Leitsatz (amtlich)
Eine im Reichsgebiet verrichtete Beschäftigung ist bei Anwendung von FRG § 16 wie eine im Ausland verrichtete Beschäftigung zu behandeln, wenn sie infolge sogenannter "Einstrahlung" eines ausländischen Betriebes in das Reichsgebiet hier versicherungsfrei war.
Normenkette
FRG § 16 Fassung: 1960-02-25; AnVBefrV § 1 Nr. 5 Fassung: 1923-02-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. April 1975 und des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Mai 1974 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin war litauische Staatsangehörige und wurde 1941 in das Deutsche Reich eingebürgert. Nach dem Schulbesuch in Litauen erhielt sie 1933 eine Anstellung bei der Speditionsfirma P & Co. (P.) mit dem Sitz in K. Nach dreimonatiger Einarbeitung wurde sie mit der Leitung der "Außenstelle" der Firma P. in dem deutschen Grenzort E betraut. Deren Aufgabe war die Zollabfertigung der nach Deutschland einzuführenden Waren. Das Gehalt wurde der Klägerin von K aus gezahlt. Die Beschäftigung endete am 31. Juli 1937 wegen Auflösung der Arbeitgeberfirma. Beiträge zur deutschen Rentenversicherung sind für die Zeit der Beschäftigung bei der Firma P. nicht entrichtet.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin ab Mai 1972 das vorgezogene Altersruhegeld; dabei rechnete sie die Zeit der Beschäftigung bei der Firma P. nicht an. Die u. a. auf Anrechnung dieser Zeit gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) sind die Voraussetzungen des § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) erfüllt. Dem stehe nicht entgegen, daß die Beschäftigung im Reichsgebiet ausgeübt worden sei, da es sich um eine "Ausstrahlung" eines litauischen Unternehmens gehandelt habe. In der deutschen Rentenversicherung der Angestellten sei die Klägerin nach § 1 der Verordnung über Versicherungsfreiheit vorübergehender Dienstleistungen in der Angestelltenversicherung vom 9. Februar 1923 (RGBl 109) versicherungsfrei gewesen. Die "Außenstelle" sei unmittelbar an der Grenze gelegen und von der Klägerin durch bloßes Überqueren einer Brücke von ihrem Wohnsitz in Litauen aus zu erreichen gewesen. Organisatorische Selbständigkeit sei der Außenstelle nicht zugekommen, alle Mitarbeiter seien zudem litauische Staatsangehörige gewesen, ihre Vertragsbeziehungen zum Arbeitgeber hätten sich nach litauischem Recht gerichtet. Der Aufgabenbereich der Klägerin habe sich auch nicht auf die Leitung der Außenstelle beschränkt, sondern die Teilnahme an Besprechungen in Kaunas umfaßt.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte:
Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und Klageabweisung.
Sie hält § 16 FRG für unanwendbar, da die Klägerin der deutschen Rentenversicherungspflicht unterlegen habe. Die Voraussetzungen des § 1 Nr. 5 der Verordnung vom 9. Februar 1923 seien nicht erfüllt, da die Tätigkeit der Klägerin keine nur "vorübergehende" gewesen sei. Doch selbst wenn diese Vorschrift Platz gegriffen haben sollte, würde das am Vorliegen einer die Anwendbarkeit von § 16 FRG ausschließenden Versicherungspflicht nach deutschem Recht dem Grunde nach nichts ändern.
Die Klägerin beantragt
Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anrechnung der streitigen Zeit.
Nach § 16 Satz 1 FRG steht u. a. eine nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) genannten ausländischen Gebieten, zu den Litauen gehört, verrichtete Beschäftigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Bundesgebiet, für die Beiträge entrichtet sind, gleich. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Das ergibt sich freilich entgegen dem bloßen Gesetzeswortlaut nicht bereits daraus, daß die Beschäftigung nicht in Litauen, sondern im Reichsgebiet ausgeübt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, daß auf diese Beschäftigung das Recht der reichsgesetzlichen Rentenversicherung anzuwenden war (vgl. SozR Nr. 12 zu § 16 FRG).
Nach dem das deutsche Sozialversicherungsrecht beherrschenden Grundsatz der Territorialität gilt der Versicherungszwang innerhalb der Grenzen der inländischen Staatsgewalt (BSG 7, 257, 263; 17, 177; 22, 32). Er erfaßt die im Inland ausgeübten Beschäftigungen. Dieser Grundsatz wird durch die von der Rechtsprechung entwickelte "Ausstrahlungstheorie" für Fälle des Übergreifens einer Beschäftigung über die Staatsgrenzen hinweg erweitert. Umgekehrt kann er jedoch auch durch eine "Einstrahlung", d. h. das geringfügige Übergreifen eines ausländischen Betriebes in das Inland (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 36. Nachtrag, S. 308 m III) eingeengt werden. Eine solche "Einstrahlung" muß dann aber im Rahmen von § 16 FRG so behandelt werden, als wäre sie im "einstrahlenden" Ausland verrichtet. Im vorliegenden Falle hat jedoch eine derartige "Einstrahlung" aus Litauen nicht stattgefunden.
Die "Einstrahlung" hatte im Gegensatz zur "Ausstrahlung" schon unter dem Gesichtspunkt der Versicherungsfreiheit vorübergehender Beschäftigungen einen Niederschlag in gesetzlichen Regelungen gefunden (vgl. Brackmann aaO). Maßgeblicher Ausdruck war in der hier in Betracht kommenden Zeit § 1 Nr. 5 der Verordnung vom 9. Februar 1923 (RGBl I 109). Danach blieben Dienstleistungen im Inland von Angestellten ausländischer Betriebe versicherungsfrei, soweit diese mit einzelnen Betriebshandlungen vorübergehend in das Inland übergriffen. Das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift hat das LSG zu Unrecht bejaht.
Die litauische Arbeitgeberfirma der Klägerin hat mit ihrer "Außenstelle" in E nicht nur vorübergehend in das Inland übergegriffen. Nach den Feststellungen des LSG war die von der Klägerin geleitete Außenstelle vielmehr eine auf Dauer angelegte Einrichtung. Der daraus zu ziehenden Folgerung, daß es sich um keine nur vorübergehend in das Inland übergreifende Betriebshandlung handelte, steht nicht entgegen, daß die Klägerin ihren Wohnsitz in Litauen beibehielt, an Besprechungen in K teilzunehmen hatte, ihr Gehalt von K aus ausgezahlt erhielt und daß ihre Mitarbeiter litauische Staatsangehörige waren. Unerheblich ist auch, ob die Außenstelle organisatorisch selbständig war.
Handelt es sich aber bei der Beschäftigung der Klägerin unter Berücksichtigung von § 1 Nr. 5 der Verordnung vom 9. Februar 1923 nicht um die "Einstrahlung" eines ausländischen Betriebes, so unterlag sie den Vorschriften der reichsgesetzlichen Rentenversicherung und dem deutschen Versicherungszwang. Diese Beschäftigung kann damit nicht im Wege einer am Sinn von § 16 FRG orientierten ausdehnenden Auslegung als "in" Litauen und damit in einem ausländischen Vertreibungsgebiet verrichtet angesehen werden.
Nach alledem waren die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1647681 |
BSGE, 88 |