Leitsatz (redaktionell)

Rückkehrverhinderung durch "feindliche Maßnahmen" und Festgehaltenwerden: #1. Wurden Ausreisegenehmigungen grundsätzlich nicht erteilt und richtete sich das Ausreiseverbot eines Staates unterschiedslos gegen sämtliche Einwohner (hier: Tschechoslowakei), so handelt es sich hierbei nicht um "feindliche Maßnahmen" iS des RVO § 1251 Abs 1 Nr 3. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit mußte sich in der Hauptsache gegen den deutschstämmigen Teil der Bevölkerung eines früheren Feindstaates gerichtet haben.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Juni 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. 1948 übersiedelte er von seinem damaligen Wohnort Salzgitter in die CSSR, wo er bei dem K Symphonieorchester als Musiker sozialversicherungspflichtig tätig war. Seit Juli 1956 besaß er die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit. 1961 wurde ihm die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet; er kehrte daraufhin hierher zurück.

Im Verfahren zur Herstellung von Versicherungsunterlagen für nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anrechenbare Zeiten erkannte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Braunschweig die tschechoslowakischen Beitragszeiten bis März 1950 an. Die Beklagte lehnte die Anerkennung der folgenden Zeiten dagegen ab, da der Kläger nicht die Voraussetzungen des § 1 FRG erfülle. Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Oldenburg vom 22. Februar 1967).

Im - streitigen - Bescheid über die Gewährung von Altersruhegeld vom 28. November 1973 berücksichtigte die Beklagte die tschechoslowakischen Beitragszeiten nur bis März 1950; sie fühlte sich insoweit an die von der LVA vollzogene Anerkennung gebunden.

Dem Begehren (Hilfsbegehren) des Klägers, die Zeiten ab Februar 1949 bis August 1961 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anzurechnen, gaben das SG und das Landessozialgericht (LSG) nicht statt (Urteile vom 16. Januar 1975 und 20. Juni 1975). Das LSG hat ausgeführt: Der Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG stehe zwar nicht entgegen, daß der Kläger - erst - nach dem Kriege freiwillig in die CSSR übergesiedelt sei. Auch solle unterstellt werden, daß er sich schon vor 1961 wiederholt erfolglos um die Ausreiseerlaubnis nach Deutschland bemüht und hierdurch seinen ernsthaften Rückkehrwillen zum Ausdruck gebracht habe. Jedoch sei er an der Verwirklichung dieses Willens nicht durch feindliche Maßnahmen verhindert gewesen oder in der CSSR festgehalten worden. In der fraglichen Zeit sei die Ausreise nämlich nicht nur den Deutschen, sondern grundsätzlich allen Einwohnern dieses Staates verweigert worden. Überdies stehe der Anrechnung der Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung entgegen. Ersatzzeiten sollten Zeiten ohne Beiträge ersetzen, wohingegen der Kläger Beiträge entrichtet habe. Über die Zeiten bis März 1950 habe nicht entschieden zu werden brauchen; sie seien als Beitragszeiten anerkannt.

Mit der Revision beantragt der Kläger sinngemäß,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. Februar 1949 bis zum 31. August 1961 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt die Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG. Der Anrechnung der Zeiten als Ersatzzeit stehe nicht entgegen, daß sie mit Beiträgen belegt seien. Diese Beiträge seien für ihn verloren, weil sie ihm nach deutschem Recht nicht gutgebracht werden könnten. An der Rückkehr nach Deutschland sei er durch gegen seine Person gerichtete feindliche Maßnahmen verhindert gewesen. Man habe ihn in der CSSR festgehalten. Hierauf komme es an und nicht darauf, ob sich das Ausreiseverbot auf alle Einwohner dieses Staates oder speziell auf die deutsche Volksgruppe bezogen habe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß für das Altersruhegeld weitere Ersatzzeiten rentensteigernd berücksichtigt werden.

Ab Februar 1949 bis März 1950 ist dies schon deshalb nicht möglich, weil diese Zeit bereits als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG angerechnet worden ist. Damit steht sie den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, so daß für dieselben Zeiten keine Ersatzzeiten mehr berücksichtigt werden können; denn Ersatzzeiten sind Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 27 Abs. 1 Buchst. b AVG).

Für den anschließenden Zeitabschnitt bis August 1961 steht die Tatsache, daß der Kläger (Pflicht-) Beiträge in der Tschechoslowakei geleistet hat, der Anrechnung von Ersatzzeiten zwar nicht mehr entgegen. Denn diese Beiträge mußten bei der Berechnung des Altersruhegeldes unberücksichtigt bleiben. Da der Kläger die Voraussetzungen des § 1 FRG nicht erfüllt, stehen diese an den tschechoslowakischen Versicherungsträger entrichteten Beiträge nicht gemäß § 15 Abs. 1 FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Infolgedessen fehlt es hier an Beitragszeiten im Sinne des § 27 Abs. 1 Buchst. a AVG, so daß diese Zeiten "Zeiten ohne Beitragsleistung" im Sinne des § 27 Abs. 1 Buchst. b AVG sind. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten ist deshalb zu fragen, ob der Kläger am Zurücklegen bundesdeutscher Beitragszeiten im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG verhindert war. Das trifft jedoch nicht zu. Der Kläger ist während der streitigen Zeiten von April 1950 bis August 1961 nicht durch feindliche Maßnahmen verhindert gewesen, nach Deutschland zurückzukehren. Diese Auffassung haben die Vorinstanzen zu Recht vertreten.

Die tatsächlichen Feststellungen, die das LSG zu dem Begriff "feindliche Maßnahmen" getroffen hat und aus denen sich seine rechtlichen Überlegungen herleiten, hat der Kläger nicht angegriffen. Sie sind für den Senat daher bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sonach ist davon auszugehen, daß die Behörden der CSSR während des in Rede stehenden Zeitraums Ausreisegenehmigungen grundsätzlich nicht erteilt haben. Nur in Ausnahmefällen soll Deutschen, Rentnern und Arbeitsunfähigen die Ausreise erlaubt worden sein. Diese Feststellung des LSG schränkt die Revision sogar mit der Bemerkung ein, die CSSR habe "überhaupt keine Menschen aus ihrem Staatsgebiet herausgelassen". Wenn aber das Ausreiseverbot eines Staates sich unterschiedslos gegen sämtliche Bürger richtet, dann ist es keine feindliche Maßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG (BSG in SozR Nr. 57 zu § 1251 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; Urteil vom 21. September 1971 - 12/11 RV 142/70). Feindlich sind nach der schon vom 1. Senat des Bundessozialgerichts vertretenen Auffassung (SozR 2200 zu § 1251 Nr. 7) Maßnahmen, "die der ehemalige Feindstaat hauptsächlich wegen seiner Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit erlassen hatte, die sich aber auch allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richteten". Diese Erläuterung hält der erkennende Senat für zutreffend (siehe Urteil vom 23. Oktober 1975 - 11 RA 110/74). Sie gilt auch für den vorliegenden Fall. Daß der Kläger von Maßnahmen solcher Art betroffen wurde, geht aus den Feststellungen des LSG nicht hervor. Vielmehr ist er als Deutscher nicht schlechter behandelt worden als die anderen Einwohner der CSSR, zumal nach Verleihung der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit. Gegen seine Person hat sich das Ausreiseverbot deshalb gerichtet, weil er Einwohner und später Bürger dieses Staates war. Es beruhte jedoch auf einer generellen Anordnung, die nicht auf die deutsche Volksgruppe beschränkt war.

Ist der Kläger sonach nicht durch "feindliche Maßnahmen" an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen, so ist er durch solche Maßnahmen in der CSSR auch nicht festgehalten worden (§ 28 Abs. 1 Nr. 3, 2. Alternative AVG). Ob dieser Alternativtatbestand seiner Entstehungsgeschichte und Zielsetzung nach überhaupt in Betracht käme (vgl. hierzu BSG in SozR Nrn. 13 und 57 zu § 1251 RVO; SozR 2200 aaO), konnte deshalb offenbleiben; auch er setzt jedenfalls voraus, daß die Einschränkung der persönlichen Freiheit sich in der Hauptsache gegen die deutschstämmigen Teile der Bevölkerung eines früheren Feindstaates richtet (vgl. hierzu Eicher-Haase-Rauschenbach, Die Rentenversicherung, 1973, Anm. 11 zu § 1251 RVO - § 28 AVG -).

Hiernach war der Revision der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649614

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