Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopfer. Tatbeitrag. Ehebruch. Mitverursachung. annähernd gleichwertige Bedingung. Leistungsausschluß. Versagung wegen Unbilligkeit
Leitsatz (amtlich)
Zum Leistungsausschluß wegen Mitverursachung im Recht der Gewaltopferentschädigung, wenn das Opfer bei einem Ehebruch mit der Ehefrau des Täters auf der Stelle getötet wird.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
OEG § 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 1; StGB §§ 212-213, 185; OEG § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.01.1994; Aktenzeichen L 8 Vg 1065/92) |
SG Stuttgart (Urteil vom 26.03.1992; Aktenzeichen S 13 Vg 2284/91) |
Tenor
Auf die Revisionen der Kläger werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Januar 1994 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. März 1992 sowie die Bescheide des Beklagten vom 9. Oktober 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 1991 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin zu 1. verlangt als Witwe, der Kläger zu 2. als Sohn des am 18. September 1988 getöteten Rolf R. Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
R. R. und A. … W. wurden von dem Ehemann der A. … W., H. … -P. W., erstochen, als sie im Ehebett der Eheleute W. schliefen. Der Täter wurde wegen Totschlags in zwei Fällen nach §§ 212, 213 Strafgesetzbuch (StGB), begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Strafkammer hat einen minderschweren Fall des Totschlags nach der 1. Alternative des § 213 StGB angenommen, weil der Täter von den Opfern schwer gekränkt und beleidigt und dadurch unmittelbar zu seiner Tat veranlaßt worden war.
Nach den strafgerichtlichen Feststellungen, denen sich das LSG in vollem Umfang angeschlossen hat, trafen am Vorabend des Tattages, an dem sich ihr Hochzeitstag zum ersten Mal jährte, A. … und H. … -P. W. in einer Gaststätte auf den ihnen seit längerer Zeit bekannten R. R., der schon seit längerer Zeit intime Beziehungen zu A. … W. aufnehmen wollte. Die Männer gerieten in Streit miteinander, ohne daß es zu körperlichen Auseinandersetzungen kam. H. … -P. W. kehrte allein nach Hause zurück. Am folgenden Morgen um 4.00 Uhr betraten A. … W. und R. R. die Wohnung und trafen dort auf H. … -P. W. Seiner von der Strafkammer als glaubhaft gewerteten Einlassung nach versuchten sie, ihn „hinauszuekeln”, und küßten sich vor ihm. Schließlich gegen 16.00 Uhr aus der Wohnung verdrängt rief H. … -P. W. die Polizei zur Hilfe, die auch erschien, ihm nach einem Gespräch mit A. … W. aber abriet, in die Wohnung zurückzukehren. Als H. … -P. W. einige Zeit später die Wohnung wieder betrat, fand er die späteren Opfer engumschlungen nackt im Ehebett liegend. Auf die Frage nach dem Warum schob R. R. – wiederum nach der Einlassung des Täters, die die Strafkammer als glaubhaft angesehen hat – in einer obszöne Geste sein Knie zwischen die Oberschenkel der A. … W. H. … -P. W. verließ die Wohnung und rief telefonisch erneut bei der Polizei um Hilfe. Diese erschien jedoch – entgegen dem von H. … -P. W. verstandenen Versprechen – nicht. H. … -P. W. ging nunmehr in die Wohnung zurück, sah die beiden – jetzt schlafend – nackt im Ehebett liegen, holte aus dem Wohnzimmer ein Messer und erstach damit zunächst R. R. und dann A. … W.
Der Beklagte lehnte es ab, die im Oktober 1988 beantragte Hinterbliebenenversorgung zu gewähren (Bescheide vom 9. Oktober 1989; Widerspruchsbescheid vom 6. August 1991), weil R. R. den Täter provoziert und dadurch seinen Tod mitverursacht habe, so daß eine Entschädigung nach § 2 Abs 1 OEG zu versagen sei. Aus diesen Gründen haben auch Klage und Berufung keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts vom 26. März 1992; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28. Januar 1994).
Mit der Revision rügen die Kläger Verfahrensfehler, insbesondere einen Verstoß gegen Beweisgrundsätze, indem sich das LSG ohne eigene Beweiswürdigung den Feststellungen des Strafgerichts angeschlossen habe, welches nach dem Grundsatz „in dubio pro reo” sich weitgehend auf die bloßen Angaben des Täters gestützt habe, soweit sie nicht zu widerlegen waren. Im Opferentschädigungsrecht sei dieser Beweisgrundsatz nicht anwendbar. Ferner rügen sie in materieller Hinsicht eine Verletzung des § 2 Abs 1 OEG.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Januar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. März 1992 sowie die Bescheide des Beklagten vom 9. Oktober 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 1991 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG wegen der Folgen der Gewalttat vom 18. September 1988 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen der Kläger sind begründet.
Der Beklagte und die Instanzgerichte haben zwar zutreffend angenommen, daß R. R. Opfer einer Gewalttat iS des § 1 Abs 1 OEG geworden ist. Sie haben aber zu Unrecht gemeint, den Hinterbliebenen des Opfers seien Leistungen nach § 2 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative OEG zu versagen, weil es seinen Tod mitverursacht habe. Weder liegt dieser Versagungsgrund vor, noch wäre es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig, seinen Hinterbliebenen Entschädigung zu gewähren (§ 2 Abs 1 Satz 1, 2. Alternative OEG).
Ein Versagungsgrund in der Person des Opfers schlösse allerdings auch dessen Hinterbliebene von Leistungen aus. Die Kläger müßten sich das Verhalten ihres unmittelbar geschädigten Ehemannes und Vaters entgegenhalten lassen, weil sie nur einen von dem Opfer der Gewalttat abgeleiteten Versorgungsanspruch haben (BSGE 49, 104, 106 f = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 57, 168, 169 = SozR 3800 § 2 Nr 5).
Das LSG hat zu Recht von den Versagungsgründen des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG zunächst den der Mitverursachung (1. Alternative) geprüft (vgl zur Prüfungsreihenfolge BSG SozR 3800 § 2 Nr 4 S 30), denn dabei handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit (2. Alternative), der abschließend regelt, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (BSGE 66, 115, 117 f = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 77, 18). Der Ansicht des SG, R. R. sei durch Provokation in etwa gleichwertig mit dem Täter an seinem eigenen Totschlag beteiligt gewesen, weil es ohne sein provozierendes Verhalten nicht zu der schädigenden Handlung gekommen wäre, ist jedoch nicht zu folgen.
R. R. war zwar durch sein von der Strafkammer als schwere Kränkung und Beleidigung des Täters gewertetes Verhalten in rechtlich zurechenbarer Weise an der Tat beteiligt, obwohl er handlungsunfähig im Schlaf getötet wurde. Sein Verhalten war im logisch-naturwissenschaftlichen Sinn mitursächlich, denn erst durch den Anblick der schlafenden, nackt zusammen im Ehebett liegenden Opfer war H. … -P. W., „zum Zorne gereizt” und „auf der Stelle zur Tat hingerissen worden” (§ 213 StGB). Dieses Geschehen hatte R. R. zurechenbar bereits vor dem Einschlafen, also noch im Zustand der Handlungsfähigkeit in Gang gesetzt (vgl zur Figur der actio libera in causa bezüglich der Handlungsfähigkeit: Lenckner in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Aufl 1991, § 20 Rz 34). Der Tatbeitrag des Opfers erreichte aber – anders als vom LSG angenommen – nicht das erforderliche Maß der Mitverursachung. Dazu hätte der Tatbeitrag nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie nicht nur ein nicht hinwegzudenkender Teil der Ursachenkette, sondern wesentlich, dh annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers sein müssen (BSGE 49, 104, 105 f = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 50, 95, 96 = SozR 3800 § 2 Nr 2; BSGE 52, 281, 283, 284 = SozR 3800 § 2 Nr 3). Für den Tod des R. R. hatte dessen „Provokation” nicht in etwa die gleiche Bedeutung wie das Verhalten des Täters.
Eine „Provokation” des Täters durch das Opfer kann zwar einen Entschädigungsanspruch ausschließen, wenn das Opfer die Schädigung bewußt angestrebt oder billigend in Kauf genommen oder sich zumindest leichtfertig in die Gefahr einer solchen Schädigung begeben hat. Das ist in der Rechtsprechung des BSG in Fällen einer vorsätzlichen Tötung bislang nur für die zuletzt genannte Form der Beteiligung zu erörtern gewesen (vgl BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr 1). Eine Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) wird aber Ansprüche der Hinterbliebenen ausschließen, obwohl das Strafrecht nur das Verhalten des Täters und nicht auch das des Opfers unter Strafandrohung stellt. Hier fällt ins Gewicht, daß selbst dann, wenn sich das Opfer des Täters nicht als eines bloßen Werkzeuges bedient, sein Tatbeitrag einem „Anstifter” mindestens vergleichbar ist und nur aus kriminalpolitischen Gründen ebenso wie der Selbstmord straflos bleibt. Zu Fällen einer Körperverletzung mit Todesfolge und einer schweren Körperverletzung hat das BSG Entschädigungsansprüche verneint, wenn der Getötete oder Verletzte einer ständigen Gefahr zum Opfer gefallen ist, aus der er sich bei einem Mindestmaß an Selbstverantwortung selbst hätte befreien können (BSGE 57, 168 = SozR 3800 § 2 Nr 5) oder wenn er sich bewußt der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt hat (BSGE 77, 18). Bei einer einfachen Körperverletzung hat es eine vorausgegangene Beleidigung als Leistungsausschließungsgrund angesehen, weil der Verletzte mit dieser Reaktion nach alltäglicher Erfahrung habe rechnen müssen (BSG SozR 3800 § 2 Nr 4). Die Anwendung dieses Rechtsgedankens auf den vorliegenden Fall führt nicht dazu, den Hinterbliebenen Leistungen zu versagen. R. R. hat sich durch sein Verhalten möglicherweise leichtfertig in die Gefahr der Körperverletzung begeben, indem er dem Täter durch die Art und Weise des von ihm begangenen Ehebruchs demütigte, zumal jener wegen Körperverletzung einschlägig vorbestraft war. Das bedeutet aber nicht, daß er auch mit einer Tötungshandlung des H. … -P. W. zu rechnen hatte, der er sich bewußt oder zumindest grob fahrlässig (leichtfertig) ausgesetzt hat. Tötungshandlungen sind nach deutschem Strafrecht unter besonders schwere Strafandrohung gestellt; das gilt – im Unterschied zu anderen Kulturkreisen – auch dann, wenn sie als Reaktion auf einen Ehebruch „in flagranti” erfolgen. Die natürliche Hemmschwelle vor Tötungsakten liegt im Vergleich zur Körperverletzung bei einem geistig gesunden Menschen auch unabhängig von der Strafandrohung deutlich höher, selbst wenn berücksichtigt wird, daß bei Affekthandlungen bewußte Überlegungen oft keine Rolle mehr spielen. Auch derjenige, der einen anderen schwer beleidigt, muß nicht damit rechnen, daß er damit sein Leben aufs Spiel setzt.
Dies gilt auch für R. R., ohne daß es hier darauf ankommt, ob das LSG die Feststellungen zu Einzelheiten des der Tat vorausgegangenen Geschehensablaufs, bei denen es dem Strafurteil gefolgt ist, verfahrensfehlerfrei getroffen hat. Selbst wenn unterstellt wird, daß R. R. den Täter zusätzlich durch eine besonders obszöne Geste gedemütigt hat, folgt daraus nicht, daß er deswegen mit einem Anschlag auf sein Leben hätte rechnen müssen, zumal H. … -P. W. dies nicht zum Anlaß genommen hat, gegen R. R. in irgendeiner Weise tätlich vorzugehen. Daß sich R. R. durch den Schlaf bei unverschlossener Tür anschließend wehrlos dem Angriff von H. … -P. W. aussetzte, mag möglicherweise im Hinblick auf voraussehbare Körperverletzungen fahrlässig gewesen sein, nicht aber im Hinblick auf den tatsächlichen Geschehensablauf, der nicht nur für R. R., sondern auch für A. … W., die ihren Ehemann trotz kurzer Ehedauer hinreichend kannte, völlig überraschend gekommen sein muß. Selbst wenn alle zugunsten des Täters vom Strafgericht festgestellten und vom LSG übernommenen Tatsachen als zutreffend unterstellt werden, mußte es sich R. R. nicht geradezu aufdrängen, daß er sich durch sein Verhalten in Lebensgefahr brachte. Deshalb kann mit einer leicht zu vermeidenden, offenbaren Selbstgefährdung die Versagung von Gewaltopferentschädigung nicht begründet werden.
Neben einer vermeidbaren Selbstgefährdung, die als solche strafrechtlich nicht mißbilligt zu sein braucht (vgl BSGE 77, 18 – Aidsinfektion –), kommt als anspruchsausschließender Umstand auch in Betracht, daß das Opfer bei seinem Ursachenbeitrag sich in ähnlich schwerer Weise gegen die Rechtsordnung vergangen hat, wie der vorsätzlich handelnde Gewalttäter. So kann bei gewaltsamen Auseinandersetzungen unter Straftätern (vgl BSGE 72, 136 = SozR 3-3800 § 2 Nr 2 – Drogenmilieu) Entschädigung zu versagen sein, wenn sich das Opfer bewußt außerhalb der staatlichen Gemeinschaft gestellt hat und dabei einer damit verbundenen Gefahr erlegen ist, sei es in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis (vgl Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG, BT-Drucks 7/2506 S 7). Von einem bewußten Verlassen der Rechtsgemeinschaft kann aber noch nicht bei jeder vorsätzlichen Straftat die Rede sein. Es muß sich um gewohnheitsmäßige, zumindest aber wiederholte schwere Rechtsverstöße handeln, wie sie für eine Bande oder kriminelle Vereinigung typisch sind; jedenfalls muß sich das Opfer in einem Kreis bewegt haben, der als kriminelles Umfeld bezeichnet werden kann, weil Straftaten jeder Art an der Tagesordnung sind (vgl BSGE 49, 104, 110 = SozR 3800 § 2 Nr 1 und BSGE 52, 281, 187 = SozR 3800 § 2 Nr 3). Ein nach dem Moralempfinden der Mehrheit der Bevölkerung unsittlicher Lebenswandel reicht allein zur Versagung einer Entschädigung für eine erlittene Gewalttat nicht aus.
Auch nach diesen Kriterien können den Hinterbliebenen von R. R. Leistungen nicht versagt werden. Zwar hat sich dieser im Zusammenhang mit der Gewalttat ebenfalls strafbar gemacht, wenn auch nicht wegen des Ehebruchs als solchen, sondern wegen der damit verbundenen Beleidigung (§ 185 StGB), die freilich nur auf Antrag zu verfolgen ist (§ 194 Abs 1 Satz 1 StGB) sowie möglicherweise im Hinblick auf die Mitausübung des Hausrechts durch H. … -P. W. auch noch wegen Hausfriedensbruches (§ 123 StGB), der ebenfalls Antragsdelikt ist (§ 123 Abs 2 StGB). Damit hat er sich aber nicht in dem oben erläuterten Sinn aus der staatlichen Gemeinschaft, die jedem Bürger – auch dem straffälligen – Schutz bietet, bewußt entfernt. Er hat sich auch nicht in einem kriminellen Milieu bewegt; sein Verhalten dürfte lediglich – über den strafrechtlichen Aspekt hinaus – von der Mehrheit der Rechtsgemeinschaft als sittlich verwerflich angesehen werden.
Selbst wenn man aber auch einmalige Rechtsverstöße des Opfers im Einzelfall als hinreichenden Grund ansehen könnte, staatliche Leistungen zu versagen, so müßten diese Rechtsverstöße in ihrer Schwere jedenfalls so geartet sein, daß sie dem Unrecht von Seiten des Gewalttäters annähernd gleichwertig sind. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Urteil des LSG nicht aufrechtzuerhalten. Die Bewertung der beiderseitigen Tatbeiträge ist für den vorliegenden Fall im Strafrecht vorgezeichnet. Daran läßt sich für das Recht der Opferentschädigung anknüpfen. Der Gesetzgeber hat in verschiedenen Straftatbeständen berücksichtigt, daß das Opfer einer Beleidigung darauf mit einer Straftat gegen den Beleidiger antworten kann. In § 199 StGB ermächtigt der Gesetzgeber den Richter, bei gegenseitigen Beleidigungen einen oder beide Täter für straffrei zu erklären. Nach § 233 StGB kann das Gericht von Strafe für einen Angeschuldigten oder für beide ua dann absehen, wenn eine Beleidigung mit einer Körperverletzung erwidert wird. Danach sind wechselseitige Beleidigungen oder Körperverletzungen der Kompensation zugänglich. Ganz anders als Körperverletzungen oder Gegenbeleidigungen bewertet der Gesetzgeber den Totschlag als Reaktion auf eine Beleidigung. Der motivationspsychologische Zusammenhang zwischen Opferverhalten und Affektauslösung beim Täter führt lediglich zu einer Strafmilderung: An die Stelle einer mindestens fünfjährigen Freiheitsstrafe (§ 212 Abs 1 StGB) tritt eine solche von sechs Monaten bis zu fünf Jahren (§ 213 StGB). Der Totschlag bleibt aber auch in seiner minderschweren Form nach § 213 StGB Verbrechen (§ 12 Abs 3 StGB). Ihm stehen im vorliegenden Fall mit der vom Opfer verübten Straftaten ein nur auf Antrag verfolgbares Vergehen mit Androhung einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe gegenüber. Die beiderseitigen Tatbeiträge haben danach auch nicht annähernd die gleiche Bedeutung, sondern ein zu Lasten des Täterverhaltens fundamental unterschiedliches Gewicht.
Der Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung ist auch nicht nach § 2 Abs 1 Satz 1, 2. Alternative OEG wegen Unbilligkeit zu versagen. Dieser Versagungsgrund liegt vor, wenn es nicht wegen einer die Schwelle der Mitverursachung erreichenden Tatbeteiligung des Opfers, sondern aus sonstigen, insbesondere in seinem eigenen Verhalten liegenden Gründen, unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (BSGE 58, 214, 216 = SozR 3800 § 2 Nr 6; BSGE 72, 136, 137 = SozR 3-3800 § 2 Nr 2). Hat der Tatbeitrag des Opfers – wie hier – die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, so kann er im Rahmen der 2. Alternative nicht allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen Gründen zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen (BSGE 66, 115, 117 f = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 77, 18, 20 – Aidsinfektion –). Solche zusätzlichen Gründe liegen hier nicht vor; das gesamte relevante Verhalten des R. R. steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gewalttat und ist damit erschöpfend berücksichtigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 1175023 |
BSGE 79, 87 |
BSGE, 87 |
NJW 1997, 965 |
MDR 1997, 375 |
SozR 3-3800 § 2, Nr. 5 |
Breith. 1997, 467 |
SozSi 1997, 359 |