Entscheidungsstichwort (Thema)

Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand. Vorstufe des Todes

 

Orientierungssatz

Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor der Erkrankung kann nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn außer dem engen ursächlichen auch ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Krankheit und Tod ("Vorstufe des Todes") bestand. Dabei gibt es keine feste zeitliche Grenze. Der Zeitraum zwischen Beginn der Erkrankung und dem Tod kann je nach den Umständen des Einzelfalles größer oder weniger groß sein, insbesondere wenn schon bei Beginn der Erkrankung ihre Unheilbarkeit und der baldige Tod voraussehbar waren.

 

Normenkette

RVO § 1266 Abs 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 20.11.1980; Aktenzeichen L 6 J 833/78)

SG Kassel (Entscheidung vom 27.07.1978; Aktenzeichen S 1 J 111/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Witwerrente nach § 1266 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung seiner am 8. September 1976 verstorbenen Ehefrau zusteht.

Die Ehefrau des Klägers, die bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von 1.200,-- DM in einem Beschäftigungsverhältnis stand, erkrankte am 24. August 1975. Nach Wegfall der Lohnfortzahlung erhielt sie für die Zeit vom 5. Oktober 1975 bis zum 2. Juli 1976 Krankengeld in Höhe von insgesamt 10.930,82 DM, bis einschließlich 21. Februar 1976 einen Zuschuß zum Krankengeld in Höhe von insgesamt 341,72 DM netto, im Monat Juni 1976 eine Urlaubsabgeltung in Höhe von 983,76 DM netto und im Monat Juli 1976 eine anteilige Weihnachtszuwendung in Höhe von 272,17 DM netto. Die Beklagte gewährte ihr mit Bescheid vom 19. Juni 1976 die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Januar 1976 in Höhe von monatlich 380,60 DM, die vom 1. Juli 1976 an monatlich 422,50 DM betrug. Die bis zum 2. Juli 1976 aufgelaufene Rente wurde nicht an die Ehefrau des Klägers ausgezahlt, sondern wegen des gezahlten Krankengeldes von der Krankenkasse in Anspruch genommen. Der Kläger bezieht seit dem 11. März 1974 das Altersruhegeld, das seit dem 1. Juli 1976 monatlich 835,70 DM betrug. Daneben erhielt er vom 1. Juli 1975 an eine Versorgungsrente in Höhe von monatlich 207,-- DM.

Die Beklagte lehnte den am 14. Januar 1977 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung der Witwerrente mit Bescheid vom 6. Mai 1977 ab, weil die Ehefrau des Klägers den Familienunterhalt nicht überwiegend bestritten habe. Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 20. November 1980 unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils vom 27. Juli 1978 sowie des Bescheides der Beklagten vom 6. Mai 1977 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Witwerrente aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau vom 1. Oktober 1976 an zu gewähren. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Ehefrau des Klägers habe in der entscheidenden Zeit vor dem Tode den Familienunterhalt überwiegend bestritten. Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand sei die Zeit vom 5. Oktober 1975 bis zum 2. Juli 1976. In diesem Zeitraum habe sich das Leiden der Versicherten endgültig und jedenfalls für die überschaubare nächste Zukunft manifestiert. Der fast neun Monate dauernde Bezug des Krankengeldes habe den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand bestimmt. Unerheblich sei dabei, daß der Versicherten vom 1. Januar 1976 an kein Krankengeld mehr zugestanden habe, weil ihr für diesen Zeitraum später die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugebilligt worden sei. Effektiv habe das Krankengeld, das nicht habe zurückgefordert werden können, dem Unterhalt der Familie zur Verfügung gestanden. Die letzten vier Monate vor dem Tode seien als vorübergehender Zustand außer Betracht zu lassen. Das Nettoeinkommen der Versicherten sei viel höher gewesen als die Rente des Klägers. Zwar sei außerdem die Haushaltsführung als Unterhaltsleistung zu berücksichtigen. Da die Eheleute jedoch in gleichem Maße zur Haushaltsführung beigetragen hätten, ändere sich dadurch an dem überwiegenden Beitrag der Versicherten zum Familienhaushalt nichts.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat durch Beschluß zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, nach § 1266 Abs 1 RVO müsse die Versicherte den Familienunterhalt während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor ihrem Tode überwiegend bestritten haben. Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand, der ohne den Tod voraussichtlich fortbestanden hätte, sei die Zeit des Bezuges der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit der Zubilligung dieser Rente sei der vorherige wirtschaftliche Zustand des Bezuges des Krankengeldes dauerhaft verändert worden. Da die Rente der Versicherten geringer gewesen sei als die des Klägers, sei der Familienunterhalt von der Versicherten nicht überwiegend bestritten worden.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. Juli 1978 zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen nach § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Nach § 1266 Abs 1 RVO, der noch geltendes Recht ist, (vgl BVerfGE 39, 169 = SozR 2200 § 1266 Nr 2), erhält der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau die Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Dabei kommt es für die Frage des überwiegenden Unterhalts nicht unbedingt auf den genauen Zeitpunkt des Todes, sondern auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode der Versicherten an. Vorübergehende wirtschaftliche Zustände, die für den Familienunterhalt über den Tod der Versicherten hinaus nicht bestimmend gewesen wären, müssen außer Betracht bleiben. Das Berufungsgericht hat jedoch die letzten vier Monate vor dem Tode der Ehefrau des Klägers zu Unrecht als vorübergehenden Zustand unberücksichtigt gelassen. Für die Frage, ob ein wirtschaftlicher Zustand dauerhaft oder nur vorübergehender Natur ist, kommt es nicht darauf an, wie lange er effektiv bestanden hat. Entscheidend ist vielmehr, ob der Zustand seinem Wesen nach zeitlich begrenzt und sein Ende voraussehbar ist oder ob er ohne den Tod der Versicherten voraussichtlich weiterbestanden und den Familienunterhalt mitbestimmt hätte. Das folgt aus dem Wesen der Witwerrente, die Unterhaltsfunktion hat und an die Unterhaltssituation anknüpft, die vor dem Tode der Versicherten bestanden hat und voraussichtlich weiter bestanden hätte. Auch wenn ein wirtschaftlicher Zustand vor dem Tode der Versicherten nur sehr kurze Zeit bestanden hat, kann er der letzte wirtschaftliche Dauerzustand sein, wenn er seiner Natur nach auf Dauer angelegt und sein Ende nicht absehbar war (vgl hierzu Urteil des BSG vom 27. April 1982 - 1 RJ 134/80 -).

In diesem Sinne hat es sich bei den letzten vier Monaten vor dem Tode der Ehefrau des Klägers um einen Dauerzustand gehandelt, denn die vorher bestehende wirtschaftliche Situation war dauerhaft beendet und durch den Bezug der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf unabsehbare Zeit abgelöst worden (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1266 Nr 9).

Dieser letzte wirtschaftliche Dauerzustand kann nach der Rechtsprechung des BSG nur dann aus Billigkeitsgründen unberücksichtigt bleiben, wenn er durch eine Krankheit geprägt worden ist, die alsbald zum Tod geführt hat und sozusagen die "Vorstufe des Todes" war (vgl hierzu BSG SozR Nr 13 zu § 1266 RVO). Dabei kann es von wesentlicher Bedeutung sein, wie sich der ursächliche und zeitliche Zusammenhang zwischen Krankheit und Tod jeweils darstellen. Ist der ursächliche Zusammenhang besonders deutlich und der zeitliche Zusammenhang eng, dh ist von der ersten Auswirkung der Krankheit bis zum Eintritt des Todes nur eine verhältnismäßig kurze Zeit vergangen, dann ist es angezeigt, die Krankheitszeit unberücksichtigt zu lassen, zumal wenn so ein wirtschaftlicher Dauerzustand zugrunde gelegt wird, der sich nicht allzuweit vom Zeitpunkt des Todes entfernt. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor der Erkrankung bleibt für die Frage der Hinterbliebenenrente nach § 1266, § 1265 RVO maßgebend, wenn die ihn bestimmende Erwerbsfähigkeit des oder der Versicherten durch eine alsbald zum Tode führende Erkrankung gemindert worden ist. Es kann nicht entscheidend sein, ob der Tod der Versicherten plötzlich oder erst nach einer die wirtschaftliche Situation verschlechternden Krankheit innerhalb kurzer Zeit eintritt.

Das Berufungsurteil enthält keine Feststellungen zu der Frage, ob die Ehefrau des Klägers an der im August 1975 festgestellten Krankheit gestorben ist. Auch wenn dies nach den Umständen naheliegt, kann das Revisionsgericht diese erforderliche Tatsachenfeststellung nicht selbst treffen. Das LSG wird daher festzustellen haben, ob es sich bei der im August 1975 festgestellten Krankheit um eine "Vorstufe des Todes" gehandelt hat, ob also der Tod in besonders enger ursächlicher Beziehung zu dieser Krankheit gestanden hat. Nach der zitierten Entscheidung des BSG kann der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor der Erkrankung zwar nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn außer dem engen ursächlichen auch ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Krankheit und Tod bestand. Dabei gibt es keine feste zeitliche Grenze. Der Zeitraum zwischen Beginn der Erkrankung und dem Tod kann je nach den Umständen des Einzelfalles größer oder weniger groß sein, insbesondere wenn schon bei Beginn der Erkrankung ihre Unheilbarkeit und der baldige Tod voraussehbar waren. Im vorliegenden Fall könnte bei einem engen ursächlichen Zusammenhang der enge zeitliche Zusammenhang durchaus noch bejaht werden, obwohl zwischen der Feststellung der Erkrankung und dem Tod ungefähr ein Jahr vergangen ist. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die wirtschaftliche Lage der Familie sich durch die Erkrankung zunächst nicht wesentlich verändert hat und erst vier Monate vor dem Tode der Versicherten durch die Einstellung der Krankengeldzahlung so ungünstig geworden ist, daß die Versicherte den Familienunterhalt nicht mehr überwiegend bestreiten konnte. Dieser Umstand kann es durchaus rechtfertigen, bei einem engen ursächlichen Zusammenhang auch den erforderlichen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tod zu bejahen.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660607

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