Leitsatz (amtlich)

Der Gesetzgeber hat in AVAVG § 150 Abs 4 alle Leistungen, Unterstützungen und Zuwendungen, die nicht als Einkommen gelten, abschließend geregelt.

Ein gemäß LStDV § 25b Abs 1 zugebilligter Steuerfreibetrag für Vertriebene und Flüchtlinge ist im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nach AVAVG § 150 nicht vom Einkommen absetzbar.

 

Normenkette

AVAVG § 150 Abs. 4 Nr. 6 Fassung: 1959-12-07; LStDV § 25b Abs. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. Mai 1964 aufgehoben.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 11. Juli 1962 dahin abgeändert, daß die Klage in vollem Umfange abgewiesen wird.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die 1929 geborene Klägerin war von 1948 bis 1954 sowie von 1956 bis 1958 als Lohnbuchhalterin im polnisch besetzten Gebiet beschäftigt und ist im Jahre 1958 (zusammen mit ihrem jetzt geschiedenen Ehemann und drei Kindern) ausgesiedelt worden. Als sie sich im Bundesgebiet arbeitslos gemeldet hatte, bezog sie zunächst Arbeitslosengeld und später Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe. Nach Abschluß ihrer Ausbildung auf einer Staatlichen Hebammenlehranstalt verzog die Klägerin im April 1960 nach S. Sie wohnt seitdem in der Wohnung ihrer ebenfalls ausgesiedelten Eltern, die ihre drei Kinder schon während der Dauer des Hebammenlehrgangs bei sich aufgenommen hatten. Seit dem 12. September 1960 ist die Klägerin als Hebamme in einem Krankenhaus angestellt.

Am 12. April 1960 meldete sich die Klägerin beim Arbeitsamt (ArbA) S arbeitslos und beantragte Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe (Alhi). Das ArbA lehnte durch Bescheid vom 6. Mai 1960 diesen Antrag mit Rücksicht auf das anzurechnende Einkommen ihres Vaters, der als kaufmännischer Angestellter tätig ist, ab, weil sie im Sinne der §§ 149, 150 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht bedürftig sei.

Der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Auf Klage hin änderte das Sozialgericht (SG) - Urteil vom 11. Juli 1962 - den Bescheid und den Widerspruchsbescheid ab und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 12. April bis 14. Juli 1960 und vom 1. bis 10. September 1960 Unterstützung aus der Alhi in Höhe von 2,90 DM wöchentlich zu gewähren. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen. Bei der Anrechnung des Einkommens auf die Unterstützung aus der Alhi müsse der dem Vater der Klägerin nach § 25 b Abs. 1 der Lohnsteuerdurchführungsverordnung (LStDV) zugebilligte Flüchtlings-Freibetrag von 720,- DM im Jahre 1960 (Sonderausgabe) bei der Bedürftigkeitsprüfung unberücksichtigt bleiben. Dieser Betrag, der zur Wiederbeschaffung von Hausrat bestimmt sei, habe die Funktion eines Entschädigungsbetrages. Deswegen sei eine entsprechende Behandlung im Recht der Arbeitslosenhilfe geboten und die Vorschrift des § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG sinngemäß anzuwenden.

Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung verwarf das Landessozialgericht (LSG) - Urteil vom 29. Mai 1964 - als unzulässig. Nach seiner Auffassung handele es sich im vorliegenden Fall um einen Streit über die Höhe der Leistungen, so daß die Berufung nach § 147 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zulässig sei. Die Voraussetzungen der allgemeinen Bedürftigkeit im Sinne des § 149 AVAVG seien niemals streitig gewesen. Die Frage der Anrechnung des Nettoeinkommens des Vaters der Klägerin bewege sich im Rahmen der besonderen Bedürftigkeitsprüfung des § 150 AVAVG. Allein hierüber werde gestritten.

Da das SG die Berufung nicht ausdrücklich zugelassen habe (§ 150 Nr. 1 SGG), stelle der allgemeine Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, die Berufung an das LSG sei zulässig, keine Zulassung des Rechtsmittels im Sinne der gesetzlichen Vorschriften dar.

Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte legte form- und fristgerecht Revision ein und beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Braunschweig vom 11. Juli 1962 die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, es liege kein Streit über die Höhe der Leistung vor. Werde die Anspruchsvoraussetzung der Bedürftigkeit deshalb verneint, weil das anzurechnende Einkommen den Unterstützungssatz übersteigt, dann sei nicht im Streit, ob eine Leistung in einer bestimmten Höhe zu gewähren ist, sondern, ob auf sie überhaupt ein Anspruch besteht. Unerheblich bleibe dabei, ob die Alhi nach § 149 oder § 150 AVAVG versagt werde; entscheidend sei allein, daß die Leistung als solche wegen fehlender Bedürftigkeit nicht gewährt worden sei. Dies entspreche auch dem Sinn der §§ 144 ff SGG, die nur echte "Bagatellfälle" von der Berufung ausschließen sollten. Ein derartiger Bagatellstreit liege aber dann nicht mehr vor, wenn die Gewährung der Leistung überhaupt streitig ist. Im übrigen knüpften sich an den Leistungsbezug nach dem AVAVG erhebliche Rechtsfolgen für den Arbeitslosen (z. B. Krankenversicherung, Unfallschutz, Zeitpunkt des Erlöschens des Anspruchs nach § 147 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG), so daß es nicht verständlich erscheine, die Zulässigkeit der Berufung davon abhängig zu machen, ob die Bedürftigkeit auf Grund der allgemeinen Bedürftigkeitsprüfung oder in Anwendung der Anrechnungsbestimmungen verneint worden ist.

Daneben sei die Revision aber auch materiell-rechtlich begründet. Der dem Vater zugestandene Freibetrag für Vertriebene in Höhe von 720,- DM sei zu Unrecht nach § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG abgesetzt worden. Dieser Steuer-Freibetrag stelle keine Leistung zum Ausgleich eines Schadens im Sinne dieser Vorschrift dar; vielmehr führe die Zubilligung des steuerlichen Freibetrages lediglich zur Einsparung von Lohnsteuer. Da auch die übrigen Vorschriften des § 150 Abs. 4 AVAVG keine Anwendung fänden, könne der Freibetrag bei der Ermittlung des nach § 150 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG zu berücksichtigenden Einkommens nicht abgesetzt werden.

Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Revisionsgericht nicht vertreten.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision, die form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet wurde, ist statthaft (§§ 164, 166 SGG). Zwar war die Klägerin vor dem BSG nicht nach der Vorschrift des § 166 SGG durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten. Das Gesetz kennt jedoch für den Revisionsbeklagten keine den § 169 Satz 1 SGG entsprechende Vorschrift. Er hat deshalb nur den Nachteil - soweit er nicht Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ist -, daß er persönlich vor der Revisionsinstanz nicht gehört werden kann. Für die Entscheidung genügt es, daß dem Revisionsbeklagten nach § 110 SGG Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung mitgeteilt wird (BSG 3, 106, 109; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGb, § 166, III, 82-1).

Entgegen der Auffassung des LSG wird in der anhängigen Streitsache die Berufung nicht durch § 147 SGG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe die Berufung nicht zulässig, soweit sie Beginn oder Höhe der Leistung betrifft. Hier streiten die Beteiligten indessen nicht über die Höhe der Alhi. Streitgegenstand ist der Anspruch auf diese Unterstützung überhaupt. Dabei ist sachlich, nicht lediglich dem Rechenwerk nach, darüber zu entscheiden, ob der dem Vater der Klägerin eingeräumte Steuer-Freibetrag im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung als Einkommen im Sinne des § 150 AVAVG gilt.

Die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen auf Unterstützung aus der Alhi sind im einzelnen in § 145 Abs. 1 AVAVG aufgeführt. Nach dessen Nr. 3 ist ua Grunderfordernis, daß der Arbeitslose "bedürftig" ist. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff der Bedürftigkeit erhält seinen Inhalt und seine nähere Bestimmung aus den Vorschriften der §§ 149, 150 AVAVG, die festlegen, wer im Sinne des § 145 AVAVG als bedürftig gilt.

Zu der Bedürftigkeit nach § 149 Abs. 1 AVAVG gehört aber nicht nur, daß der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen, für die ein Anspruch auf Familienzuschlag besteht, nicht auf andere Weise als durch Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe bestreitet oder bestreiten kann, sondern ebenso, daß das Einkommen, das nach § 150 AVAVG zu berücksichtigen ist, den Unterstützungssatz nach § 148 Abs. 5 AVAVG nicht überschreitet. Erreicht aber das anrechenbare Einkommen den Unterstützungssatz oder übersteigt es diesen, dann gilt der Arbeitslose nicht mehr als bedürftig im Sinne des § 149 Abs. 1 AVAVG. Damit entfällt eine der in § 145 Abs. 1 AVAVG vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgeschriebenen materiellen Anspruchsvoraussetzungen. Also liegt in einem derartigen Falle nicht mehr allein ein Streit über die Höhe der Alhi nach § 147 SGG vor, weil bereits eine der Grundvoraussetzungen des Anspruchs - die Bedürftigkeit als solche - streitig ist. Ein Streit über die Höhe der Unterstützung kann nur dann entstehen, wenn der Anspruch selbst unstreitig ist.

Wird der Anspruch auf Alhi wegen fehlender Bedürftigkeit abgelehnt, dann kennt das Gesetz keinen Unterschied hinsichtlich der Gründe, die zu diesem Ergebnis führten. Mag man auch zwischen einer allgemeinen und besonderen Bedürftigkeitsprüfung unterscheiden (Draeger/Buchwitz/Schönefelder, AVAVG § 149 Anm. 5; Krebs, Komm. z. AVAVG, 2. Aufl., 1964, § 149 Anm. 3; Schmidt, Die Arbeitslosenhilfe, 1956, § 141 e Anm. 1), so bleibt doch der Begriff der "Bedürftigkeit" nach § 145 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG eine untrennbare Einheit. Ob jemand im Sinne dieser Vorschrift als bedürftig gilt, läßt sich nur nach Abschluß der gesamten gesetzlich vorgeschriebenen Bedürftigkeitsprüfung beantworten. Sie schließt deshalb zunächst immer mit der Beantwortung der Frage ab, ob die Voraussetzung der Bedürftigkeit als solcher - dem Grunde nach - erfüllt ist oder nicht. Diese Rechtsauffassung hat der Senat bislang für die Arbeitslosenfürsorge sowie die Arbeitslosenhilfe ständig vertreten (vgl. BSG 8, 92, 95); er ist nicht veranlaßt, nun davon abzuweichen. Danach war hier entgegen der Ansicht des LSG die Berufung gegen das Urteil des SG Braunschweig zulässig. Aus diesem Grunde ist es auch unschädlich, daß das SG die Berufung in der Rechtsmittelbelehrung zugelassen hat, obwohl das keine wirksame Zulassung nach § 150 Nr. 1 SGG darstellt (BSG 2, 121 ff; 12, 221, 222).

Die Revision ist auch begründet.

Nach § 150 Abs. 3 AVAVG gelten als Einkommen, das im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist, "alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert nach Abzug der Steuern, der Beiträge zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung oder entsprechende Aufwendungen zur sozialen Sicherung in angemessenem Umfang und der Werbungskosten". In Abs. 4 dieser Vorschrift werden bestimmte Leistungen aufgeführt, die nicht als Einkommen gelten und deshalb von einer Anrechnung frei bleiben. Zu diesen Ausnahmen gehören nach § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG Leistungen zum Ausgleich eines Schadens, soweit sie nicht für entgangenes oder entgehendes Einkommen oder für den Verlust gesetzlicher Unterhaltsansprüche gewährt werden.

Das SG hat bei der Einkommens-Feststellung in entsprechender Anwendung des § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG angenommen, daß der dem Vater der Klägerin nach § 25 b LStDV gewährte Flüchtlings-Freibetrag von 720,- DM bei der Bedürftigkeitsprüfung unberücksichtigt bleiben müßte. Seiner Auffassung ist jedoch nicht zu folgen. Zwar wird dieser Steuer-Freibetrag deshalb gewährt, weil bei dem begünstigten Personenkreis die Vermutung besteht, daß er Wiederanschaffungsaufwendungen für Hausrat und Kleidung zu machen habe (Blümich/Falk, Komm. z. EStG, 1964, 9. Aufl., § 33 a (1953) S. 1979). Der Steuer-Freibetrag kann aber nicht als eine Leistung im Sinne des § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG angesehen werden. Er behält seinen Ursprung aus Arbeitslohn oder Einkommen trotz der Befreiung von der Steuerpflicht nach § 25 b LStDV. Der Arbeitslohn ist aber von Anfang an dazu bestimmt, den normalen Lebensbedarf zu decken. Die Ausnahmeregelung des § 150 Abs. 4 AVAVG gilt nur für solche Einkünfte des Arbeitslosen oder der mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden Verwandten, die nicht zur Deckung des normalen Lebensbedarfs bestimmt sind (Draeger/Buchwitz/Schönefelder, § 150 Anm. 12; Krebs, § 150 Anm. 47). Die ursprüngliche Art und Zweckbestimmung von Einkünften bleibt auch dann unverändert, wenn eine Ausnahmeregelung des Steuerrechts für ihren Bereich einen bestimmten Betrag von der Steuerpflicht ausnimmt.

Darüber hinaus kann schon vom Wortlaut des § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG her ein vom Gesetzgeber gewährter Steuer-Freibetrag nicht als eine "Leistung" im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden, da dem Begünstigten kein "Mehr" in Höhe des Freibetrages zufließt. Sein Vorteil liegt allein in der Möglichkeit, Einkommen- oder Lohnsteuer in einer Höhe einzusparen, die letztlich im Ergebnis aber niedriger bleibt als der Steuer-Freibetrag. Überdies erweist die Kennzeichnung der in § 150 Abs. 4 AVAVG aufgeführten und somit im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nicht als Einkommen geltenden Leistungen, daß es sich dabei um unmittelbar zufließende Leistungen handeln muß, die nicht zur Deckung des allgemeinen Lebensbedarfs dienen und die ihre besondere Zweckbestimmung oder das Leistungsziel von vornherein in sich tragen.

Gegen eine analoge Anwendung des § 150 Abs. 4 Nr. 6 AVAVG spricht ferner, daß diese Vorschrift als Ausnahmeregelung grundsätzlich eng auszulegen ist und daß die vom SG für eine "entsprechende Auslegung" herangezogene Steuervorschrift ebenfalls eine Ausnahmebestimmung darstellt.

Der Gesetzgeber hat in Abs. 4 des § 150 AVAVG alle Leistungen, Unterstützungen und Zuwendungen, die nicht als Einkommen gelten, abschließend geregelt. Der Steuer-Freibetrag nach § 25 b LStDV läßt sich unter keine der dort enthaltenen Gruppen einordnen. Daraus folgt, daß der für den Vater der Klägerin von der Steuerpflicht freigestellte Betrag seiner Arbeitsbezüge in Höhe von 720,- DM nicht vom Einkommen absetzbar ist und deswegen bei der Bedürftigkeitsprüfung berücksichtigt werden muß.

Danach überschreitet das nach § 150 AVAVG zu berücksichtigende Einkommen den Unterstützungssatz nach § 148 Abs. 5 AVAVG. Die Klägerin hat deshalb nach § 149 Abs. 1 i. V. m. § 145 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG nicht als bedürftig zu gelten und besitzt keinen Anspruch auf Alhi.

Auf die begründete Revision der Beklagten war daher das Urteil des LSG aufzuheben und auf ihre Berufung hin mußte das Urteil des SG dahin abgeändert werden, daß die Klage in vollem Umfang abgewiesen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI927554

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