung ein zur Einarbeitung zugewiesener Assessor teilnimmt.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 61 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GVG § 193 Fassung: 1950-09-12
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger erhielt auf Grund des Umanerkennungsbescheids des Versorgungsamts S... vom 7. Februar 1952 wegen Herzbeschwerden und Magenschleimhautentzündung Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. Durch Bescheid vom 22. Juli 1955 wurde die Rente mit Wirkung vom 1. September 1955 nach § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) entzogen. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt W... durch Bescheid vom 28. November 1955 zurück. Die Klage wies das Sozialgericht Dortmund durch Urteil vom 23. Mai 1957 ab. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen wies die Berufung durch Urteil vom 10. November 1960 zurück, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die durch Schädigungsfolgen bedingte MdE den rentenberechtigenden Grad nicht erreiche. Das Urteil wurde dem Kläger am 19. Dezember 1960 zugestellt. Am 30. Dezember 1960 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1960 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 1. Februar 1961 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 20. März 1961 - begründete er die Revision: Das LSG habe § 61 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 193 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) verletzt; an der Beratung, die der Verkündung des angefochtenen Urteils vorausgegangen sei, habe der dem 10. Senat des LSG zur Einarbeitung zugewiesene Assessor Dr. R... teilgenommen; nach § 193 GVG dürften außer den zur Entscheidung berufenen Richtern nur die bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen bei der Beratung und Abstimmung zugegen sein, soweit der Vorsitzende deren Anwesenheit gestatte; die Beschäftigung des Assessors Dr. R... habe jedoch nicht der juristischen Ausbildung in diesem Sinne, sondern der Einarbeitung und Fortbildung gedient, seine Teilnahme an der Beratung sei deshalb unzulässig gewesen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Der Senat hat eine dienstliche Äußerung des Vorsitzenden des früheren 10. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen eingeholt. Darin heißt es, Assessor Dr. R... sei bei der Beratung anwesend gewesen, es sei jedoch nicht anzunehmen, daß die Anwesenheit von Dr. R... das Urteil beeinflußt habe.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.
Wie sich aus der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden des früheren 10. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen ergibt, hat an der Beratung, die der Verkündung des angefochtenen Urteils vorausgegangen ist, der bei dem LSG als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beschäftigte und dem 10. Senat zugeteilte Assessor Dr. R... teilgenommen. Dies ist unzulässig gewesen. Nach § 61 Abs. 2 SGG gelten für die Beratung und Abstimmung bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit die §§ 192 bis 198 GVG entsprechend. Nach § 193 GVG dürfen bei der Beratung und Abstimmung außer den zur Entscheidung berufenen Richtern nur die bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen zugegen sein, soweit der Vorsitzende deren Anwesenheit gestattet. Diese Voraussetzungen liegen bei dem als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beschäftigten Assessor Dr. R... nicht vor. Die Tätigkeit eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters, der die zweite juristische Staatsprüfung bestanden hat, dient nicht seiner Ausbildung, sondern allenfalls seiner Einarbeitung und Fortbildung, soweit er nicht überhaupt zur Entlastung der Richter, denen er zugeteilt ist, beschäftigt wird. Wie der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 18. November 1960, SozR Nr. 1 zu § 193 GVG, eingehend dargelegt hat, darf deshalb ein Assessor, der einem Senat eines LSG zur Dienstleistung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter zugewiesen ist, bei der Beratung und Abstimmung des Senats nicht zugegen sein. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Das LSG hat somit gegen § 61 Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 193 GVG verstoßen. Der Kläger hat den Mangel im Verfahren des LSG frist- und formgerecht gerügt. Die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG ohne die Teilnahme des Assessors Dr. R. an der Beratung anders entschieden hätte. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. In sachlicher Hinsicht wird das LSG bei der Prüfung der Frage, ob der Bescheid vom 22. Juli 1955 rechtmäßig ist, ob also eine "wesentliche Änderung in den Verhältnissen" eingetreten ist (§ 62 Abs. 1 BVG), die Ausführungen des erkennenden Senats in dem Urteil vom 18. Oktober 1960 - 11 RV 52/60 - (SozR Nr. 9 zu § 62 BVG) zu beachten haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen