Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. freie Beweiswürdigung. Auseinandersetzung mit dem Tatsachenvortrag der Parteien. Sachverständiger als Richtergehilfe. Erforderlichkeit der Unterrichtung bereits gehörter Gutachter über nachträgliche Zeugenaussagen. Kriegsopferversorgung. Kriegsgefangenschaft. Misshandlung. Depression. Selbsttötung. ursächlicher Zusammenhang

 

Orientierungssatz

1. Das Landessozialgericht ist im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht genötigt, sich mit jedem einzelnen Vorbringen eines Beteiligten oder mit jedem Teil des Prozessstoffes selbst auseinanderzusetzen; es genügt, wenn der als Richtergehilfe tätige Sachverständige zu dem streitigen Teil des Sachverhalts Stellung genommen hat.

2. Das Landessozialgericht braucht die schon gehörten Ärzte nicht von dem Ergebnis nachträglicher Zeugenaussagen im Berufungsverfahren (hier zum ursächlichen Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kriegsgefangenschaft und Depressionen mit der Folge einer Selbsttötung) zu unterrichten, wenn sich der Sachverhalt hierdurch nur in nebensächlichen Punkten geändert hat.

 

Normenkette

SGG § 128; BVG § 1; LVG RP

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.07.1965)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1962 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt Witwenrente nach ihrem am 27. Juli 1948 durch Selbsttötung um das Leben gekommenen Ehemann. Dieser betrieb eine kleine Landwirtschaft, war von Januar 1941 bis August 1944 im Wehrdienst und anschließend bis zum 26. März 1948 in französischer Kriegsgefangenschaft. In der Gefangenschaft ist er durch Wachsoldaten Weihnachten 1944 mißhandelt worden.

Im März 1950 beantragte die Klägerin Witwenrente, weil ihr Ehemann sich aus seelischen Depressionen getötet habe, die Folgen der Gefangenschaft gewesen seien. Vor dem Wehrdienst sei er gesund und gesellig gewesen, nach Rückkehr aus der Gefangenschaft teilnahmslos, depressiv, labil und schwermütig. Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie führten die Selbsttötung auf eine endogene Psychose ohne ursächlichen Zusammenhang mit der Kriegsgefangenschaft zurück. Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 24. Januar 1953 den Versorgungsantrag ab. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 1. März 1956 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) verschiedene Zeugen und neue ärztliche Sachverständige gehört, welche die depressive Krankheitsphase des Ehemannes der Klägerin nicht allein auf endogene Bedingungen zurückführten, sondern auch auf exogene, insbesondere auf die besonders schädigenden Verhältnisse der französischen Kriegsgefangenschaft. Es hat mit Urteil vom 4. Juni 1962 unter Aufhebung der vorausgegangenen Entscheidungen den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 1. März 1950 an Hinterbliebenenversorgung zu gewähren und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt: Die Mißhandlung in der Kriegsgefangenschaft sei eine wesentliche Schädigung gewesen. Folge dieses schädigenden Vorgangs sei eine seelische Depression, welche in den folgenden 3 1/4 Jahren nur scheinbar abgeklungen sei. Die Depression des Ehemannes der Klägerin sei durch die dauernde Gefangenschaft genährt und vertieft worden, weil sie fachärztlich nicht behandelt worden ist. Insoweit folge der Senat dem Sachverständigen Dr. R. Die durch die Gefangenschaft hervorgerufene geistige und seelische Depression habe verhindert, die Eingliederung in die Verhältnisse der Heimat zu meistern. Beim Ehemann der Klägerin habe sich zwar “eine gewisse Veranlagung bei abnormen Verhalten„ gezeigt, aber es sei nicht ein allgemeiner Maßstab anzuwenden, sondern die objektiven Belastungen im Verhältnis zur persönlichen Belastbarkeit zu berücksichtigen (vgl. BSG 11, 50). Daß der Ehemann der Klägerin die Schwierigkeiten zu Hause vor dem Wehrdienst ohne seelische Depressionen überstanden habe, spreche für die Ursächlichkeit der Gefangenschaft, da er nach der Gefangenschaft unfähig gewesen sei, die Schwierigkeiten nach der Heimkehr wieder zu bewältigen. Das Verhalten der Beteiligten im Familienstreit könne nicht als Hauptursache der Selbsttötung angesehen werden; das seien Mitursachen, die nach Ausmaß und Tragweite gegenüber der Gefangenschaft zurückbleiben. Die Schädigungen der Kriegsgefangenschaft seien daher wesentliche Ursache (BSG 1, 150).

