Entscheidungsstichwort (Thema)
Freitod. Schädigungsfolge. rechtliches Gehör
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es bei der Entscheidung der Frage, ob ein Freitod als Folge eines anerkannten Versorgungsleidens angesehen werden kann, beigezogene Akten der Fürsorgestelle für Kriegsversehrte, aus denen sich ableiten läßt, daß für den Freitod keine wirtschaftlichen Gründe bestanden, den Beteiligten nicht rechtzeitig zur Einsichtnahme zur Verfügung stellt.
Normenkette
SGG § 62
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.06.1964) |
SG Detmold (Entscheidung vom 27.08.1959) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Juni 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des am 16. August 1923 geborenen und am 24. April 1955 durch Selbsttötung gestorbenen Beschädigten Rudolf K. Der Beschädigte bezog wegen Entstellung des Gesichts, hochgradiger Kieferklemme, mangelnden Lidschlusses links, chronischer Hornhautentzündung links, Reizzustandes des linken Auges, fester Narbe am linken Oberschenkel Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H.. Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 14. Juni 1955 den Antrag der Kläger vom 14. Mai 1955 auf Hinterbliebenenrente ab. Der Widerspruch der Kläger hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 2. Januar 1956). Das Sozialgericht (SG) verurteilte mit Urteil vom 27. August 1959 den Beklagten, den Klägern Hinterbliebenenrente vom 1. Mai 1955 an zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 25. Juni 1964 die Berufung des Beklagten zurück. Der Freitod des Beschädigten sei mit Wahrscheinlichkeit Folge der erlittenen Gesichtsentstellungen und ihrer seelischen Auswirkungen. Im Bereich der Augenlider habe ein ständiger Reizzustand bestanden. Durch die hochgradige Kieferklemme sei die Nahrungsaufnahme außerordentlich erschwert gewesen. Seit 1953 sei es dem Beschädigten nicht wieder gelungen, in abhängige Arbeit zu kommen. Daraus, daß er bis zu seinem Tode allen geschäftlichen Verbindlichkeiten nachgekommen sei, zog das LSG, gestützt auf ärztliche Gutachten, den Schluß, daß mit Wahrscheinlichkeit die unerträglichen Belastungen durch das Versorgungsleiden den Beschädigten zur Selbsttötung bestimmt hätten.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Beklagte als wesentlichen Verfahrensmangel des LSG Verletzung der §§ 62, 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Das LSG habe dadurch in der Beweiswürdigung gefehlt, daß es nur unvollständig auf den Inhalt der Schriftsätze des Beklagten eingegangen sei. Es hätte die Ausführungen im Schriftsatz vom 14. August 1961 sinngemäß als Gutachten des Obermedizinalrats Dr. D werten müssen. Dieser aber habe als Verfasser der Monographie "Der Suizid" den Zusammenhang der Selbsttötung mit dem Wehrdienst oder mit Schädigungsfolgen abgelehnt. Die Revision greift ferner die Feststellung des Berufungsgerichts an, daß sich der Beschädigte nicht in einer ausgesprochenen wirtschaftlichen Notlage befunden habe. Bei dieser Feststellung habe sich das LSG auf den Inhalt der Akten des Landschaftsverbandes und der Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene gestützt. Diese vom LSG herangezogenen Akten hätten ebenso wie die Zeugenaussagen die wirtschaftliche Notlage deutlich erkennen lassen. Die Zeugen, auf die sich das Berufungsgericht gestützt habe, hätten nur subjektive Aussagen gemacht. Nach den Buchunterlagen hätte der Verstorbene in den letzten Monaten des Jahres 1953 tatsächlich nur ein monatliches Einkommen von 55,- DM gehabt, im Jahre 1954 monatlich sogar nur 50,- DM. Daraus hätte das LSG nicht auf eine günstige Geschäftsentwicklung schließen dürfen, wenn auch der Beschädigte sein Einkommen am 24. Januar 1955 mit monatlich 270,- DM bezeichnet hätte. Es hätte aus diesen Tatsachen vielmehr den Schluß ziehen müssen, daß der Beschädigte in einer wirtschaftlichen Notlage gewesen sei. Das LSG hätte auch nicht die Auskunft des Finanzamts Paderborn vom 20. Dezember 