Leitsatz (amtlich)

Art 2 § 9 KVdRG, wonach bei Versicherten, die Rente oder Ruhegeld nach dem FAG SV beziehen, für die Berechnung der Frist des RVO § 165 Abs 1 Nr 3 aF der 1944-07-01 an die Stelle des Zeitpunkts der Stellung des Rentenantrags trat, galt nur für Versicherte, die bereits bei Inkrafttreten des KVdRG (1956-08-01) eine nach dem FAG SV berechnete Rente bezogen (Ergänzung zu BSG 1967-11-24 3 RK 29/65 = SozR Nr 1 zu KVdR Art 2 § 9).

 

Normenkette

KVdRG Art. 2 § 9 Fassung: 1956-06-12; RVO § 165 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1956-06-12; SVFAG

 

Tenor

Auf die Revision der beklagten Krankenkasse werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. September 1965 und des Sozialgerichts München vom 19. Dezember 1962 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ab wann die Klägerin Mitglied der beklagten Krankenkasse geworden ist.

Die 1909 geborene, aus dem Sudetenland stammende Klägerin hatte dort bis zu ihrer Vertreibung Anfang 1946 versicherungspflichtig gearbeitet. In den Jahren 1946 bis 1949 war sie mit Unterbrechungen Pflichtmitglied der beklagten Krankenkasse gewesen. Auf Ihren Rentenantrag vom 30. August 1957 gewährte ihr die zuständige Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Berufsunfähigkeit von Juni bis Ende November 1958 (Bescheid vom 1. April 1959). Nachdem die Klägerin diesen Bescheid zunächst mit der Klage angefochten hatte, schloß sie im September 1961 mit der LVA einen Vergleich; danach gewährte ihr diese rückwirkend ab Oktober 1960 Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab März 1961 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 5. Februar 1962). Von der Rentennachzahlung, die knapp 2000 DM betrug, erhielt der Sozialhilfeträger den größeren Teil, und zwar fast 200 DM für gewährte Krankenhauspflege.

Mit dem Rentenantrag vom 30. August 1957 hatte die Klägerin sich zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) gemeldet und in dem Meldungsvordruck angegeben, sie sei seit 1949 nicht mehr krankenversichert gewesen. Die beklagte Krankenkasse hatte der Klägerin daraufhin mitgeteilt, daß "ihrem Antrag auf gesetzliche Pflichtversicherung als Rentnerin" nicht stattgegeben werden könne, weil für die letzten fünf Jahre vor Stellung des Rentenantrags keine Versicherungszeit von mindestens 52 Wochen nachgewiesen sei (Bescheid vom 7. September 1957).

Im Juli 1961 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Aufnahme in die KVdR und wies dabei auf ihre frühere Pflichtversicherung im Sudetenland hin. Die Beklagte entsprach dem Antrag für die Zeit ab 10. Juli 1961; für die Vergangenheit sei über die Versicherungspflicht nicht mehr zu entscheiden, weil der Bescheid vom 7. September 1957 bindend geworden sei (Bescheid vom 18. Juli 1961). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. August 1961).

Das Sozialgericht (SG) hat entsprechend dem Antrag der Klägerin festgestellt, daß sie seit dem 30. August 1957 Pflichtmitglied in der KVdR sei; auf den rechtswidrigen Bescheid vom 7. September 1957 könne sich die Beklagte nicht berufen (Urteil vom 19. Dezember 1962).

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihren Bescheid vom 7. September 1957 zurückzunehmen: Die von der Klägerin beantragte Feststellung setze eine Rücknahme des bindend gewordenen Bescheids vom 7. September 1957 voraus; nehme die Beklagte den Bescheid zurück, so sei die Klägerin ab 30. August 1957 Mitglied der Beklagten. Das Klagebegehren sei deshalb dahin zu verstehen, daß die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Rücknahme des genannten Bescheides verlange. Dieser Antrag sei auch begründet. Der genannte Bescheid sei rechtswidrig gewesen; denn nach §§ 315 a, 165 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit Art. 2 § 9 des Gesetzes über KVdR (Stichtag für die Berechnung der Vorversicherungszeit bei Fremdrentnern 1. Juli 1944) sei die Klägerin mit dem Tage des Rentenantrags Pflichtmitglied in der KVdR geworden. In entsprechender Anwendung der für die Unfall- und Rentenversicherung erlassenen Vorschriften über die Neufeststellung von zu Unrecht abgelehnten Leistungen sei die Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin den Beginn der KVdR neu festzusetzen und den Bescheid vom 7. September 1957 zurückzunehmen. Im übrigen sei dieser Bescheid von vornherein zweifelsfrei unrichtig gewesen, eine Berufung der Beklagten auf die eingetretene Bindungswirkung sei deshalb in jedem Falle ermessenswidrig. Das Verlangen der Klägerin auf Rücknahme des Bescheids scheitere auch nicht daran, daß sie von der Sozialhilfe Leistungen erhalten habe; die Kosten dafür müsse sie nämlich u. U. erstatten (Urteil vom 29. September 1965). Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie macht insbesondere geltend: Der Bescheid vom 7. September 1957 sei bindend geworden; die Beklagte habe ihn deshalb bei der Aufnahme der Klägerin in die KVdR im Juli 1961 nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufheben können. Im übrigen sei der Bescheid rechtmäßig gewesen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 29. September 1965 und des SG München vom 19. Dezember 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat sich weder im Berufungs- noch im Revisionsverfahren geäußert.

II

Die Revision der beklagten Krankenkasse ist begründet. Die Beklagte braucht ihren Bescheid vom 7. September 1957 schon deswegen nicht zurückzunehmen, weil dieser Bescheid - entgegen der Ansicht des LSG - rechtmäßig ist.

Ob das LSG ohne Mitwirkung der Klägerin ihre Feststellungsklage in eine Klage auf Rücknahme des Bescheids der Beklagten vom 7. September 1957 umdeuten durfte, kann der Senat offenlassen (vgl. SozR Nr. 69 zu § 54 SGG; Nr. 11 zu § 123 SGG). Der von der Klägerin erhobene Anspruch (§ 123 SGG) ist in jedem Falle - ob man ihn als Feststellungs- oder als Rücknahmebegehren ansieht - unbegründet; denn die Beklagte hat in dem Bescheid vom 7. September 1957 mit Recht festgestellt, daß die Klägerin seinerzeit nicht der gesetzlichen Pflichtversicherung als Rentnerin unterlag.

Nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO in der Fassung, die bis Ende 1967 galt, waren Rentenbewerber, die die Voraussetzungen für den Bezug einer Rente erfüllten, kraft Gesetzes gegen Krankheit versichert, sofern sie während der letzten fünf Jahre vor Stellung des Rentenantrags mindestens 52 Wochen bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert gewesen waren. Dasselbe galt nach § 315 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF für Rentenbewerber, die nicht die Voraussetzungen für einen Rentenbezug erfüllten. Die mithin nach beiden Vorschriften erforderliche Vorversicherungszeit von 52 Wochen, die innerhalb einer vom Tage des Rentenantrags zurückzurechnenden fünfjährigen Rahmenfrist zurückgelegt sein mußte, hat die Klägerin, die vor ihrem Rentenantrag vom 30. August 1957 zuletzt im Jahre 1949 krankenversichert gewesen war, nicht erfüllt.

Die genannte Rahmenfrist konnte bei ihr auch nicht auf Grund einer Sondervorschrift für Fremdrentner (Art. 2 § 9 des Gesetzes über KVdR vom 12. Juni 1956, BGBl I 500) auf die Zeit vor der Vertreibung aus dem Sudetenland verlegt werden. Nach dieser Vorschrift trat "bei Versicherten, die Rente oder Ruhegeld nach dem Gesetz über Fremdrenten ... vom 7. August 1953 beziehen", für die Berechnung der Rahmenfrist der 1. Juli 1944 an die Stelle des Zeitpunktes der Stellung des Rentenantrags. Daß diese Vorschrift - entsprechend ihrem Wortlaut - nur für Bezieher von Renten nach dem Fremdrentengesetz vom 7. August 1953, nicht aber auch für Rentner galt, die eine Rente nach dem später durch das Neuregelungsgesetz vom 25. Februar 1960 neugefaßten Fremdrentengesetz bezogen, hat der Senat schon früher entschieden (SozR Nr. 1 zu Art. 2 § 9 KVdR). Er hat dabei ausgeführt, daß die in Art. 2 § 9 des Gesetzes über KVdR getroffene Übergangsregelung der besonderen Notlage zahlreicher Vertriebener während der ersten Jahre nach dem Kriege Rechnung getragen habe. In den ersten Nachkriegsjahren hätten viele Vertriebene zunächst keine Beschäftigung finden und deshalb die später für die KVdR geforderte Vorversicherungszeit nicht zurücklegen können. In dem Maße jedoch, wie der zeitliche Abstand von der Vertreibung gewachsen sei und die Eingliederung der Vertriebenen in das Wirtschaftsleben in der Bundesrepublik Fortschritte gemacht habe, sei der innere Grund entfallen, den vertriebenen Rentnern eine Sonderstellung gegenüber den anderen Rentenbeziehern einzuräumen. Ob deswegen die genannte Übergangsvorschrift nur auf solche Fremdrentner anzuwenden gewesen sei, die schon bei Inkrafttreten des Gesetzes über KVdR (1. August 1956) eine Rente bezogen hätten, hat der Senat in seinem früheren Urteil nicht zu entscheiden brauchen, weil die damalige Klägerin erst im Jahre 1962, also lange Zeit nach dem Inkrafttreten des neuen Fremdrentengesetzes (1. Januar 1959), Rentnerin geworden war. Der Senat hat im übrigen seinerzeit nicht verkannt, daß die Verwaltungspraxis mit Rücksicht auf einen Erlaß des Bundesarbeitsministers vom 7. August 1957 (DOK 1957, 428) bei der Anwendung der genannten Vorschrift anscheinend andere Wege gegangen war (vgl. auch Bayerisches LSG in Breithaupt 1960, S. 2 mit weiteren Nachweisen; Heyn, Die Rentnerkrankenversicherung, S. 48 f).

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin schon vor dem Inkrafttreten des neuen Fremdrentengesetzes vorübergehend eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen, die möglicherweise nach dem alten Fremdrentengesetz berechnet worden ist. Der Senat hat deshalb geprüft, ob die fragliche Übergangsregelung auch auf Fälle dieser Art anzuwenden war, und hat dazu erwogen: Nach dem Wortlaut der genannten Vorschrift galt der Stichtag des 1. Juli 1944 nur für Versicherte, die eine Rente nach dem alten Fremdrentengesetz "beziehen". Ob dies der Fall war, ließ sich mit genügender Sicherheit erst aus der Bewilligung einer entsprechenden Rente, nämlich aus dem Rentenbescheid, entnehmen. Solche Bescheide hatten nun bei Inkrafttreten des Gesetzes über KVdR alle Versicherten in der Hand, denen damals bereits eine Fremdrente bewilligt war. Auf sie konnte mithin die Übergangsvorschrift ohne Schwierigkeiten angewendet werden. Bei allen anderen jedoch, die seinerzeit erst eine Rente beantragt hatten oder die den Rentenantrag sogar erst nach dem 1. August 1956 stellten, war, auch wenn die Vertriebeneneigenschaft feststand, zunächst unsicher, ob sie in den Genuß einer nach dem Fremdrentengesetz berechneten Rente kommen würden. Für sie mußte deshalb, wenn die Zurücklegung der Vorversicherungszeit von der Anwendung der besonderen Stichtagsregelung (1. Juli 1944) abhing, die Mitgliedschaft in der KVdR bis zur Bewilligung der Rente in der Schwebe bleiben. Daß der Gesetzgeber einen solchen Schwebezustand mit allen damit verbundenen Unzuträglichkeiten gewollt oder auch nur in Kauf genommen haben könnte, ist nicht anzunehmen. Art. 2 § 9 des Gesetzes über KVdR galt deshalb - als Übergangsregelung für die ersten Nachkriegsjahre - nur bei Versicherten, die bereits bei Inkrafttreten des Gesetzes über KVdR eine Fremdrente bezogen (ebenso das seinerzeit herausgegebene amtliche Merkblatt unter 1 c, abgedruckt bei Jantz, Kommentar zur KVdR, Anhang S. A 9; Wieglow, DOK 1957, 88).

Da die Klägerin bei Inkrafttreten des Gesetzes über KVdR noch keine Rente bezog, galt für sie die fragliche Übergangsregelung nicht. Ohne ihre Anwendung ist die Klägerin aber, wie ausgeführt, mit der Stellung des Rentenantrags am 30. August 1957 nicht Mitglied der KVdR geworden. Der entsprechende Bescheid der Beklagten vom 7. September 1957 ist somit rechtmäßig ergangen. Schon aus diesem Grunde hat die Klägerin keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides, und zwar weder für den Zeitpunkt seines Erlasses noch für die spätere Zeit, soweit darüber Streit besteht (bis zum 9. Juli 1961). Ob ihr ein solcher Anspruch auch dann nicht zustände, wenn der fragliche Bescheid rechtswidrig gewesen wäre - weil nämlich, wie die Beklagte meint, eine allgemeine Pflicht der Verwaltung zur rückwirkenden Aufhebung rechtswidriger belastender Verwaltungsakte jedenfalls in der Krankenversicherung nicht bestehe -, hat der Senat unentschieden gelassen. Da die Klage schon aus dem genannten Grunde keinen Erfolg haben kann, hat der Senat sie unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324358

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