Gegen das dem Beklagten am 23. Juli 1962 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 4. August 1962 Revision mit dem Antrag eingelegt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1962 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte rügt verfahrensrechtlich die Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und sachlich-rechtlich Verletzung der §§ 1 und 7 des Landesversorgungsgesetzes (LVG) sowie der §§ 1 und 38 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die Revision sieht den Fehler in der Beweiswürdigung darin, daß das Berufungsgericht den Begriff der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs verkannt habe. Nach dem Ergebnis des Verfahrens hätte das Gericht nicht den Grad von subjektiver Sicherheit erlangen können, um von der Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs überzeugt zu sein. Durch § 128 SGG seien der richterlichen Überzeugung Grenzen gesetzt. Es wäre notwendig gewesen, den fachärztlichen Gutachtern (Dres. R, L und R) das gesamte Beweisergebnis mitzuteilen, damit sie hierzu zusätzlich hätten Stellung nehmen können. Es wäre zweifelhaft, ob sie bei ihrer Beurteilung geblieben wären. Auf den Zeugen B könne sich das Gericht nicht berufen, weil dieser Zeuge seit 19. Januar 1945 nicht mehr beim Ehemann der Klägerin war.

Die Revision ist ferner der Auffassung, daß das Gesetz in der Frage des ursächlichen Zusammenhangs verletzt worden sei. Nach ihrer Meinung sei die freie Willensbestimmung durch Tatbestände der Versorgungsgesetze nicht beeinträchtigt worden, vielmehr hätten endogene Faktoren und äußere Umstände, die mit der Kriegsgefangenschaft nicht zusammenhingen, die freie Willensbestimmung ungünstig beeinflußt. Der Ehemann der Klägerin habe als Gefangener in der Landwirtschaft gearbeitet, einen guten Arbeitsplatz bei einem Bauern gehabt; er habe auch nicht den Lagerarzt zur Behandlung aufgesucht, die Briefe aus der Gefangenschaft zeigten keine Auffälligkeiten; dagegen seien die Familienschwierigkeiten durch den überwiegenden Teil der Zeugen bestätigt worden. Die Familienschwierigkeiten im Zusammenhang mit der endogenen Depression hätten die freie Willensbestimmung beeinträchtigt und schließlich zur Selbsttötung geführt. Die Mißhandlung in der Gefangenschaft, die weitere Kriegsgefangenschaft und die Heimkehr spielten demgegenüber eine untergeordnete Rolle.

Die Klägerin beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Unstreitig sei, daß der Ehemann der Klägerin sich in einem Zustand erheblicher Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung getötet habe. Das LSG sei berechtigt gewesen, in der Mißhandlung und der Kriegsgefangenschaft eine wesentliche Schädigung zu sehen. Es habe sich dabei auf nervenfachärztliche Gutachten stützen können.

Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 164 Abs. 1 SGG). Sie ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist indes nicht begründet.

Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das LSG hat sich von dem Gutachten eines Teils der Sachverständigen überzeugen lassen, welche den ursächlichen Zusammenhang zwischen Kriegsgefangenschaft und Depression für wahrscheinlich gehalten haben. Aus diesem Grund konnte auch das LSG den Zusammenhang für wahrscheinlich halten, ohne hierbei § 1 Abs. 3 BVG zu verletzen.

Das LSG hat das Gesamtergebnis des Verfahrens auch insofern für seine Überzeugungsbildung herangezogen, als es den Umstand nicht besonders erwähnt hat, daß der Ehemann der Klägerin nach seiner Heimkehr zunächst ordentlich und unauffällig landwirtschaftlich gearbeitet und nach den vom LSG nicht übernommenen Angaben seiner Ehefrau erst in den letzten Wochen jegliches Interesse an der Arbeit verloren hat. Der Sachverständige Medizinalrat Dr. R hat zwar dem Fehlen von Eingliederungsschwierigkeiten in den ersten Monaten nach der Heimkehr keine Bedeutung beigemessen (Gutachten vom 27. März 1958), wobei nicht ersichtlich ist, ob er diesen Umstand übersehen oder für belanglos gehalten hat. Der Sachverständige Dr. R (Gutachten vom 9. November 1960) führte aber in dieser Richtung positiv aus, daß die über Jahre sich hinziehenden Phasen einer Depression keine Seltenheit seien und daß vorübergehende Aufhellungsphasen häufig im Ergebnis ohne Einfluß auf die Kontinuität der Depression seien. Dieses Gutachten hat somit die Frage der Nachhaltigkeit der seit Weihnachten 1944 bestehenden Depression bis zur Selbsttötung behandelt, so daß dem LSG nicht der Vorwurf gemacht werden kann, daß es insoweit einen wesentlichen Teil des Sachverhalts übergangen hätte. Denn das LSG ist nicht genötigt, sich mit jedem einzelnen Vorbringen eines Beteiligten oder mit jedem Teil des Prozeßstoffes selbst auseinanderzusetzen; es genügt, wenn der als Richtergehilfe tätige Sachverständige zu dem streitigen Teil des Sachverhalts Stellung genommen hat. Das LSG durfte mithin die Frage einer Aufhellung der Depression in den ersten drei Monaten der Heimkehr mit dem Gutachter Dr. R als geklärt ansehen. Es hat auch die Gründe dafür angegeben, weshalb es diesem Gutachten gegenüber den anderen Sachverständigen-Gutachten den Vorzug gegeben hat (BSG 1, 91). Das Gericht, das die Beweise frei würdigen kann, vermag bei abweichenden medizinischen Auffassungen selbst zu bestimmen, von welchen der mehreren ärztlichen Gutachten es sich überzeugen läßt. Da mehrere im wesentlichen übereinstimmende Ansichten der gehörten Ärzte die Zusammenhangsfrage in medizinischer Hinsicht bejaht haben, war das LSG nicht genötigt, weitere Beweise zu erheben. Es brauchte auch nicht die schon gehörten Ärzte von dem Ergebnis der Zeugenaussagen im Berufungsverfahren zu unterrichten, da sich der Sachverhalt hierdurch nur in nebensächlichen Punkten geändert hat.

Wenn auch der Zeuge B nur bis zum 19. Januar 1945 im französischen Lager des Ehemannes der Klägerin war, so konnte sich gleichwohl das LSG entgegen der Ansicht der Revision auf diese Zeugenaussage stützen, weil diese Aussage von dem Zeugen R (Aussage vom 11. September 1961) bestätigt worden ist und auch andere Zeugenaussagen mit der von der Revision bezweifelten Schilderung des Sachverhalts übereinstimmen.

Im übrigen hat die Revision bei ihren Beanstandungen Tatsachen und Beweismittel nicht so deutlich bezeichnet, daß sie der Form des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechen; die Ausführungen der Revision lassen keinen Mangel der Beweiswürdigung erkennen. Es ist daher nicht ersichtlich, warum das LSG den Sachverständigen, von denen es sich hatte überzeugen lassen, nicht hätte folgen dürfen. Jedenfalls hat der Beklagte die Verletzung eines Erfahrungssatzes oder eines Denkfehlers in einem ärztlichen Gutachten nicht gerügt. Seine Rügen greifen mithin im Ergebnis nicht durch.

Schließlich greift die Revision die Anwendung der für das Recht des LVG (des Landes Rheinland-Pfalz) und das Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm (§ 1 BVG) durch das LSG an. Nach dieser Kausalitätsnorm ist Ursache im Rechtssinne nur die Bedingung, welche wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg nach der natürlichen Betrachtung wesentlich zum Eintritt des Erfolges, vorliegend zu der bis zur Selbsttötung andauernden Depression, mitgewirkt haben.

Es ist nicht streitig, daß die Depression des Klägers zur Selbsttötung geführt hat. Die Revision greift lediglich das vorhergehende Glied in der Kausalreihe an, also den Zusammenhang zwischen den schädigenden Vorgängen der Kriegsgefangenschaft (Mißhandlung und Festhaltung ohne psychiatrische Betreuung) und der zur Zeit der Tat noch andauernden pathologischen Depression, welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen hat. Streitig ist daher nur, ob unter den näheren Bedingungen, welche zur Selbsttötung geführt haben, die dem Wehrdienst (Mißhandlung und Kriegsgefangenschaft) zuzurechnenden Einflüsse wesentlich zu dem Zustand der Depression beigetragen haben. Inwieweit derartige Einflüsse noch im Zeitpunkt der Selbsttötung entscheidend wirksam waren, ist zwar eine Rechtsfrage im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm. Das Gericht vermag diese Rechtsfrage bei einem Fall der Selbsttötung aber nur mit Hilfe von nervenfachärztlichen Sachverständigen zu beantworten. Da es hiernach die Zusammenhangsfrage nicht auf Grund eigener Erkenntnis lösen kann, verbleibt ihm nur die Möglichkeit, der Auffassung einer der gehörten Sachverständigengruppe zu folgen. Diese haben die einzelnen Faktoren untersucht, die zur Depression des Verstorbenen, in der es zur Selbsttötung kam, beigetragen haben. Sie haben weiter die Faktoren in ihrem Wirksamkeitsgrad gewertet. Derartige Untersuchungen fallen noch in den Aufgabenbereich der ärztlichen Lehre von den Krankheitsursachen. In der Bewertung der Wirksamkeit der einzelnen ursächlichen Faktoren kann das Revisionsgericht grundsätzlich die Entscheidung des LSG voll inhaltlich nachprüfen. Vorliegend sind die tatsächlichen Feststellungen aber nicht mit Erfolg angegriffen; deshalb muß auch das Revisionsgericht von der medizinischen Auffassung der Sachverständigen ausgehen, denen das LSG gefolgt ist. Diese Sachverständigen haben eindeutig die Zusammenhangsfrage in naturwissenschaftlichem Sinne bejaht. Da keine rechtlichen Besonderheiten feststellbar sind, welche zu einer Abweichung von diesem Sachverständigenurteil zwingen, muß das Revisionsgericht die rechtliche Zusammenhangsfrage im gleichen Sinne beantworten. Die Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs ergibt vorliegend, daß Ursache im Rechtssinne die Mißhandlung des Ehemannes der Klägerin um Weihnachten 1944 und die Belastungen der Gefangenschaft sind, welche wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben, während bei der Persönlichkeit des Ehemannes der Klägerin die endogenen Faktoren und die auf die Familie bezogenen exogenen Faktoren als nebensächlich zu bewerten sind (vgl. BSG 1, 151; 11, 50 f; Wilke in BVBl 1953, S. 75). Die Entscheidung des LSG, daß die Mißhandlung und die anhaltende Gefangenschaft den Ehemann der Klägerin wesensmäßig umgewandelt, also “deprimiert„ haben und dieser Zustand bis zur Selbsttötung - unmittelbar nach der Gefangenschaft - verdeckt angedauert hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Mithin hat das LSG ohne Rechtsirrtum die für die Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm (vgl. Haueisen BArBl 1962, 1016 ff) angewandt. Die Revision des Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben; sie war somit als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2603773

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