1961, wonach der Beschädigte nicht zur Einkommensteuererklärung veranlagt worden sei, übergehen dürfen, sondern in die Beweiswürdigung einbeziehen müssen. Wäre das Berufungsgericht allen Anhaltspunkten nachgegangen, hätte es die angegriffene Feststellung, der Beschädigte habe nicht in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt, nicht getroffen. Den geringen Einnahmen des Klägers habe ferner eine Schuld von 4.800,- DM an den Bruder, von 6.800,- DM Wechselverbindlichkeiten sowie ein Darlehen von 2.500,- DM gegenübergestanden. Durch Beiziehung von Buchsachverständigen oder Wirtschaftsprüfern hätte das LSG die buchmäßigen Unterlagen für die Einkommens- und Vermögenslage des Beschädigten klären und auch selbst in die Wirtschaftsbücher Einsicht nehmen müssen, bevor es darüber eine Feststellung getroffen hätte. Es hätte auch der Ursache der Mietschulden seit August 1954 nachgehen müssen. Ferner hätte es den Zeugen P seiner Aussage vom 17. Mai 1963 vernehmen müssen, weil dadurch Bedenken gegen seine Aussage über eine wirtschaftlich geordnete Geschäftslage hätten aufgeklärt werden können. In medizinischer Hinsicht hätte sich das Vordergericht mit den - dem Beschädigten nicht bekannten - Leiden (Aortafehlbildung und Schilddrüsen-Carzinom) auseinandersetzen müssen, weil diese Leiden sicher den Vitaltonus des Beschädigten herabgesetzt hätten. Darüber hinaus bemängelt die Revision zahlreiche weitere tatsächliche Feststellung des LSG.
Schließlich rügt der Beklagte Versagung des rechtlichen Gehörs. Diesen wesentlichen Verfahrensmangel sieht er darin, daß die vom Berufungsgericht beigezogenen und ausgewerteten Akten des Landschaftsverbandes Westfalen und der Fürsorgestelle Paderborn sowie das Krankenblatt des St. A-Krankenhauses N (1954) dem Landesversorgungsamt bei der letzten mündlichen Verhandlung (25. Juni 1954) nicht bekanntgegeben worden seien. Es sei auch nicht in der Sitzungsniederschrift festgestellt, daß diese Unterlagen mit dem Sachbericht des Berichterstatters vorgetragen worden seien. Das Landesversorgungsamt sei ausweislich der Prozeßakten auch nicht vorher von der Beiziehung dieser Unterlagen unterrichtet worden. Das LSG hätte aber dem Beklagten Gelegenheit geben müssen, diese Aktenunterlagen einzusehen, weil es sich für seine Überzeugungsbildung darauf gestützt habe. Während des Verhandlungstermins hätte der Terminsvertreter diese Akten keinesfalls auswerten können. Dem Landesversorgungsamt sei auf diese Weise die Einsichtnahme und Auswertung der bezeichneten Unterlagen verwehrt worden, wodurch das rechtliche Gehör und die Rechtsverteidigung des Beklagten beeinträchtigt worden seien.
Zusammenfassend betont der Beklagte nochmals, daß das Berufungsgericht bei Vermeidung der gerügten Verfahrensmängel die Gesichtsentstellung nicht als die alleinige Ursache für die Selbsttötung angesehen hätte.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25. Juni 1964 und des SG Detmold vom 27. August 1959 abzuändern und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des LSG vom 25. Juni 1964 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Das LSG habe seiner Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt. Es habe auch seine Sachaufklärungspflicht nicht verletzt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftlich einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Von den Verfahrensrügen greift jedenfalls die Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) durch. Diese Rüge macht die Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Nach § 62 SGG, gleichlautend mit Art. 103 des Grundgesetzes (GG), hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör ist ein dem Rechtsstaatsprinzip entspringendes Grundgebot, welches nicht nur dem Staatsbürger als Grundrecht zugute kommt, sondern jedem Beteiligten am gerichtlichen Verfahren, somit auch juristischen Personen und damit auch staatlichen Rechtsträgern (BVerfGE 12, 8; 13, 139; Leibholz/Rinck GG 1966 Art. 103 Rz. 4).
Die Vorschrift des § 62 SGG gibt dem Prozeßbeteiligten ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Daher dürfen einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen der Beklagte auch Stellung nehmen kann (BVerfGE 18, 150, 404 und die dort weiter zitierte Rechtsprechung dieses Gerichts; BVerfGE vom 5. Oktober 1965 - 2 BvR 285/65 - in Hueck/Nipperdey/Dietz, AP Art. 103 GG Nr. 20 und vom 16. November 1965 - 2 BvR 337/65 - in Hueck/Nipperdey/Dietz, AP Art. 103 GG Nr. 21). Aus den von ihm beigezogenen Akten der Fürsorgestelle für Kriegsversehrte und Kriegshinterbliebene sowie der Akten des Landschaftsverbandes Westfalen hat das LSG die Feststellung entnommen, daß der Beschädigte ein monatliches Einkommen von 600,- bis 700,- DM gehabt hat. Diese Feststellung war für die Entscheidung wesentlich, weil sie zur Widerlegung der Behauptung des Beklagten diente, daß der Beschädigte nicht auf Grund der körperlichen und psychischen Beschwerden seines Versorgungsleidens, sondern aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Leben geschieden sei. Das LSG hat auch nicht in der Niederschrift zur Verhandlung vom 25. Juni 1964 erkennbar gemacht, daß der wesentliche Inhalt der vor der Schlußverhandlung beigezogenen Akten dem Beklagten im Vortrag des Berichterstatters zur Kenntnis gebracht worden ist. Außerdem erfordert das rechtliche Gehör, daß die Beweismittel den Beteiligten so rechtzeitig mitgeteilt werden (§ 62 SGG), daß sie sich hierzu äußern können. Es ist zweifelhaft, ob sich der Beklagte durch Akteneinsicht im Verhandlungstermin von dem Akteninhalt auch so hätte unterrichten können, daß er darauf seine Schlußanträge hätte stützen können. Möglicherweise hätte er sogar einen Buchsachverständigen beiziehen müssen, um die günstige oder ungünstige Wirtschaftslage zu erkennen. Das gleiche gilt von der Beiziehung der Krankengeschichte über den Motorradunfall, dessen Folge als Schädelbasisbruch und commotio cerebri diagnostiziert worden ist. Denn das Berufungsgericht hat die Krankengeschichte des St. Andreas-Krankenhauses Neuhaus/Westfalen vom 15. September 1954 bis 16. Oktober 1954 zwar beigezogen und in den Urteilsgründen verwertet, aber dem Beklagten nicht zur Kenntnis gebracht. Dieser hätte möglicherweise aus diesen Unterlagen Einwendungen in medizinischer Hinsicht gegen den geltend gemachten Anspruch der Hinterbliebenen herleiten wollen und können. Durch die Unterlassung der Mitteilungspflicht hat das LSG den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt, so daß das Gerichtsverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (BSG 11, 165; 17, 44). Damit hat das LSG zugleich das Recht der Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 2 SGG) überschritten, weil das Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Wegen dieser wesentlichen Verfahrensmängel war das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne daß der Senat noch zu prüfen brauchte, ob das LSG etwa auch in anderer Richtung gegen das Recht der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) und gegen seine Pflicht zur vollständigen Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG) verstoßen hat. Der Senat brauchte bei dieser Rechtslage auch darüber nicht mehr zu entscheiden, ob das Versorgungsleiden allein schon eine so überragende Bedeutung für die Gemüts-Depression des Beschädigten gehabt hat, daß die übrigen nachfolgenden Faktoren (wirtschaftliche Not, Folgen des angeblichen Schädelbasisbruchs usw.) demgegenüber zurückgetreten sind.
Mangels tatsächlicher Feststellungen, welche verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen wären, konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Der Rechtsstreit war vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
In seiner neuen Entscheidung wird das LSG auch zu prüfen haben, in welcher Höhe der Beschädigte neben seinem Arbeitsverdienst Aufwandsentschädigung bei seinen Geschäftsreisen bezogen hat und ob er von der erlangten Aufwandsentschädigung zugunsten des Familienunterhalts Ersparnisse machen konnte oder tatsächlich gemacht hat.
Möglicherweise läßt sich bei einem Auseinanderhalten von Einkommen und Aufwandsentschädigung der Unterschied in der Höhe der berechneten Einkünfte des Beschädigten erklären, von denen die Beteiligten ausgehen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen