Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweisverfahren. richterliche Überzeugung. Sachaufklärung. Anhörung eines bestimmten Arztes. wesentliche Bedingung

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht entscheidet nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis der Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In diesem Rahmen bestimmt es auch nach freiem Ermessen, welche Ermittlungen es zu der von Amts wegen vorzunehmenden Sachaufklärung anstellt.

2. Es ist nicht ausgeschlossen, einen Antrag nach § 109 SGG in einem Rechtszug mehrmals zu stellen, doch muß der Anlaß dazu in der Sachlage gegeben sein, sei es daß die geltend gemachten Leiden auf verschiedenen Fachgebieten liegen oder daß neue rechtserhebliche Tatsachen ermittelt worden sind, die in dem bereits nach § 109 SGG eingeholten Gutachten nicht berücksichtigt sind.

3. Nach der auf dem Gebiet der KOV geltenden Kausalitätsnorm sind nicht alle Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die nicht hinweg gedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, auch ursächlich im Sinne der KOV; maßgeblich im Sinne der KOV sind vielmehr nur diejenigen, Bedingungen, die im Verhältnis zu anderen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nrn. 2-3, §§ 103, 106, 109; BVG § 1 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 09.12.1954)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. Dezember 1954 wird verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1879 geborene Kläger bezog Rente aufgrund des Altrentnergesetzes nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 40 v.H. wegen Schrumpfung beider Lungenspitzen infolge alter Lungentuberkulose, anerkannt als Friedensdienstbeschädigung. 1950 beantragte er Versorgung wegen Lungentuberkulose, Herzleiden, Bruchleiden und Schlagaderverhärtung.

Das Versorgungsamt Berlin erkannte nach versorgungsärztlicher Untersuchung mit Bescheid vom 24. Oktober 1952 Schrumpfung der beiden Lungenspitzen infolge einer alten inaktiven Lungenspitzentuberkulose als Schädigungsfolge mit einer MdE. um 40 v.H. an und gewährte entsprechende Rente. Die übrigen Leiden sah es als anlage- und altersbedingt an und lehnte Versorgung dafür ab.

Der Ausschuß beim Landesversorgungsamt gab dem Einspruch des Klägers nicht statt. Das Versorgungsgericht Berlin wies mit Urteil vom 18. September 1953 die Klage ab.

Während des Berufungsverfahrens beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, den praktischen Arzt Dr. H... als Gutachter über das Herzleiden als Folge der Lungentuberkulose zu hören. Der vom Landessozialgericht (LSG.) nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeforderte Kostenvorschuß wurde vom Kläger einbezahlt. Dr. H... erstattete am 20. August 1954 ein schriftliches Gutachten. Mit Schriftsatz vom 23. September 1954 wies der Kläger auf Mißverständnisse hin, die nach seiner Ansicht in dem Gutachten enthalten seien, und bat, nachdem auch der Beklagte sich zu dem Gutachten geäußert hatte, Dr. H... zur Erstattung eines Ergänzungsgutachtens zu veranlassen, um ihm. Gelegenheit zu geben, sich mit den Ausführungen der Beteiligten auseinander zu setzen. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. beantragte der Kläger nach dem Klageantrag zu erkennen, hilfsweise ein weiteres Gutachten von Dr. H... einzuholen.

Mit Urteil vom 9. Dezember 1954 wurde die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das LSG. hat ausgeführt, der Kläger könne einen Versorgungsanspruch wegen Herzleiden und Leistenbruch nur nach § 57 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) geltend machen, wenn diese Leiden mit der bereits anerkannten Lungenspitzentuberkulose in ursächlichem Zusammenhang stünden. Der Leistenbruch sei nicht Folge eines alten Lungenleidens. Der Kläger habe nie beantragt, die Herzkrankheit, die seit 1912 bestehen soll, als Versorgungsleiden anzuerkennen. Der jetzt vorhandene Herzmuskelschaden sei alters- und anlagebedingt. Zu einer nochmaligen Anhörung des Dr. med. H... liege kein Anlaß vor, zumal sein bisheriges Gutachten durchaus klar und erschöpfend sei. Revision wurde nicht zugelassen.

Der Kläger hat nach Bewilligung des Armenrechts für das Revisionsverfahren am 2. August 1955 Revision eingelegt und um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Revisionsfrist gebeten. Er hat beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, auch das Herzleiden und den Leistenbruch als Versorgungsleiden anzuerkennen, seine Erwerbsminderung mit 100 % zu bewerten und ihm entsprechende Versorgungsbezüge ab 1. Juli 1950 zu gewähren, vorsorglich, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Die Revision rügt wesentliche Verfahrensmängel und fehlerhafte Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinne des BVG. Dr. H... hätte, wie beantragt, zur Erstattung eines Ergänzungsgutachtens angehalten werden müssen. Wenn das LSG. dem Gutachten dieses Arztes nicht folgen wollte, hätte es in Ausübung des Fragerechts die Stellung eines Antrags nach § 103 SGG anregen müssen. Der behandelnde Arzt Dr. E... hätte im Wege der Amtsaufklärung gefragt werden müssen.

Der Beklagte hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils unvollständig ist - es fehlt der Hinweis, daß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten muß (BSG. 1 S. 227) - konnte die Revision gemäß § 66 Abs. 2 SGG innerhalb eines Jahres seit Zustellung des Urteils eingelegt werden. Dies ist geschehen. Es bedurfte daher keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Da die Revision nicht zugelassen ist, findet sie gemäß § 162 Abs. 1 SGG nur statt, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG. gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs von Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinn des BVG das Gesetz verletzt ist (BSG. 1 S. 254 und 268).

Der Kläger stützt die Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG. Er rügt mangelnde Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG), da das LSG. es unterlassen habe ein Ergänzungsgutachten des Dr. H... über den Zusammenhang des Herzleidens mit der Lungen-Tbc und ein Gutachten des behandelnden Arztes Dr. F... beizuziehen. Ferner wendet sich die Revision gegen die Ausführungen über den ursächlichen Zusammenhang.

Ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG. liegt nicht vor. Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In diesem Rahmen bestimmt es auch nach freiem Ermessen, welche Ermittlungen es zu der von Amts wegen vorzunehmenden Sachaufklärung anstellt. Das Revisionsgericht kann nur nachprüfen, ob das LSG. die gesetzlichen Grenzen seiner Ermessensfreiheit verkannt oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat, indem es etwa seine Überzeugungsbildung auf widerspruchsvolle, unvollständige, nicht schlüssige oder aus einem anderen Grunde ungenügende Sachverständigengutachten oder auf sonstige nicht erschöpfende Ermittlungen tatsächlicher Art gestützt hat (vgl. BSG. 2 S. 236). Solche Mängel sind nicht erkennbar.

Das LSG. hat seine Überzeugung, das heutige Herzleiden sei durch die anerkannte Lungen-Tbc nicht beeinflußt, sondern alters- und anlagebedingt, auf das versorgungsärztliche Gutachten vom 21. Juli 1952 gegründet, das in der Vorgeschichte auch die Angaben des Klägers enthält, er habe bereits damals, als die Tbc festgestellt wurde, ein Herzleiden gehabt. In dieser Feststellung sah sich die Vorinstanz dadurch bestärkt, daß der Kläger nach dem Inhalt der alten Karteikarte seit 1931 Versorgung nur wegen der Lungen-Tbc erhalten und nie eine Anerkennung des Herzleidens beantragt hat. Das LSG. hat nicht übersehen, daß das Gutachten des Dr. H... davon ausgeht, das Herzleiden sei erst seit 1944 vorhanden und daß es einen Zusammenhang wegen des langen Zeitabstandes verneint. Das LSG. hat eine nochmalige Anhörung des Dr. H... nicht für erforderlich gehalten, weil es gerichtsbekannt sei, daß im Alter Störungen der Herztätigkeit durch Schlagaderverhärtung einzutreten pflegen und es im Einklang mit der medizinischen Wissenschaft stehe, diese Leiden als Alterserscheinungen anzusehen. Das Urteil bringt damit zum Ausdruck daß es auch dann das Herzleiden auf Grund des versorgungsärztlichen Gutachtens und der alten Versorgungsunterlagen als Versorgungsleiden abgelehnt hätte, wenn Dr. H... von der Behauptung des Klägers über eine Herzbehandlung seit 1912 ausgegangen wäre und deshalb einen Zusammenhang bejaht hätte. Darin kann keine vorweggenommene unzulässige Beweiswürdigung, wie die Revision meint, gesehen werden. Das LSG. folgt Dr. H... mit Recht insoweit nicht, als er Ausführungen über einen "subjektiven und objektiven" Kausalzusammenhang gemacht hat, da diese Darlegungen nicht medizinischwissenschaftlicher Natur sind. Der Begriff des Kausalzusammenhangs gehört den allgemeinen Geisteswissenschaften an. Der Tatsachenrichter hat daher stets zu prüfen, ob Ausführungen in einem ärztlichen Gutachten, soweit sie sich mit der Feststellung eines Kausalzusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG befassen, auch dem allgemein-wissenschaftlichen Begriff des Kausalzusammenhangs entsprechen.

Das LSG. hat die Ausführungen des Dr. H... über einen subjektiven Kausalzusammenhang und seine Schlußfolgerung, ein Zweifel spreche für den Beschädigten, so daß in solchen Fällen ein Zusammenhang auch objektiv anzunehmen sei, mit Recht als mit dem wissenschaftlichen Begriff des Kausalzusammenhangs nicht vereinbar abgelehnt. In der Unterlassung einer weiteren Anhörung des Dr. H... kann daher weder eine Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung noch ein Verfahrensmangel der ungenügenden Sachaufklärung gesehen werden.

Es stand auch im freien, nicht verletzten Ermessen der Vorinstanz, ob sie zu den Gutachten der Versicherungsanstalt Berlin, des versorgungsärztlichen Dienstes, des Gerichtsarztes Dr. W... und des Dr. H... noch ein Zeugnis des behandelnden Arztes beizuziehen für erforderlich hielt. Die Rüge, das LSG. habe ein solches Zeugnis verlangen müssen, ist nicht substantiiert und kann daher einen wesentlichen Verfahrensverstoß gegen § 103 SGG gleichfalls nicht begründen.

Der Senat hat auch geprüft, ob durch die Unterlassung einer weiteren Anhörung des Dr. H... § 109 SGG verletzt ist. Nach dieser Vorschrift muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob in den schriftsätzlichen Ausführungen des Klägers zusammen mit dem in der Schlußverhandlung gestellten Antrag auf nochmalige Anhörung des Dr. H... ein erneuter Antrag nach § 109 SGG zu sehen ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, liegt ein Verstoß gegen § 109 SGG nicht vor. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, einen Antrag nach § 109 SGG in einem Rechtszug mehrmals zu stellen (vgl. BSG. vom 31.7.1957, SozR. SGG § 109 Da 3 Nr. 6), doch muß der Anlaß dazu in der Sachlage gegeben sein, sei es daß die geltend gemachten Leiden auf verschiedenen Fachgebieten liegen oder daß neue rechtserhebliche Tatsachen ermittelt worden sind, die in dem bereits nach § 109 SGG erholten Gutachten nicht berücksichtigt sind. Der Kläger hat den Antrag auf nochmalige Anhörung des Dr. H... damit begründet, dieser Arzt habe angenommen, sein Herzleiden sei erst 1944 aufgetreten, während es seit Jahrzehnten bestanden habe. Das LSG. hat zu der Angabe des Klägers über den Zeitpunkt des ersten Auftretens der Herzbeschwerden keine näheren Feststellungen treffen können, insbesondere nicht festgestellt, daß ein Herzleiden entgegen der Annahme im Gutachten des Dr. H... bereits seit 1912 bestanden hat. Gegenüber dem Gutachten des Dr. H... lagen demnach abweichende tatsächliche Feststellungen nicht vor. Das LSG. konnte daher den Antrag auf nochmalige Anhörung des Dr. H... auch als Antrag aus § 109 SGG ohne Rechtsverstoß anlehnen.

Soweit die Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG gestützt wird, zeigen die Rügen keine Gesetzesverletzung im Sinn dieser Vorschrift auf. Das Gesetz im Sinn dieser Vorschrift ist u.a. verletzt, wenn das Gericht die auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV.) geltende Kausalitätsnorm verkannt hat (BSG. 1 S. 268). Nach dieser sind nicht alle Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn, die nicht hinweg gedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, auch ursächlich im Sinn der KOV.; maßgeblich im Sinne der KOV. sind vielmehr nur diejenigen Bedingungen, die im Verhältnis zu anderen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Es ist weder erkennbar noch von der Revision dargetan, inwiefern das Urteil diesen Begriff der Kausalitätsnorm verkannt oder falsch angewandt hätte. Wenn der Kläger in diesem Zusammenhang auf die Vorschrift des § 1 Abs. 3 BVG verweist, wonach der Wahrscheinlichkeitsbeweis genügt, so greift er damit die Beweiswürdigung (§ 128 SGG) an; denn diese Bestimmung wendet sich an die Überzeugungsbildung des Richters und beantwortet die Frage, welcher Grad von subjektiver Sicherheit zu fordern ist, um darauf ein richterliches Urteil zu gründen (vgl. RGZ. 95 S. 249, Leipziger Zeitschrift 1933, Sp. 273). Auch eine Gesetzesverletzung dieser Art liegt nicht vor. Wenn das LSG. das Alter des Klägers für die wesentliche Bedingung seines heutigen Herzleidens angesehen hat, so ist hierbei eine Verkennung der Kausalitätsnorm der KOV. nicht ersichtlich.

Die Revision ist somit weder nach Nr. 2 noch nach Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG statthaft. Sie war daher gemäß § 169 SGG zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2336615

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